"Where are your monuments?", fragt der Schriftsteller Derek Walcott das Meer in seinem Gedicht "The Sea Is History". Das Meer schweigt, Walcott gibt selbst die Antwort: "The sea has locked them up."
Spuren von Vergangenheit offenbaren auch die Oberflächen der Meere. Als vergegenständlichte Zeugnisse menschlicher Arbeit erheben sich von ihnen etwa die skelettartigen Ruinen aufgegebener Bohrplattformen oder Seebrücken. Auch zeigen Besuche von Veteranengruppen an Schauplätzen einstiger Seeschlachten, dass sich kollektive Erinnerung selbst an die unbebaute Meeresoberfläche zurückbinden lässt.
Und dennoch: Die Zahl der realen wie imaginären Orte, an denen Vergangenheit zu Raum geronnen ist,
In verflüssigter Umgebung mangelt es an verfestigten Orten, an Wissensspeichern und Erinnerungszeichen, von denen Geschichtserzählungen ihren Ausgang nehmen können. Welche Wege beschreitet die Geschichtsforschung, um in Anbetracht dieser Herausforderungen die Meere als historische Räume zu fassen? Wo liegt der historische Ort des Ozeans?
Arenen und Verkehrswege
Mit den Meeren haben sich Historiker schon in der Frühphase der Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung befasst. Anfang des 19. Jahrhunderts aber beschränkte sich ihr Interesse auf wenige Bereiche des historischen Geschehens zur See, vor allem auf den militärischen: Unter dem Eindruck der Napoleonischen Kriege (1792–1815) entstanden vor allem in Großbritannien und Frankreich ab den 1820er Jahren oft mehrbändige Abhandlungen über die Seeschlachten der zurückliegenden Jahrzehnte und ihre Hauptprotagonisten.
Die Beschäftigung mit dem Maritimen weitete sich in der zweiten Jahrhunderthälfte auf zivile Bereiche der Seefahrt aus, etwa auf die Handelsschifffahrt und den Walfang.
Indes verhalfen die geopolitischen Rivalitäten des hochimperialistischen Zeitalters der Geschichtsschreibung über Seemächte und Seekriege ab etwa 1890 zu einem neuerlichen Popularitätsschub. Untersuchungen über Flottenpolitik und Taktikentwicklung galten den politischen und militärischen Eliten Europas und der Vereinigten Staaten als wertvolle Ratgeber; am Vorabend des Ersten Weltkrieges zählten manche Marinehistoriker zu den einflussreichsten Intellektuellen ihrer Zeit.
Weil aber das Geschehen auf See im Weltkrieg entgegen verbreiteter Erwartungen keine entscheidende Rolle spielte, mehrten sich nach 1918 die Zweifel am Anwendungsnutzen der Marinegeschichtsschreibung. Zugleich sahen sich Marinehistoriker alter Schule mit neuen Ansätzen des Zugriffs auf ihre Themen konfrontiert. In Deutschland etwa analysierte Eckart Kehr die wilhelminische Flottenpolitik als imperiales, von Kapitalinteressen durchwirktes Projekt. In den Vereinigten Staaten reüssierte Elmo Hohman mit einer sozialhistorischen Untersuchung über Arbeitsbedingungen einfacher Seeleute.
Das freilich hing auch mit einem Wandel des Verständnisses davon zusammen, was Geschichte ausmacht. In Frankreich entwarfen Historiker ab den 1920er Jahren das ambitionierte Programm einer Histoire totale: Die bis dahin isoliert voneinander beforschte Politik-, Militär-, Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte sollte in ganzheitliche Großanalysen zusammengeführt werden. In diesem Sinne untersuchte Fernand Braudel in seinem 1949 erschienenen Hauptwerk über die mediterrane Welt des 16. Jahrhunderts das Mittelmeer als Kristallisationsraum politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Strukturveränderungen. Anders als in Studien zur Marinegeschichte und zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Seefahrt begriff Braudel das Meer nicht als Behältnis, in das sich vom Land ausgehende Vorgänge gewissermaßen verlängerten. Vielmehr galt es ihm als geohistorisches Bedingungsgefüge, auf das Menschen ihr Handeln orientierten und das die Geschichte seinerseits umfassend prägte.
Netzwerke und Welten
Nicht nur diese Perspektivierung des Meeres sollte sich als wegbereitend erweisen. Auch die sie überwölbende Idee, die Ursprünge historischer Prozesse in transmaritimen Bewegungen und Beziehungen und mithin im transitären Dazwischen zu suchen – anstatt von einer territorialen Verwurzelung auszugehen –, inspiriert die Geschichtsforschung bis heute.
Nicht wenige der an Braudels Mittelmeerwelt orientierten Untersuchungen befassen sich ebenfalls mit Nebenmeeren, etwa mit der Ostsee oder dem Schwarzen Meer.
Bald jedoch löste sich die Geschichtsschreibung zum Atlantik aus ihrem ideologischen Entstehungszusammenhang. Studien über die atlantischen Imperien der iberischen Seemächte
Parallel zu diesen Entwicklungen versuchten Historiker, auch den Widerstand gegen die beschriebenen westlichen Ordnungsmodelle atlantisch herzuleiten. 1986 identifizierte Julius Sherrard Scott die Kommunikation unter Seeleuten, Hafenarbeitern und weiteren Subalternen als entscheidenden Faktor dafür, dass sich Nachrichten über soziale Unruhen in der Zeit der Haitianischen Revolution in Windeseile über das Karibische Meer verbreiteten.
Betrachtungen der übrigen Weltmeere als Geschichtsräume ließen nicht lange auf sich warten. Bereits 1961 reüssierte der mauritische Archivar Auguste Toussaint mit einer Geschichte des Indischen Ozeans.
Ebenfalls in den 1960er Jahren avancierte der Pazifik zum Gegenstand der Geschichtsschreibung.
Gegenräume und Eigenwelten
Die in der Historiografie zum Pazifik früh beobachtbare Polarisierung zwischen einer empirisch ausgerichteten Sozialgeschichtsforschung und einer hermeneutisch orientierten Kulturgeschichtsforschung entwickelte sich in den 1980er Jahren zu einem zentralen Spannungsfeld innerhalb der Geschichtswissenschaft. Wahlweise in Opposition oder Ergänzung zu der Tendenz, maritime Welten und Netzwerke den Panoramaperspektiven sozialhistorischer Großentwürfe einzuverleiben, erkundeten Historiker – und immer häufiger auch Historikerinnen – den Geschichtsraum Meer verstärkt in kultur-, alltags- und mikrogeschichtlichen Betrachtungen.
In einer Kulturgeschichte der Küste zeigte Alain Corbin 1988, wie sich in Europa der lange als bedrohlich gefürchtete Grenzraum zwischen Land und Meer im Zuge von Aufklärung und Romantik in einen Sehnsuchtsort verwandelte. Wie die neuzeitliche "Meereslust" über die Ebene populärer Imaginationen hinaus die materielle Gestalt von Küsten verändert hat, legte der Landschaftshistoriker John Stilgoe am Fall Neuenglands eindrucksvoll dar.
Einen kulturgeschichtlichen Zugriff auf das Meer, der dieses in ähnlicher Weise als Gegenraum begreift, legte 1993 der britische Soziologe Paul Gilroy vor. In seiner Studie über die Herausbildung der Schwarzen Diaspora in der Folge des Sklavenhandels konzipierte er den Atlantik als Entstehungsraum einer Gegenkultur zur westlichen Moderne.
Das in den 1980er Jahren zunehmende Forschungsinteresse an Schiffen – in Deutschland als "Schifffahrtsgeschichte" gefasst – speiste sich auch aus aufsehenerregenden Funden der Unterwasserarchäologie, Nachbauten historischer Wasserfahrzeuge und außerwissenschaftlichen Impulsen wie der Präsenz maritimer Sujets in der Populärkultur. Im Zusammenspiel mit der Restaurierung historischer Segel- und Dampfschiffe in einer wachsenden Zahl maritimer Museen erfuhren zugleich die Technik- und Wirtschaftsgeschichte der Seefahrt einen Aufschwung.
Aus der Beschäftigung damit kam 1986 der Anstoß für die Gründung einer internationalen Maritime Economic History Group, aus der die heutige International Maritime History Association hervorging. Um die Vereinigung und ihre Zeitschrift, das "International Journal of Maritime History", formierte sich eine neuartige Forschungsrichtung, die maritime Geschichte. Ihr geht es gewissermaßen um Spezialisierung ohne Verengung: Mit der Marinegeschichtsschreibung verbindet sie der Anspruch, das meeresbezogene historische Geschehen in seinen spezifischen Eigenheiten zu durchdringen – anstatt die Meere bloß ergänzend in sozial- oder kulturgeschichtliche Großerzählungen zu integrieren. Anders aber als die klassische Marinegeschichte bietet die maritime Geschichte eine breite thematische Offenheit. Zu ihren Dauerthemen zählen der Arbeits- und Lebensalltag auf Schiffen, meeresbezogene Gesetzgebungen und Rechtsordnungen, Schifffahrtsunternehmen, Hafen- und Transportinfrastrukturen sowie die Geschlechterkultur der Seefahrt – letztere popularisiert etwa durch die britische Historikerin Jo Stanley.
Akteure und Lebensräume
Obschon manche Forschungsstränge und Zugangsweisen noch gar nicht genannt sind – etwa aus der Umweltgeschichte oder der Alten und Mittelalterlichen Geschichte –, zeigt sich deutlich: Trotz ihrer relativen Ortsarmut entziehen sich die Meere dem Zugriff der Geschichtswissenschaft keineswegs. Den einen historischen Ort des Ozeans gibt es indes nicht, vielmehr scheinen sich die Perspektiven auf den Geschichtsraum Meer beständig zu vervielfältigen und auszudifferenzieren.
Und heute? Unter den in jüngster Zeit erstarkten Forschungsbereichen erkennt gerade die Globalgeschichte den Meeren eine eminente Bedeutung zu – resultierten doch Prozesse globaler Interaktion und Integration für den längsten Teil der Geschichte aus transmaritimen Bewegungen.
Unterzieht man jenes meereskundliche Wissen seinerseits einer Historisierung, so erweitert sich der Blick auf den Geschichtsraum Meer um zusätzliche Facetten. Die Geschichte der wissenschaftlichen Exploration des Antarktischen Ozeans etwa offenbart, dass dieser den Forschenden eine Fülle von Antizipations- und Anpassungshandlungen abverlangte – vom Bau geeigneter Schiffe über die Konstruktion passender Instrumente bis hin zur Entwicklung angemessener Verfahren der Datenerhebung.
Dazu kann die Wissensgeschichte – und nicht nur sie – an Ideen von Bruno Latour anknüpfen. Der französische Soziologe hat die soziale Welt als ein Netzwerk konzipiert, das auch Dinge und Tiere agierend ausgestalten.
Am Thema des Walfangs erweist sich zuletzt exemplarisch, wie die Geschichtsforschung über die Meere durch die Erweiterung ihrer Themen und Herangehensweisen ein vielversprechendes Potenzial für die inner- und interdisziplinäre Zusammenarbeit aufgebaut hat. So haben Forscherinnen und Forscher aus der Geschichtswissenschaft und der Meeresbiologie von 2000 bis 2010 gemeinsam Logbücher nordamerikanischer Walfänger ausgewertet, um Einsichten in die historischen Bestandsgrößen und Migrationswege von Walpopulationen zu gewinnen.