I. Zur Problemstellung
Die soziologische und die öffentliche Debatte über sozialen Zusammenhalt, Gemeinschaftsbindungen und Solidarität in Deutschland hat in den letzten Jahren eine erstaunliche Wendung erfahren. Noch Mitte der neunziger Jahre wurde im Zusammenhang mit der Individualisierungsthese der Niedergang gemeinschaftlicher Beziehungsformen konstatiert und damit eine Diskussion über den Fortbestand von Solidarität und Gemeinsinn entfacht
Im Internationalen Jahr der Freiwilligen 2001 wird in der politischen Öffentlichkeit der unverzichtbare Beitrag der Freiwilligenarbeit für die gesellschaftliche Wohlfahrt beschworen. Von bis zu 22 Millionen Bundesbürgern über 16 Jahre, also von jedem dritten Erwachsenen, ist die Rede, die bei Sportvereinen und Feuerwehren, Kirchen und Gewerkschaften freiwillig mitmachen. Wissenschaftlich kommen neue Formen des Engagements und neue Konfigurationen der Gemeinschaft als funktionale Äquivalente für überkommene Bindungs- und Beteiligungsmuster in den Blick. Ein Strukturwandel des zivilen Engagements scheint sich zu vollziehen. Nicht Rückgang, sondern Verlagerung sozialer und politischer Beteiligung in Vereinigungen, Verbänden und Organisationen steht gegenwärtig zur Debatte; bisweilen wird eine Ausweitung des freiwilligen Engagements verkündet
An diesem Punkt scheint die Debatte über gesellschaftliche Beteiligung und sozialen Zusammenhalt ein vorläufiges Ende gefunden zu haben. Beide Argumentationslinien ignorieren jedoch, dass es sich sowohl beim Niedergang als auch beim Wandel von Engagement und Partizipation um sozialstrukturell ungleich verteilte Entwicklungen handelt. Es erhebt sich sogar die Frage, ob dieser Strukturwandel nicht den Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen von Feldern sozialer und politischer Beteiligung zur Folge hat.
Der hier unternommene Versuch einer differenzierten Interpretation des Strukturwandels von Engagement und Partizipation erfolgt in drei Schritten: Nachdem wir auf die Relevanz von Mitgliedschaften in freiwilligen Assoziationen für Individuum und Gesellschaft hingewiesen haben, soll im ersten Teil die herkömmliche These des Strukturwandels skizziert werden. Anschließend folgt eine differenzierte Analyse der Mitgliedschaften in Vereinen, Verbänden und Initiativen sowie der Entwicklung von Mitgliedschaftsquoten zwischen 1956 und 1998. Zur Illustration greifen wir auf ALLBUS-Daten sowie Angaben ausgewählter Studien zurück
Um Argumentation und Beweislage überzeugend darlegen und verknüpfen zu können, müssen wir zwei Einschränkungen machen: Erstens zeigt die Entwicklung der gesellschaftlichen Beteiligung in den neuen Bundesländern spezifische Merkmale, die besonderer Erklärungsansätze bedürfen. Der starke Rückgang von Mitgliedschaften seit 1990, insbesondere bei politischen Organisationen und Gewerkschaften, ist u. a. eine Folge des Wandels bzw. des Verschwindens alter DDR-Organisationen, der Veränderung der wirtschaftlichen Lage und des Ausscheidens vieler Ostdeutscher aus dem Erwerbsleben sowie der Normalisierung hoher gesellschaftlicher Beteiligung nach der Umbruchphase
Zweitens zwingen uns die Restriktionen des Datenmaterials, aber auch inhaltliche Überlegungen dazu, uns auf Männer als Mitglieder in Organisationen und Vereinen zu konzentrieren. Wenn wir den Schulabschluss und die berufliche Stellung berücksichtigen wollen, kann der Zeitvergleich von Mitgliedschaftsquoten angesichts des zugänglichen Zahlenmaterials nur für Männer erfolgen
II. Freiwillige Mitgliedschaften als soziales Kapital
Partizipation und Engagement verstehen wir als Teilhabe am kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Leben in Form von freiwilligen Mitgliedschaften in intermediären Organisationen. Wir schließen jedoch nicht alle freiwilligen Vereinigungen, die dem gesellschaftlichen Bereich zwischen Staat, Markt und "Gemeinschaft" zuzuordnen sind, in unsere Betrachtung ein. Es werden solche Organisationsformen einbezogen, die einen bestimmten Grad an Formalisierung aufweisen, mittel- und längerfristige Ziele verfolgen, tatsächliche Beteiligung und Interaktion ihrer Mitglieder erlauben sowie nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtet sind
Mit dem von Robert Putnam (2000) popularisierten Konzept des "sozialen Kapitals" lässt sich die besondere Bedeutung von Mitgliedschaften in freiwilligen Vereinigungen für Individuum und Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Für den Einzelnen bieten sie Identifikationsmöglichkeiten, soziale Kon-takte und Ressourcen und erleichtern den Zugang zu Gütern sowie Informationen. Gleichzeitig stellen freiwillige Vereinigungen Verbindungen zwischen Individuen her, die über den Familien- und Freundeskreis hinausgehen und nicht nur ökonomischen Motivationen entspringen
Über die weit verbreitete Einsicht hinausgehend, dass Mitgliedschaften in Vereinen und Organisationen Bestandteile individueller wie kollektiver Wohlfahrt darstellen, rücken wir den Verteilungsaspekt des Sozialkapitals in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Wir gehen davon aus, dass soziales Kapital - wie andere Kapitalsorten - ungleich verteilt ist. Damit gewinnt die Frage an Bedeutung, ob diese Form der Verteilungsungleichheit in den letzten Jahren zu- oder abgenommen hat. Bezogen auf die hier betrachtete Komponente des sozialen Kapitals, wollen wir daher untersuchen, wie und warum eine Diskrepanz von Mitgliedschaftsquoten zwischen sozialen Gruppen entstanden ist. Nicht Rückgang oder Zunahme von sozialer und politischer Beteiligung als konstitutiver Komponente sozialen Kapitals liefert die entscheidende Forschungsfrage, sondern die Verteilung von bzw. der Zugang zu diesen Formen des Kapitals.
III. Strukturwandel von Engagement und Partizipation
Die Diskussion über den Wandel von Engagement und Partizipation und damit über einen möglichen Niedergang oder eine Umverteilung sozialen Kapitals dreht sich im Wesentlichen um zwei Aspekte
- um den Rückgang der Partizipation in "klassischen" Organisationen sozialer und politischer Teilhabe wie in Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Parteien und
- um die starke Zunahme kleiner, selbstorganisierter und projektorientierter Organisationenformen wie Selbsthilfegruppen, Bürgerinitiativen, Tausch- und Kooperationsringe.
Prozesse gesellschaftlicher Modernisierung und Individualisierung werden als die eigentlichen Motoren ausgemacht, die eine Bewegung weg von traditionsgebundenem, normgeleitetem und fremdorganisiertem Engagement sowie dauerhaften Mitgliedschaften hin zu zeitlich befristeten, eigeninteressierten, selbstorganisierten und eher professionalisierten Formen freiwilliger Aktivitäten in Gang gesetzt hätten
Auch die vorliegenden ALLBUS-Daten bestätigen die Annahme, dass eine Verlagerung von Mitgliedschaften weg von den etablierten Organisationen stattfindet
Die Dritte-Sektor-, Vereins- und Selbsthilfeforschung stellt dagegen eine starke Zunahme kleiner, selbstorganisierter Assoziationen fest
Die neuen Formen der sozialen und politischen Beteiligung haben ein zentrales Charakteristikum gemeinsam: den Anspruch, auch eigeninteressierte Motive der gesellschaftlich Engagierten mit zu berücksichtigen. Normen direkter und nicht nur generalisierter Wechselseitigkeit stehen im Vordergrund des Handelns. Wenn aber soziale Beziehungen in der individualisierten Kommunikationsgesellschaft immer häufiger frei gewählt, aber auch kurzfristiger eingegangen werden, tritt die soziale Welt als ego-zentriertes Netzwerk in den Vordergrund, in dem die Bereitschaft zur Gegenleistung aktiviert wird - auch zum Schutz gegen die wachsenden Risiken oberflächlicher, oft zufälliger Kontakte
Diese Befunde stimmen auch mit der Individualisierungsthese überein, in der Individualisierung als "historisch widersprüchlicher Prozess der Vergesellschaftung"
Dass Gemeinsinn und Eigeninteresse sich nicht ausschließen, wird nicht zuletzt bei den Selbsthilfegruppen und selbstorganisierten Initiativen deutlich
Das "Aussterben der Stammkunden"
IV. Sozialstrukturelle Konfigurationen von Mitgliedschaften
Allein die alltägliche Beobachtung, wie unterschiedlich individuelle Bedürfnisse, gesellschaftliche Interessen und kommunikative Fähigkeiten ausgeprägt sind, legt nahe, dass Mitgliedschaften in Vereinen, Verbänden, Parteien und Initiativen nicht über alle sozialen Gruppen gleichmäßig verteilt sind
Betrachtet man dagegen unterschiedliche Organisationsformen, kommt man zu einem differenzierten Ergebnis. Werden Mitgliedschaften im DGB, in kirchlichen Vereinen und in Wohlfahrtsverbänden - also traditionsreiche, "vertikal integrierte und hierarchisch strukturierte Organisationen"
Das Gegenteil trifft zu für Volks- und Hauptschulabsolventen, die in diesen Organisationen stärker vertreten sind, als man erwarten würde. In kirchlichen Vereinen und Wohlfahrtsverbänden lässt sich wiederum ein Zusammenhang zwischen Mitgliedschaft und Bildungsabschluss kaum feststellen. Personen mit niedrigen Bildungsabschlüssen sind in diesen Organisationen nicht unterrepräsentiert. Diese Struktur der Mitgliedschaften in einzelnen Organisationsformen nach Bildungsabschluss hat sich über den Zeitraum von 1980 bis 1998 im Wesentlichen nicht verändert.
Überraschend ist dieses Ergebnis deswegen nicht, da sich das Engagement in Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden aus einer kulturellen Tradition speist und eng mit anderen Lebensbereichen, insbesondere der Erwerbsarbeit, verschränkt ist. Zum einen haben diese Organisationen ihre Wurzeln in "sozialmoralischen Milieus"
Neben Strategien der Durchsetzung von Interessen im Erwerbsleben führen tradierte Weltanschauungen und milieugebundene Kontaktnetzwerke zur Teilhabe in "traditionellen" Vereini-gungen. Vor allem die Kultur der Arbeiterbewegung in Form von Bildungs-, Gesangs-, Sport-, aber auch Pfarrvereinen, Genossenschaften und Jugendbewegungen brachte in enger Verflechtung mit familialer und betrieblicher Sozialisation verschiedene Formen der Geselligkeit hervor. Diese durch "Klasseninteressen" und traditionelle Milieus geprägten Assoziationsmuster boten für einen Teil der sozioökonomisch schlechter gestellten Bevölkerungskreise gleichsam "niedrigschwellige" Partizipationschancen
Neuartige Gruppen und Initiativen, deren Zahl zunimmt, weisen eine andere sozialstrukturelle Konfiguration auf. Im Gegensatz zur Verteilung der Mitgliedschaften in "traditionellen" Vereinigungen weisen Personen mit niedrigem Bildungsgrad unterdurchschnittliche Mitgliedschaftsanteile beispielsweise in Bürgerinitiativen auf
V. Die ungleiche Mitgliedschaftsentwicklung als Umverteilung von sozialem Kapital
Welche Bedeutung hat der Befund unterschiedlicher sozialstruktureller Konfigurationen von freiwilligen Vereinigungen? Seine Brisanz tritt durch eine Verbindung mit dem Mitgliederrückgang in traditionellen Organisationen bei gleichzeitiger Ausweitung des Engagements in neuen Assoziationen zu Tage. Es lässt sich daher folgende These
formulieren: Wenn traditionelle Organisationen massive Mitgliederverluste verzeichnen, während neue Assoziationsformen "boomen", müsste sich aufgrund der unterschiedlichen sozialstrukturellen Zusammensetzung dieser Organisationen auch eine ungleiche Mitgliedschaftsentwicklung abzeichnen.
Ein Rückgang von Mitgliedschaften bei bestimmten Bevölkerungsgruppen hätte sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene unerwünschte Nebeneffekte. Auf der einen Seite gingen damit Möglichkeiten des Zugangs zu Organisationsressourcen und den damit verbundenen Kontaktnetzwerken verloren. Auf der anderen Seite könnte ein soziales Segment entstehen, das von konventionellen Formen der Partizipation weitgehend ausgeschlossen wäre.
Ein Blick auf die vorliegenden Daten zur Entwicklung der Beteiligung in Vereinen und Verbänden, die in den Tabellen 2 und 3 zusammengefasst sind, bestätigt die These von der ungleichen Mitgliedschaftsentwicklung
Männer mit Volks- und Hauptschulabschluss bzw. Arbeiter verzeichnen von 1956 bis 1998 den größten Rückgang in der Mitgliedschaftsquote. Waren nach der Erhebung des UNESCO-Instituts für Sozialwissenschaften in Köln 1956 noch 72 Prozent der Volks- und Hauptschüler Mitglieder "irgendwelcher Vereine"
Hinter dieser Entwicklung verbirgt sich eine zunehmende Ungleichverteilung von sozialem Kapital zwischen verschiedenen sozialen Gruppen. Geht man davon aus, dass nicht nur die Höhe von sozialem Kapital in einer Gesellschaft Einfluss auf den sozialen Zusammenhalt hat, sondern auch dessen Verteilung, dann gibt der vorliegende Befund Anlass zu Besorgnis. Aufgrund der Abnahme des Anteils von Hauptschulabsolventen und Arbeitern an der Gesamtbevölkerung hat es zunächst den Anschein, als ob die Höhe gesellschaftlicher Beteiligung stabil bliebe. Dennoch lassen sich zwischen den einzelnen Gruppen zunehmende Ungleichheiten feststellen. Das sagt zum einen etwas über die Integrationsfähigkeit neu entstehender Organisationsformen aus und macht zum anderen auf die Determinanten für Mitgliedschaften unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen aufmerksam. In jedem Falle setzen Investitionen in soziales Kapital bereits verfügbare Ressourcen - z. B. in Form von Bildungsqualifikationen und Kontaktnetzwerken - voraus, wie auch umgekehrt die meisten Studien belegen, dass soziales Kapital die Erträge des kulturellen Kapitals erhöht
VI. Wandel der Rekrutierungspfade und Verlust der "integrierten Kernpopulation"
Für diese Ergebnisse bieten sich zwei Erklärungen an: erstens das Verschwinden traditioneller Rekrutierungspfade und Kontaktnetzwerke und/oder zweitens die größere Selektivität der unteren Bildungsgruppe.
Erstens: Gesellschaftliche Modernisierungsprozesse - im Wesentlichen ausgelöst durch vermehrten Wohlstand und die Bildungsexpansion sowie die damit verbundene soziale und räumliche Mobilität - haben zur Transformation traditioneller Sozialmilieus geführt
Das Wegbrechen überkommener, an sozialdemokratische oder konfessionelle Milieus gebundener Rekrutierungswege in intermediären Organisationen wird durch neue Integrationsmechanismen nur teilweise aufgefangen. Da sich die mit hohen Bildungsabschlüssen einhergehenden Qualifikationen und Qualitäten als wichtiges Zugangskriterium zu neuen Gruppen und Initiativen erweisen, werden Personen ohne solche Vorzüge kaum Zugang zu diesen Assoziationsformen finden. Die Beteiligung in Selbsthilfegruppen, neuen sozialen Bewegungen und ähnlichen Initiativen stellt daher nicht immer einen Ersatz für schwindende traditionelle Organisationsmuster dar.
Dass neue Assoziationsformen steigende Anforderungen an ihre Mitglieder stellen, liegt an deren besonderen Organisationsprinzipien. Selbsthilfegruppen und neue Initiativen sind an der Erreichung persönlicher Anliegen orientiert, selbstorganisiert oder stärker auf professionalisiertes Engagement ausgerichtet. Nicht die Zugehörigkeit zu einem besonderen moralischen Milieu, sondern kommunikative Kompetenzen, Organisationsgeschick, Verhandlungsqualifikationen und die Fähigkeit, seine eigenen Interessen aktiv einzubringen und damit die persönliche Weiterentwicklung zu verbinden, sind wichtige Bestimmungsgründe für diese Art von Engagement. Die Tendenz vom Helfer zum freiwilligen Experten scheint immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Engagements zu erfassen
Es ist daher kaum überraschend, dass die soziale Homogenität freiwilliger Assoziationen eng mit der Rekrutierung über Kontaktnetzwerke zusammenhängt. Meist werden Personen durch den direkten Kontakt aus dem Freundes- und Bekanntenkreis zur Mitgliedschaft in einem Verein, Club oder einer Initiative bewogen. Da Selbsthilfegruppen und neue Initiativen in erster Linie in Mittelschichten verankert sind, führt bereits dieser Rekrutierungsmechanismus zur Reproduktion der Mitgliederbasis und damit zum Ausschluss anderer sozialer Gruppen
Für die Annahme des weitgehend ersatzlosen Verlusts von sozialem Kapital, das über Mitgliedschaften in traditionellen Assoziationen zugänglich war, spricht auch der konstatierte Trend zur Informalisierung bzw. "Privatisierung" sozialer Beteiligung
Zweitens: Weiterhin kann die veränderte soziale Zusammensetzung der niedrig qualifizierten Bevölkerungsgruppe als wichtiger Hinweis zur Erklärung des ungleich verteilten Mitgliederschwunds gelten. Mit der Abnahme des Anteils der Hauptschulabsolventen an allen Schulabgängern von 70,6 Prozent im Jahr 1960 auf 26,5 Prozent im Jahr 1998 hat auch die soziale Homogenität dieser Bildungsgruppe zugenommen
Der ungleich verteilte Rückgang der Mitgliedschaftsquoten könnte daher damit erklärt werden, dass insbesondere Personen, die aus vergleichsweise gut integrierten Teilen der niedrig qualifizierten Bevölkerungsgruppe stammen, ihre Bildungschancen genutzt haben. Die Gruppe der Hauptschulabsolventen hätte demnach im Laufe der Zeit ihre "integrierte Kernpopulation" verloren. Die Übriggebliebenen müssen nicht nur als Verlierer der Bildungsexpansion gelten, sie sind auch von der Beteiligung in freiwilligen Vereinigungen weitgehend abgekoppelt.
VII. Schlussbemerkung
Solange traditionelle Milieus in der Lage waren, Bindungen zu intermediären Organisationen vergleichsweise leicht herzustellen, hatte zumindest ein Teil der ressourcenschwachen Bevölkerungsgruppen gute Chancen, diese Form des sozialen Kapitals zu erwerben, auch wenn nicht alle Personen davon Gebrauch machen konnten. Das Fehlen dieser "vororganisatorischen Integrationsmechanismen" kommt der Schließung eines Beteiligungspfades gleich, der bisher - alternativ zum Einstieg in freiwillige Assoziationen via ökonomisches und kulturelles Kapital - Mitgliedschaften ermöglicht hat. Neue Formen des sozialen Kapitals, die Selbsthilfegruppen und modernen Initiativen entspringen, erweisen sich so als exklusiv.
Die veränderten Produktionsbedingungen von sozialem Kapital haben nicht nur individuelle, sondern auch gesellschaftliche Auswirkungen. Sollte sich langfristig ein Rückzug wenig privilegierter Bevölkerungsgruppen aus der gesellschaftlichen Beteiligung abzeichnen bzw. sollten die neuen Formen des gesellschaftlichen Engagements ihre Homogenität bewahren, dann wären bislang wirksame Formen der sozialen und politischen Integration gefährdet. Dann wäre auch die Rede von einer gespaltenen Bürgergesellschaft nicht mehr fern. Ganz abgesehen davon, dass für die betroffenen Personen eine wichtige soziale Ressource verloren ginge.
Politik, die sich für ein Erstarken der Zivilgesellschaft einsetzt, muss daher ihre Aufmerksamkeit stärker auf Formen des sozialen Kapitals lenken, die möglichst vielen Teilen der Bevölkerung zugänglich sind. Aber auch traditionelle Organisationen wie die Gewerkschaften müssen sich zu Service-Agenturen wandeln und ihren Mitgliedern bei der Bewältigung des wirtschaftlichen Strukturwandels durch Kontakte, Kurse und Kultur helfen, wollen sie nicht weiter Mitglieder verlieren. Freilich ist es mit attraktiveren Organisationen, Ehrenämtern auf Zeit und den vermehrten Möglichkeiten durch Arbeitszeitkonten und Gleitzeit allein nicht getan, wenn der Zugang zu sozialkapitalträchtigen Mitgliedschaften nur bestimmten Kreisen offen steht.
Internetverweise der Autoren:
Stichwort "Freiwilligen-Engagement":
www.buerger-fuer-buerger.de (Stiftung Bürger für Bürger - Service für freiwilliges Engagment)
www.isab-institut.de/home/fh-pe010.htm (Bürgerbefragung zum freiwilligen Engagement in 4 Kommunen)
www.bagso.de/718/02_4_01.htm (BAGSO Nachrichten Online, Sonderauswertung der repräsentativen Befragung zum freiwilligen Engagement in Deutschland 1999)
Bürgergesellschaft/Zivilgesellschaft:
www.arbeit-buerger-zukunft.de (Veranstaltungsliste mit Erklärungen, mit Titeln wie "Arme werdet ihr immer haben!, Neue Wege der Sozialpolitik einer Bürgergesellschaft")
www.demo-online.de/1299/b1299_11.htm (NRW auf dem Weg zur Bürgergesellschaft, Monatszeitschrift für Kommunalpolitk)