Einleitung
Die Zeitgeschichte als fachliche Disziplin hat sich in Deutschland in einem mühseligen Institutionalisierungsprozess gegen den Einwand durchzusetzen vermocht, dass sie infolge von Zeitnähe, restringiertem Quellenzugang und fehlendem Epochenabschluss zu wissenschaftlich gesicherter Erkenntnis nicht hinreichend in der Lage sei. Auch gegenüber der gegenwärtigen Herausforderung durch eine Erinnerungskultur, die dem Zeithistoriker keinen höheren Rang mehr einräumen will als dem Zeitzeugen, besteht die professionellen Standards verpflichtete Geschichtsschreibung mit Paul Ricoeur auf ihrem kritischen Grundcharakter, der sich aus dem unabdingbaren Zwang zu dokumentarischer Evidenz und kausaler Stringenz ergibt
Aber trifft diese kategorische Grenzziehung, so essenziell sie wissenschaftstheoretisch ist, ebenso kategorisch auch die Praxis der Historie? Dies soll im Folgenden an einer Schnittstelle erörtert werden, an der Zeitgeschichte und Zeitzeugenschaft personell zusammenfallen, aber inhaltlich in besonderer Spannung zueinander stehen: nämlich anhand der rückschauenden Selbstvergewisserung deutscher Historiker und der objektivierenden Darstellung ihres persönlichen Erlebens nach den Umbrüchen von 1945 und 1989. Im Mittelpunkt steht dabei eine vergleichende Zusammenschau, die ausdrücklich nicht einzelnen Standpunkten und Urteilen in der Sache gilt, sondern allein den verschiedenen Verarbeitungsformen und "Stilen" des "historiographischen Gedächtnisses" beruflich geschulter Fachhistoriker
I. Zitierte Erfahrung
Zeitgeschichtliches Erleben tritt im historischen Diskurs in zwei Hauptformen als unmittelbare Autorität zutage: als Citatio und als Narratio. Zitative Erinnerung liegt vor, wenn in der DDR der fünfziger Jahre bei den Beratungen des Autorenkollektivs für das "Lehrbuch deutsche Geschichte" ein 1909 geborener Historiker die wahlbeherrschende Macht der ostelbischen Junker in der Weimarer Republik mit seiner Erinnerung an die Landagitation des Kommunistischen Jugendverbandes zu stärken versuchte
Zitative Erinnerung ist ihrer Struktur nach selektiv und instrumentell; sie macht erlebte Geschichte zum beglaubigenden Argument. Im Kontext der von dem Hamburger Neuzeithistoriker Fritz Fischer (1910-1999) zu Beginn der sechziger Jahre ausgelösten Kontroverse um die deutsche Kriegsschuld 1914 verwiesen konservative Historiker in der Bundesrepublik ebenso gerne auf ihre Erinnerung an Fischers einstige Nähe zu Institutionen der NS-Historiographie
Dennoch zeigen sich in der zitativen Verwendung historischen Erlebens charakteristische Unterschiede der drei deutschen Geschichtskulturen nach 1945 in Ost und West sowie nach 1989 in der vereinigten Bundesrepublik. In der westdeutschen Fachzunft spielte der beglaubigende, distanzierende oder werbende Rekurs auf die eigene Erfahrung nach dem Zusammenbruch von 1945 nur für kurze Zeit eine prominente Rolle, in der es um Positionsfindung und akademische Neuordnung ging. Hartnäckig konnte in dieser Zeit ein in der Zeit der NS-Herrschaft nicht kompromittierter Historiker wie Siegfried A. Kaehler (1885-1963)
Die bald aufkommende Aversion gegen die "Naziriecherei" beendete diese Phase einer kritischen Durchleuchtung vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung bekanntlich rasch. Es dauerte nur ein Jahr, bis Gerhard Ritter Wilhelm Mommsen doch die erbetene Unbedenklichkeitsbescheinigung ausstellte, und zehn Jahre später war auch Siegfried Kaehler geneigt, einem nationalsozialistischen Volkstumspropagandisten, dem er im Juli 1945 noch seine "stark hervorgekehrte" Parteimitgliedschaft verübelte
Differenzierter stellt sich die Lage in der DDR dar. Der parteiamtlichen Ausforschungspraxis in der Zeit der Stalinisierung und des Kampfes gegen den "Kosmopolitismus" blieb kein Detail im Leben ,westemigrierter' Historiker verborgen. Sie zwang Hochschulprofessoren wie außeruniversitäre SED-Historiker, ihre Vergangenheit in ausführlichen Lebensläufen niederzulegen und gegebenenfalls die Erinnerung an die "elende Scharte in meiner Parteivergangenheit" in selbstkritischen Unterwerfungsschreiben an die Parteispitze selbst festzuhalten
Wie Winter schützte das verordnete Schweigen auch andere NS-belastete Kollegen an der Akademie der Wissenschaften über ihre Vergangenheit, und es blieb einem sozialistischen Dissidenten wie Robert Havemann vorbehalten, sich darüber zu empören, dass an seinem Ausschluss aus der Akademie der Wissenschaften 1965 mit dem Rektor der Berliner Humboldt-Universität, dem Präsidenten der Akademie der Wissenschaften und dem zuständigen Staatssekretär gleich drei "ehrenwerte Herren" mitwirkten, die "ehemals Mitglieder der Nazipartei gewesen seien"
II. Erzählte Erfahrung
Gerade weil sie punktuell und instrumentell ist, kann zitierte Erfahrung nur wenig über die kritische Kraft der historiographischen Objektivierung aussagen. Anders steht es um die zweite Form erzählter Historiker-Erinnerungen, wie sie in Form zahlreicher autobiographischer Äußerungen vorliegen. Als Lebensbeschreibungen in Umbruchszeiten waren sie gezwungen, biographische Kontinuität mit historischer Diskontinuität in Einklang zu bringen, also zwischen der gewachsenen Eigenidentität eines Individuums und dem System- und Identitätswandel der Gesellschaft zu vermitteln, der mit dem Übergang von der Diktatur zur Demokratie verknüpft ist.
Der erste Befund bestätigt zunächst Ricoeurs Annahme, dass fachlich reflektierte Objektivierungen eigener Erfahrung "die Distanzierung der historischen Erklärung gegenüber den ,wilden' Erklärungen des alltäglichen Gesprächs" akzentuieren
III. Die vergessene Erinnerung in der Bundesrepublik
Jeder noch so flüchtige Blick auf das Verhältnis von Erinnern und Vergessen in der Bundesrepublik fördert ein bekanntes Phänomen zutage: Biographische Nachkriegszeugnisse nichtemigrierter Historiker sparen weithin die Zeit zwischen 1933 und 1945 und vor allem die eigene Beziehung zur nationalsozialistischen Herrschaft aus. Von 1862 bis 1901 bzw. von 1901 bis 1919 reichen die Bände "Erlebtes" und "Erinnerungen" des ,Vernunftrepublikaners' Friedrich Meinecke (1862-1956), der nach dem Zweiten Weltkrieg als über Achtzigjähriger seine 1932 beendete Lehrtätigkeit wieder aufnahm und 1948 erster Rektor der von ihm mitbegründeten Freien Universität Berlin wurde. 1932 brechen Karl Alexander von Müllers Erinnerungen unvollendet ab, aber sie waren nach dem Zeugnis seines Herausgebers von vornherein nur bis zum Jahr 1934 angelegt gewesen. Fritz Schachermeyr (1895-1987) wiederum nutzte in seinem Lebensabriss das Thema seiner Alexander dem Großen gewidmeten Antrittsvorlesung von 1931, um direkt zu seiner nach 1945 entstandenen Biographie Alexanders des Großen überzuleiten und so in kühnem Bogen über die ganze NS-Zeit hinwegzuspringen
Wo nicht schon die zeitliche Begrenzung der Niederschrift das Verhältnis von Erinnern und Vergessen bestimmte, taten es Autor oder Herausgeber. Nicht immer ist der Schnitt der Schere im Kopf freilich so deutlich zu hören wie bei den noch vor Kriegsende verfassten Lebenserinnerungen des als nationalsozialistischer Parteigänger hervorgetretenen Tübinger Historikers Johannes Haller (1865-1947), die posthum erschienen und den Herausgeber Rainer Wittram zu Texteingriffen veranlassten, die sich im Nachwort etwas verklausuliert so lasen: Es "konnte nur ausnahmsweise vom Grundsatz abgewichen werden, daß stehenbleiben mußte, was sich an Maßstab und Denkhorizont als zeitbedingt zu erkennen gibt"
Der Schweigekonsens zerbrach allerdings, wenn entweder eine ungebrochen in die postdiktatorische Gegenwart ragende biographische Identität jede Anpassung an den Zeitgeist überflüssig machte oder aber umgekehrt der zeitgenössische Kontext einen so starken Druck auf den Biografen ausübte, dass er der Stellungnahme nicht auszuweichen in der Lage war. Für den einen Fall steht der Verfechter einer rassenbiologischen Volksgeschichte Willy Helbok (1883-1968), dem noch in seinen 1963 erschienenen Erinnerungen Jazz wie selbstverständlich "Niggermusik", Adolf Hitler der "Führer" und der Untergang der Weimarer Republik erlösende Befreiung war
Paul Ricoeurs Kriterium der dokumentarischen Evidenz erweist sich daher bei näherem Zusehen zumindest für den bundesdeutschen Fall als einigermaßen trügerisch. Nicht anders als andere Zeitgenossen richten sich auch Historiker so in ihrer Erinnerung ein, dass sie eine Brücke zwischen Welt und Vita zu schlagen erlaubt und die Distanzierung vom vergangenen Selbst möglichst vermeidet. Dieselbe Homogenisierungskraft zeigt sich auch in der erklärenden Deutungsstruktur, in die bundesdeutsche Nachkriegshistoriker ihre Lebenszeugnisse einbetteten. Als Ausgangspunkt können wieder die Lebenserinnerungen Johannes Hallers dienen, deren Herausgeber Wittram im Nachwort sibyllinisch anmerkte: "Es darf dabei nicht aus den Augen verloren werden, dass Haller die Erinnerungen vor dem Zusammenbruch von 1945 niedergeschrieben hat, ohne die Erfahrungen, die das nächstfolgende Jahrzehnt vermitteln konnte. In der individuellen Mischung von Befangenheit und Unbefangenheit ist doch unverkennbar, dass der Verfasser auf einem anderen Boden stand als das System, das damals der Katastrophe entgegenging."
Nicht weniger markant zeichnet sich die retrospektive Überschreibungsarbeit am individuellen Gedächtnis in autobiographischen Stellungnahmen ab, die nach dem Umbruch auf die Zeit vor 1945 zurückblickten. Als Gerhard Ritter in der ersten Nummer der neu gegründeten Zeitschrift Die Gegenwart im Dezember 1945 sich zu der Frage äußerte, wie man als Historiker in der NS-Zeit überhaupt eine unabhängige Meinung in Wort und Schrift hätte äußern können, führte er als Beispiel seine Vortragsreise in die Türkei von 1943 an. Er deutete sie rückblickend als einen von den Männern des 20. Juli ermöglichten Widerstandsakt, an dessen Spitze das Reichswissenschaftsministerium selbst stand
Folgerichtig inszenieren Lebensrückblicke westdeutscher Zunftgenossen auf die Zeit vor 1945 ihr Leben eher episodenhaft als stringent - und umso mehr, je stärker sie in die aus dem Rückblick fremd gewordenen Verhältnisse eingebunden waren. Ein seine unveränderte Regimedistanz betonender Autobiograph wie Gerd Tellenbach, der anders als die meisten seiner Fachkollegen ausführlich auf die NS-Zeit einging, gliederte seine Lebenserinnerungen vergleichsweise stärker in gewohnten Zeitzusammenhängen wie "Zeitgeschichtliche Jugenderinnerungen", "Hitlers Aufstieg" und "Im Dritten Reich", während die Erinnerungen Karl Alexander von Müllers hinter dem äußeren Gerüst von 1919-1923, 1924-1927 und 1928-1932 weit ausholende Vor- und Rückblenden an Orientierungsmarken wie "Im Beruf", "Familie und neue Freunde", "Druckerschwärze und Reden" hefteten. Immer wieder mit Formeln wie "Eine Szene kommt mir in den Sinn"
IV. Beherrschte und selbstbeherrschte Erinnerung in der DDR
Ein fundamental anderes Bild der Vergangenheit zeichneten Fachkollegen, die ihre zeithistorischen Erinnerungen als Kommunisten in Ostdeutschland zu Papier brachten. Der normative Geschlossenheitsanspruch der DDR-Geschichtswissenschaft mochte keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Lebens- und Parteigeschichte gestatten und schuf so den Typus einer gleichsam kollektivierten Erinnerung, die den Doppelanspruch einer Übereinstimmung von historischer Objektivität und gelebter Authentizität erhob. Diese Konstellation schuf in der DDR-Historiographie eine eigene Gattung, das "Erinnerungs-Archiv" der SED-Vergangenheitsverwaltung, das persönliche Zeugnisse aus der Kampfzeit der Arbeiterbewegung als Vorbereitung für eine geplante Gesamtdarstellung der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung sammelte
Dieses "Erinnerungs-Archiv" fungierte als institutionalisiertes Parteigedächtnis, das seinen authentischen Erlebnisgehalt wahrte und doch frei war von "subjektvistischen Entstellungen". Interne Richtlinien legten fest, dass es bei der Aufnahme von Erinnerungen als geschichtliches Quellenmaterial auf eine "Schilderung der Ereignisse an(komme), wie sie dem Teilnehmer im Gedächtnis haften geblieben sind, und nicht, wie sie den vorhandenen Dokumenten entnommen wurden"
In dieser ,Reinigungsprozedur' treten die Formungskräfte einer beherrschten Erinnerung zutage. Eine besondere Verantwortung kam in der Arbeit am ,sozialistischen Gedächtnis' den sozusagen selbstbeherrschten Erinnerungen zu, in denen die Rollen des beteiligten Zeitzeugen und des fachlich geschulten Historikers - und manchmal auch des verantwortlichen Politikers - zusammenflossen. Dennoch waren selbst die Homogenisierungszwänge eines gleichsam kollektivierten Gedächtnisses nicht stark genug, um unterschiedliche Deutungen desselben Geschehens zu verhindern. In den Beratungen zur Schaffung einer ,sozialistischen Meistererzählung' in Gestalt der achtbändigen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, an denen neben Ulbricht selbst auch weitere Zeitgeschichtszeugen teilnahmen, wurden immer wieder individuelle Erfahrungen mobilisiert, um widersprechende Einschätzungen zu Protokoll zu geben, wie dies etwa ein zu den Beratungen hinzugegezogener Altkommunist demonstrierte, als er mit der Autorität eines Mitbegründers des Spartakusbundes die Rolle der Arbeiter-jugend in der Novemberrevolution stärker gewürdigt wissen wollte: "Ihr könnt beschließen was Ihr wollt, aber diese Darstellung, die 1958 durch die Presse ging, ist durch die Partei und durch die Wirklichkeit autorisiert."
Nur in der Person Ulbrichts freilich kamen eigene Erfahrung und historische Erkenntnis so weit zur Deckung, dass die Einlassungen des Parteichefs als Vorsitzender des Autorenkollektivs gleichsam einen weiteren Erinnerungstypus konstituierten, nämlich den der beherrschenden Erinnerung, die korrigierend in den historischen Ablauf selbst eingriff. Ein Beispiel bietet hier die Arbeit des Pariser Volksfrontausschusses, in dem Heinrich Mann die demokratische Dichtung repräsentierte und Ulbricht die Moskauer Linie der KPD. Der im Juni 1936 konstituierte Ausschuss verabschiedete im Dezember desselben Jahres einen gemeinsamen Aufruf an das deutsche Volk zur politischen Neugestaltung nach dem Sturz Hitlers, der in die Beratungen des Autorenkollektivs folgendermaßen Eingang fand: "Auf der Seite 197", so eröffnete Ulbricht seine Kritik, "ist das berühmte Dokument vom 21. Dezember. Was die Unterschriften betrifft, so beginnen sie mit den Kommunisten, dann kommen Sozialdemokraten und dann nach hierarchischer Ordnung die Intelligenz. Ich kann jetzt nicht genau sagen, wie die Reihenfolge der Unterschriften wirklich war." Daraufhin unterbrach der zuständige Bandautor mit einem Verweis auf die Quellen: "Sie waren in derselben Reihenfolge!", was Ulbricht zu der interessanten Replik veranlasste: "Dann haben wir einen Fehler gemacht. Ich würde die Sache anders machen. Ich würde hier sagen: Dieser Aufruf war gemeinschaftlich von Heinrich Mann, Wilhelm Pieck, Rudolf Breitscheid, Walter Ulbricht, Johannes R. Becher, Alfred Meusel vorbereitet worden - damit hier die Kommunisten nicht sozusagen allein stehen."
Einen interessanten Sonderfall als Grenzgänger zwischen westlichem und östlichem Geschichtsdenken bilden die 1981 in der DDR erschienenen Lebenszeugnisse Eduard Winters. Als "bürgerlicher-demokratischer" Osteuropahistoriker, der sich aus freien Stücken für die sozialistische Geschichtswissenschaft entschieden hatte und von Prag über Wien nach Halle gekommen war, genoss er in der DDR eine gewisse Sonderstellung, ohne sich freilich den herrschenden Blickachsen auf die Vorgeschichte des sozialistischen Teilstaates entziehen zu können. Als er 1981 seine Erinnerungen vorlegte, vermochte er zwar den DDR-Teil seiner Biographie mit Hinweis auf einen - zu DDR-Zeiten nie erschienenen - Fortsetzungsband
V. Der Zwang zur Erinnerung im vereinigten Deutschland
Gänzlich mussten schließlich ostdeutsche Historiker der heilenden Kraft des Vergessens nach 1989 entsagen. Hier zwang die sich vor den Augen einer selbst nicht betroffenen Westöffentlichkeit vollziehende Transformation der DDR-Gesellschaft im Grunde jeden arrivierten DDR-Historiker, sich mit einer in der Historiographiegeschichte einzigartigen Schonungslosigkeit privat oder öffentlich Rechenschaft über seine Leistung und sein Versagen zu geben. Öffentliches Schweigen über die eigene Rolle war unter diesen Umständen riskant, gezieltes Verschweigen angesichts der fast schrankenlos zugänglichen Akten gelegentlich geradezu selbstmörderisch. Kaum ein anderer Historiker konnte unter diesen Umständen so selbstbewusst auf seine Vita zurückblicken wie der sächsische Archivar und Landesgeschichtler Karlheinz Blaschke (geb. 1927), für den die "Wende" nicht Umbruch, sondern Befreiung aus jahrzehntelangen Zwängen bedeutete. Folgerichtig schrieb er seine Erinnerungen als eine fortlaufende Konfliktgeschichte in der fachlichen Diaspora und hatte lediglich Mühe, die seltenen Zeichen der Anerkennung durch die SED-Bürokratie in seine Erzählung zu integrieren
Dass aber selbst in den unter dem grellen Licht öffentlicher Aufmerksamkeit und paralleler Aktenforschung zustande gekommenen Autobiographien von Historikern erzählerische Wahrhaftigkeit und historische Wahrheit nicht immer zusammenfallen, haben zuletzt die Reaktionen auf Joachim Petzolds ausführliche Darstellung seines beruflichen Werdeganges als Historiker in der DDR gezeigt. Ungeachtet ihres dokumentarischen Charakters und ihrer schonungslos selbstkritischen Grundhaltung zeichnen sie ein Bild des Historikers Petzold, das zahlreiche seiner früheren Weggefährten mit Unverständnis aufnahmen. Der Autor selbst nahm in seinen Lebensbericht die briefliche Stellungnahme zweier früherer Weggefährten auf, die Petzolds Darstellung für grundsätzlich misslungen erklärten, weil "Du verschiedene markante Episoden aussparst", andere "mit Zusätzen wie ,wider Willen' verharmlost" und überhaupt "in all den Jahren gemeinsamer Arbeit nicht (und auf jeden Fall weniger als andere Kollegen) geneigt warst, gegen den Stachel zu löcken"
VI. Der Autoritätsanspruch der Zeitgeschichte und die Geltungskraft der Gegenwart
Welche Übereinstimmungen ergeben sich aus diesem kursorischen Überblick über die Objektivierungsbemühungen deutscher Historikerbiographien in drei unterschiedlichen Gechichtskulturen? Der jede Erinnerung zu allen Zeiten prägende Überschreibungsdruck, durch den individuelle Vergegenwärtigung in die übergreifende Erinnerungsordnung sozialer Gruppen, Generationen und Kulturen eingefügt wird, steht in Lebenszeugnissen von Historikern in Umbruchzeiten vor der doppelten Herausforderung, mehr oder minder stark abweichende biographische Faktoren integrieren zu müssen und gleichzeitig den historiographischen Anspruch auf fachliche Lauterkeit und persönliche Wahrhaftigkeit zu wahren, der den Autoren "möglichst genaue und, soweit nötig, sogar rücksichtslose Lebenszeugnisse . . . zur Erkenntnis der Zeitgeschichte" abverlangt
Besonders drei aufeinander bezogene Strategien zur Vermittlung zwischen biographischem Identitätsanspruch, sinnweltlichem Gegenwartsanspruch und fachlichem Objektivierungsanspruch lassen sich in allen hier betrachteten Erinnerungsmilieus deutlich ausmachen: nämlich erstens die teleologische Gegenwartsorientierung der erinnerten Tatbestände, zweitens ihre Einordnung in eine spannungsbehaftete, oft antagonistische Inszenierung der autobiographischen Beziehung von Ich und Umwelt und schließlich ihre authentifizierende Präsentation als glaubwürdige Erzählung.
So besteht ein zentrales Organisationsprinzip der hier betrachteten Erinnerungen in der Projektion späterer Erkenntnis auf frühere Zeiten, der auch Historiker nicht entgingen, die dies in ihrer sonstigen Berufstätigkeit als Verstoß gegen die Standards der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung betrachteten. Teleologische Rückprojektion kommt etwa zum Ausdruck, wenn Eduard Winter, dem nach eigener Auskunft "das Ende seit 1938 klar" war
Auch Gerhard Ritter war sich im Dezember 1945 sicher, dass "wenigstens für mich vom 1. Tag des Krieges an kein Zweifel mehr gewesen ist, daß dieser Wahnsinn in einer außenpolitischen Katastrophe enden würde, und zwar in einer Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes"
Erzählte Lebensgeschichten nach historischen Umbrüchen schließen die Lücke zwischen individueller Vita und gesellschaftlicher Gegenwart weiterhin regelmäßig, indem sie ihre Biographie in einen Rahmen stellen, der die Beziehung zwischen Ich und Umwelt als Konflikt inszeniert: In Form eines Kampfes gegen die wankenden Autoritäten des Kaiserreichs und gegen den Kurs der mehrheitssozialdemokratischen Parteiführung organisierte der Nestor der marxistischen Geschichtswissenschaft in der DDR, Alfred Meusel (1896-1960), seine Lebensgeschichte, die ihn zunächst 1926 zu einer Professur für Volkswirtschaft und Soziologie an der Technischen Hochschule in Aachen und 1934 ins Londoner Exil geführt hatte, als er nach der Rückkehr den SED-Parteiorganen Rechenschaft über seinen Werdegang abzulegen gezwungen war. Als endlose Konfliktgeschichte beschrieb von ganz anderer Warte auch Gerd Tellenbach sein Leben im Dritten Reich, das er mit "Meinungsverschiedenheiten" im akademischen Bekanntenkreis 1932 heraufziehen ließ, für den Januar 1933 zum geheimen Wunsch steigerte, plakatierte Hitlerbilder zu zerreißen, und später über die demonstrative Abscheu gegen braune Kritik am damaligen Heidelberger Rektor Willy Andreas und die Flucht in die freiwillige Grundausbildung bei der Wehrmacht bis zum Kampf gegen die Drangsal des Krieges in der Heimat und für die Rettung Gerhard Ritters aus der Gestapo-Haft weiterführte. Eduard Winter wiederum teilte seine Erinnerungen in Kapitel wie "Der drohende Sturm", "Die Auseinandersetzungen werden härter", "Dem Sturm entgegen", "Zwischen den Fronten" oder "Der Sturm bricht los".
Eine relative Befreiung vom Zwang zu einer grundsätzlich konfliktfixierten Konstruktion der Beziehung zur politisch-gesellschaftlichen Umwelt genossen nach 1945 und nach 1989 allenfalls Historikerbiographien, die entweder ihrem Ich in gewissem Maße lebensgeschichtliche Selbstverantwortung abzusprechen fähig waren oder umgekehrt ihre Ich-Identität so stark aus einer familien- und geistesgeschichtlichen Verwurzelung ableiteten, dass der Wandel der politischen Systeme demgegenüber nahezu in den Hintergrund trat. Für den einen Fall mag ein ostdeutscher Nachwuchshistoriker stehen, der sein Fortkommen "Im Getriebe des DDR-Systems" trotz "weltanschaulicher Dissonanz" als eine im Nachhinein schwer begreifliche Anpassungsleistung beschreiben konnte, weil er sich selbst als Kind der DDR und ihrer Zwänge für sein Tun nur begrenzt verantwortlich sah; "Wer, wie ich, ganz und gar durch das Leben in der DDR geprägt wurde, trug notwendig eine Reihe von festen Vorstellungen in sich, deren Ausbildung bereits in frühester Kindheit begann."
Den anderen Typus verkörpert die Autobiographie des kritisch-loyalen DDR-Historikers Fritz Klein, in der die individuelle Lebensgeschichte so stark über die ostdeutsche Staatsgeschichte hinausragt, dass die Beschreibung von Herkommen und Aufwachsen in einem deutsch-nationalen Elternhaus fast ein Drittel der Darstellung einnimmt - und die wachsende Distanzierung des Autors von der DDR-Entwicklung seit den späten sechziger Jahren einen ebenso großen Teil. Kleins autobiographische Perspektive gründet in der betonten Freiheit der eigenen Entscheidung für "das Große Ja" einer sozialistischen Alternative
Ein drittes markantes Merkmal schließlich bildet der Historikerautobiographien eigene Hang zur empirischen Absicherung. Durchgängig legen sie besonderen Wert auf die Transparenz ihrer Aussagen; sie stützen sich auf Quellenbelege, zitieren zeitgenössische Aufzeichungen, verarbeiten zahllose Tagebücher und fügen nicht selten ihren Erinnerungen dokumentarische Anhänge bei. Der bis 1944 in Königsberg und nach dem Krieg in Köln lehrende Neuzeithistoriker Theodor Schieder (1908-1984), ein Schüler Karl Alexander von Müllers, brachte seinen autobiographischen Rückblick in einem "Probleme und Perspektiven bayerischer Geschichte" untertitelten Sammelband zu "Land und Reich. Stamm und Nation" unter, nicht ohne am Anfang für mannigfaltige Unterstützung bei der Quellenrecherche zu danken und am Ende ein thematisch geordnetes Literaturverzeichnis beizugeben
VII. Fazit
In den untersuchten Beispielen zeigt sich immer wieder die "Doppelsinnigkeit" erinnerter Viten, die sich mit unterschiedlichen Schlüsseln dechiffrieren lassen. Bis zu welch schroff kontrastierenden Lesarten die Arbeit an der eigenen Vergangenheit auch und gerade unter Historikern gehen konnte, zeigte in den letzten Jahren die Kontroverse um den ersten deutschen Vorsitzenden des Comité International des Sciences Historiques Karl Dietrich Erdmann (1910-1990), in der auch nach einem in Repliken und Gegenstellungnahmen immer weiter fortgesetzten Schlagabtausch zwischen Schülern und Gegnern zwei fast gegensätzliche Biographien nebeneinanderstehen: zum einen das von Erdmann selbst geprägte und mit vielen Zeugnissen untermauerbare Bild eines Historikers, der die Vereinnahmungsversuche durch den Nationalsozialismus unter Inkaufnahme des Karriereabbruchs und in feindseliger Ablehnung Hitlers abwehrte, zum anderen die Kontur eines Schulbuchautors und Wehrmachtsoffiziers im Dienste des Dritten Reiches, der am 23. April 1945 in seinem Tagebuch dem Führer die Treue bis zu dessen Tod zusicherte und im Juni 1945 die "Endlose Propagandamühle über deutsche Greueltaten in Konzentrationslagern" als "Propagandistische Vorbereitung der . . . Versklavung Deutschlands" empfand
Biographische Doppelsinnigkeit verweist auf historische Doppelbödigkeit. Die rekonstruierte Ambivalenz der Stellung Karl Dietrich Erdmanns oder auch Eduard Winters zum Dritten Reich ergibt sich aus der typischen Mischung von Konsens und Distanz, welche die Haltung von Millionen prägte, während die Biographie Joachim Petzolds in dem Gegensatz zwischen eifriger Loyalität nach außen und nagenden Zweifeln im eigenen Innern wurzelt und Fritz Kleins Erinnerungen, die nicht zufällig den Titel "Drinnen und Draußen" tragen, von der Grundspannung zwischen familienbiographischer und intellektueller Offenheit einerseits, staatlich-politischer Geschlossenheit und Enge der DDR andererseits, durchzogen sind.
Das Ergebnis dieses vergleichenden Überblicks widerspricht keineswegs Ricoeurs noble dream einer kategorischen Kluft zwischen bloßer Erinnerung und überlieferungskritischer Historie. Autobiographische Historikerberichte sind keine wissenschaftlichen Texte. Sie sprechen - in den Worten Tellenbachs - überwiegend nicht von "miterforschter, sondern von erinnerter Zeitgeschichte"
Hinter der ,individuellen Erinnerungspolitik' und ihrer fachlichen Disziplinierung wird in allen Untersuchungsbeispielen die Macht einer Erinnerungsordnung fassbar, welche die jeweils geltenden autobiographischen Muster festlegt. Sie vor allem organisiert die Beziehung von Erinnern und Vergessen nach übergreifenden Regeln, die den selbstbiographischen Zeugnissen deutscher Historiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich voneinander abgrenzbare Erinnerungsmodi zuweist. Auch dies spricht dafür, dass die Wasserscheide zwischen wissenschaftlicher und persönlicher Erinnerung, von der das Selbstverständnis der Historikerzunft maßgeblich abhängt, doch eher eine fließende Grenze ist.