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Brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten? | Wertewandel | bpb.de

Wertewandel Editorial Das Zeitalter des "eigenen Lebens" Brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten? Zeitenwende Der Wertewandel 30 Jahre später Wertewandel im internationalen Vergleich Ein deutscher Sonderweg? Wertewandel und bürgerschaftliches Engagement - Perspektiven für die politische Bildung

Brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten?

Helmut Klages

/ 17 Minuten zu lesen

Der "aktivierende Staat" soll sich auf die Weckung und Unterstützung gesellschaftlicher Eigenkräfte konzentrieren. Die Gründe liegen in einer neuen Verantwortungsteilung.

I. Neue Fragen an Staat, Markt und Gesellschaft

In der entwickelten Welt ist eine Bewegung in Gang gekommen, die in Richtung einer neuen Verantwortungsteilung zwischen Staat, Gesellschaft und Wirtschaft zielt. Nach dem Vordringen des Staates im 20. Jahrhundert sollen nunmehr die Kräfte des Marktes, aber auch der Gesellschaft wieder stärker in den Vordergrund treten. Der Staat, der sich bisher für immer mehr Dinge verantwortlich und ausführend zuständig sah, soll die Rolle eines aktivierenden Befähigers ("Enablers") übernehmen, d. h., in der Gesellschaft Eigenkräfte wecken und fördern und auf diesem Wege zu einer günstigen Gesamtentwicklung beitragen. Im Zusammenhang mit dem Leitbild einer "Bürgergesellschaft" (oder "Zivilgesellschaft"), das auf der Eigeninitiative und Eigenverantwortung der Menschen aufbaut, werden zunehmend Fragen gestellt wie: Was kann der Staat, was kann der Markt, was kann die Gesellschaft, was können die einzelnen Menschen leisten? Je nach ideologischem Standpunkt werden hoffnungsvolle Erwartungen, aber auch skeptische Fragen und Befürchtungen geäußert: Welches Maß an Selbstverantwortung ist den Menschen zuzumuten? Stehen sie schon "auf dem Sprung", um die ihnen zugedachte Rolle im neuen ordnungspolitischen Konzept auszufüllen, oder schrecken sie noch davor zurück? Besitzen sie die nötige Bereitschaft und Kompetenz hierzu? Oder sind erst einmal große Investitionen in das in letzter Zeit viel erörterte "Sozialkapital" erforderlich, um sie zur Entwicklung der wünschenswerten Fähigkeiten und Sozialtugenden zu veranlassen?

Einer verbreiteten Auffassung zufolge ist der mentale Zustand eines zunehmenden Teils der Bevölkerung problematisch. Dafür werden - als Folge der Wohlstandsentwicklung seit den fünfziger Jahren - ungünstige sozialpsychologische Veränderungen verantwortlich gemacht. Dieser Auffassung zufolge hat die Wohlstandsentwicklung die Menschen korrumpiert; es wird die Gefahr gesehen, dass die weitere gesellschaftliche Entwicklung immer mehr verantwortungsscheue, nicht nur am Allgemeinwohl, sondern auch am Mitmenschen uninteressierte Egoisten mit "Vollkasko-Mentalität" hervorbringt.

Die angstvolle Frage "Was hält unsere Gesellschaft überhaupt noch zusammen?", das Motto vieler Tagungen und akademischer Zusammenkünfte, bringt die Richtung, in der sich die Zweifel und Bedenken bewegen, mit plakativer Deutlichkeit zum Ausdruck. "Die Diagnosen lauten", so kommentierte der FOCUS in der zweiten Hälfte der neunzigerer Jahre, ",Ego-Gesellschaft', ,Mo-ral-Vakuum', . . . ,Auflösung der Gesellschaft'". Es wachse das Unbehagen an einem Zusammenleben, in dem jeder seinen Vorteil ohne Rücksicht auf die anderen zu suchen scheine. Mangelnder Gemeinsinn sowie Missachtung von Recht und Gesetz führten zu krimineller Absahnermentalität in allen Schichten der Bevölkerung, zu Schwarzarbeit, Sozialhilfeschwindel, Steuerhinterziehung, Vetternwirtschaft, Subventionsbetrug, Korruption.

Es scheint sich stimmig in dieses Negativbild zu fügen, dass in den letzten Jahren Berichte über eine angebliche Abstinenz der Deutschen gegenüber freiwilligem und ehrenamtlichem Engagement auftauchten. Während sich in anderen Ländern 30-40 Prozent der Menschen ehrenamtlich engagierten, so wurde verbreitet, seien es in Deutschland weniger als 20 Prozent. Von daher verwundert es nicht, dass gelegentliche Meldungen über eine Wiederbelebung "traditioneller" Werte von vielen mit Zustimmung und Gefühlen der Erleichterung begrüßt werden. In der Tat hat in der Bevölkerung die Meinung deutlich zugenommen, auf "traditionelle" Werte wie "Moral", "Pflichtbewusstsein", "Recht und Ordnung" sowie "Fleiß" werde in Deutschland zu wenig Wert gelegt. Die Gesellschaft im Ganzen beginnt sich als eine Egoistengesellschaft zu verachten, wie man feststellen kann, wenn man die Menschen fragt, was sie von "den anderen" halten . Umfrageergebnisse, die auf dieser Grundlage aufbauen, sind nicht in erster Linie als Indikatoren einer Werterenaissance zu interpretieren, sondern bilden vielmehr ein massenhaftes Nachvollziehen der schlechten Nachrichten ab, die Meinungsführer im Lande seit längerem verbreiten.

III. Wertewandel in Deutschland: Tatsachen gegen Meinungen

Wir wollen dieses Negativbild, das die deutsche Gesellschaft offenbar von sich selbst besitzt, relativieren. Unser Einspruch richtet sich gegen die gesamte Tendenz dieses Bildes, nicht nur gegen Details. So hat der "Freiwilligensurvey 1999", dessen Ergebnisse jüngst veröffentlicht wurden, das bemerkenswerte Ergebnis erbracht, dass sich in Deutschland 34 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren freiwillig und ehrenamtlich engagieren. Unter den jungen Leuten sind das sogar noch mehr . Deutschland liegt damit auf einem guten Mittelplatz in der vergleichbaren Völkerfamilie. Mehr noch: Viele derjenigen Menschen, die bisher noch nicht engagiert sind, interessieren sich für ein Engagement. Es gibt in diesem zentralen Bereich einer zukünftigen Bürgergesellschaft ein großes Potenzial ungenutzter Bereitschaften, die durch den Einsatz geeigneter aktivierender Instrumente zur Wirkung gebracht werden können. In Anbetracht des negativen Gesellschafts- und Menschenbildes erscheint des Weiteren bedeutungsvoll, dass sich die überwiegende Mehrzahl der Engagierten "Spaß" vom Engagement verspricht und vor allem auch bekundet, dass ihr das Engagement tatsächlich Spaß bereitet. Unter "Spaß" verstehen also heute sehr viele Menschen das Erlebnis aktiven und erfolgreichen persönlichen Wirkens und Helfens in Verbindung mit Selbsterweiterungserfahrungen, nicht etwa nur Zerstreuungen und Vergnügungen, wie sie Freizeitparks und Medienangebote bereithalten.

Von diesen Erkenntnissen her bietet sich eine Brücke zur Diskussion des Wertewandels an. Gestützt auf die Ergebnisse des Freiwilligensurveys 1999 lässt sich feststellen, dass das in allen entwickelten Ländern beobachtbare Vordringen von Selbstentfaltungswerten, das den Wertewandel zentral charakterisiert , die Engagementbereitschaft der Bevölkerung nicht geschwächt, sondern - gerade umgekehrt - gestärkt hat. Es beeindruckt, wie deutlich Selbstentfaltungswerte mit der Bereitschaft zum Engagement in Verbindung stehen. Je stärker die Selbstentfaltungswerte ausgeprägt sind, desto höher fällt auch die Engagementbereitschaft aus. Dagegen fördern traditionelle Werte keineswegs in vergleichbarem Maße die Neigung zum Engagement, insbesondere wenn bei vorwiegend "traditionell" eingestellten Menschen die Orientierung auf Selbstentfaltung unterentwickelt ist. Selbst eine hedonistische, also vor allem den Genüssen des Lebens zugewandte Lebensorientierung ist noch förderlicher für das Engagement als eine vorrangig "traditionelle" Grundeinstellung.

Weiter vom Bild des Werteverfalls wegführende Einblicke in die Wertorientierungen der Deutschen vermittelt Schaubild 1, das auf Ergebnissen aus dem Speyerer Werte- und Engagementsurvey 1997 aufbaut: Es wird erkennbar, dass Werte des mitmenschlichen Bezugs im Bereich der Familie und sonstiger Formen enger Sozialbindungen im persönlich gestaltbaren Kleingruppenbereich zusammen mit Werten im Vordergrund stehen, bei denen es um die Betonung der Eigenständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit der Person geht. Die Analyse der Zusammenhänge zeigt, dass diese Werte eng mit den Werten "Gesetz und Ordnung respektieren" und "Nach Sicherheit streben" in Verbindung stehen, d. h. also mit Werten, die das Bedürfnis nach berechenbaren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zum Ausdruck bringen.

Im Interesse der Korrektur von Vorurteilen erscheint auch die Beobachtung wesentlich, dass Werte wie "Die guten Dinge des Lebens in vollen Zügen genießen", "Sich und seine Bedürfnisse gegen andere durchsetzen", "Einen hohen Lebensstandard" und "Macht und Einfluss haben", die allesamt auf einem gesonderten "Faktor" ("Materialismus und Hedonismus") liegen, in der breiten Bevölkerung bei weitem nicht die Bedeutung der eben zitierten, von uns "Mainstream" genannten Werte erreichen. Ihre Wertschätzung bewegt sich deutlich abgeschlagen im unteren Mittelfeld bzw. im Fall von "Macht und Einfluss" sogar am unteren Ende der Werteliste.

"Mainstream"-Werte wie Familien- und Partnerorientierung, Freundschaft und Unabhängigkeit erscheinen auf das Jahr 1987 rückblickend kaum verändert. Andere verfügbare Daten bestätigen, dass im betrachteten Zeitraum kaum Veränderungen dieser grundlegenden Komponenten im Wertsystem der Bevölkerung aufgetreten sind .

IV. Wertesynthese als Zukunftsmodell

Wir möchten besonders darauf hinweisen, dass wir bei unseren Forschungen einen Trend zur Wertesynthese - das heißt zu einer Vereinigung gegensätzlich erscheinender Werte - entdeckten . Gerade diese Entdeckung führte uns zu einer optimistischen Deutung des gesellschaftlichen Wandels. Wir fragten uns, ob und inwieweit Wertorientierungen, die in der Forschung und auch im allgemeinen Verständnis als "traditionelle" und "moderne" Werte voneinander abgegrenzt werden, dennoch gemeinsam auftreten können. Wir fanden in der Tat einen Persönlichkeitstypus, der gleichermaßen "moderne" und "traditionelle" Werte besonders schätzt. Wir entschlossen uns, Menschen mit diesem bemerkenswerten Typus nach einer breiten Analyse ihrer Lebensumstände und Einstellungen aktive Realisten zu nennen.

Ein Überblick über die Merkmale der insgesamt fünf von uns aufgefundenen Wertetypen zeigt große Unterschiede in der Fähigkeit und Neigung, sich produktiv und "sozialverträglich" auf die Anforderungen der gesellschaftlichen Modernisierung und der Bürgergesellschaft einzulassen. Vorrangig traditionell orientierte Menschen (1999: 18 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren) halten sich eher ans Bewährte und lassen wenig Neigung zur Selbstständigkeit und Risikofreude erkennen. Vorrangig hedonistisch und materiell Orientierte (15 Prozent) sind zwar flexibel. Die Dominanz des Lustprinzips und Jagd nach schnellen Gewinnen lassen sie jedoch nicht selten die Grenzen des sozial und legal Verträglichen austesten. Vorrangig idealistisch Eingestellte (17 Prozent) sind zwar verbale Fortschrittsbejaher, stehen jedoch wegen ihrer oft ideologisch geprägten Sichtweise der Realität der Modernisierung frustrationsanfällig gegenüber . "Perspektivenlos Resignierte" (16 Prozent) sind die eigentlichen "Stiefkinder" des gesellschaftlichen Wandels; Rückzug, Passivität und Apathie sind für sie typisch. Aktive Realisten können dagegen von ihrer mentalen Grundausstattung her am ehesten als hochgradig modernisierungstüchtige Menschen charakterisiert werden. Die Gruppe umfasste 1999 34 Prozent der Bevölkerung und stellte somit den zahlenmäßig stärksten Typus dar. Menschen, die dieser Gruppe angehören, sind in der Lage, auf verschiedenartigste Herausforderungen "pragmatisch" zu reagieren, gleichzeitig aber auch mit starker Erfolgsorientierung ein hohes Niveau an "rationaler" Eigenaktivität und Eigenverantwortung zu erreichen. Sie sind auf eine konstruktiv-kritikfähige und flexible Weise institutionenorientiert und haben verhältnismäßig wenige Schwierigkeiten, sich in einer vom schnellen Wandel geprägten Gesellschaft zielbewusst und mit hoher Selbstsicherheit zu bewegen. Mit allen diesen Eigenschaften nähern sie sich am ehesten dem Sollprofil menschlicher Handlungsfähigkeiten unter den Bedingungen moderner Gesellschaften an.

Persönlichkeitseigenschaften, die zur Bewältigung und Gestaltung der Modernisierung wichtig sind, sind - wie wir im Speyerer Werte- und Engagementsurvey 1997 feststellen konnten - über die gesamte Bevölkerung hinweg betrachtet keineswegs schwach entwickelt. Die aktiven Realisten liegen allerdings praktisch bei allen Messwerten deutlich über dem Durchschnitt. Sie erweisen sich als "kooperative Selbstvermarkter" mit hoch entwickelter fachlicher Kompetenz und ausgeprägtem Erfolgsstreben, gleichzeitig aber auch mit ausgeprägter Fähigkeit zur Selbstkontrolle und rationalen Verhaltenssteuerung, zur Soziabilität und Kommunikation, ergänzt durch erhöhte Konflikt- und Durchsetzungsfähigkeit. Alles dies mutet auf den ersten Blick betrachtet widersprüchlich an, repräsentiert aber das spannungsreiche Persönlichkeitsprofil, das den Menschen in Zukunft mehr und mehr abgefordert wird und zu dessen Realisierung es aller Voraussicht nach der von den aktiven Realisten verkörperten "Wertesynthese" als mentaler Grundlage bedarf.

V. Entwicklungsperspektiven der Wertesynthese

Angesichts der strategischen Bedeutung, welche der Wertesynthese zukommt, muss zunächst die dringliche Frage gestellt werden, ob die Gruppe der aktiven Realisten zahlenmäßig zunimmt oder kleiner wird. Sofern das Erstere der Fall ist, kann davon ausgegangen werden, dass der Wertewandel die Zukunftsfähigkeit der Menschen unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Modernisierung stärkt. Es kann dann - ungeachtet aller Einzelprobleme, die sich bei näherem Zusehen auffinden lassen mögen - zu einer positiven Gesamtbewertung des Wertewandels kommen. Ist dagegen das Letztere der Fall, so besteht Anlass zu großer Sorge.

Schaubild 2 erlaubt es, dieser strategischen Frage für die Zeit zwischen 1987 und 1999 nachzugehen, indem die Entwicklung der Anteile der fünf Wertetypen anhand der trendsensiblen Altersgruppe der 18- bis 30-Jährigen ausgewiesen wird.

- Ordnungsliebende Konventionalisten (in der Grafik kurz "Traditionelle" genannt) spielen bei den jungen Leuten schon länger nur noch eine geringe Rolle.

- Perspektivenlose Resignierte ("Resignierte"), die "Stiefkinder" des Wandels, verharren auf etwa demselben Niveau.

- Nonkonforme Idealisten ("Idealisten"), die seit dem Ende der sechziger Jahre Konjunktur hatten, erlebten in den neunziger Jahren einen Einbruch, von dem sie sich nicht wieder erholten.

- Hedonistische Materialisten ("Hedonisten") erlebten bis zur ersten Hälfte der neunziger Jahre einen steilen Aufstieg, der jedoch bald einen Gipfel erreicht und in der Folge einer deutlichen Rückläufigkeit weicht.

- Aktive Realisten erlebten fortgesetzte Zuwächse und stellen sich gegen Ende der neunziger Jahre mit vergrößerter Deutlichkeit als die stärkste Teilgruppe dar.

VI. Rollback der Werte weder wahrscheinlich noch nötig!

Der entscheidende Spannungsgehalt einer Entwicklung, die bei den jungen Leuten besonders deutlich erkennbar wird, ist die Konkurrenz zwischen den aktiven Realisten und den hedonistischen Materialisten. Im Zeitraum zwischen dem Ende der achtziger und dem Ende der neunziger Jahre gab es zeitweilig ein "Kopf-an-Kopf-Rennen" zwischen diesen beiden Wertetypen. Die Hedonisten hatten bei der Messung im Jahr 1993 fast aufgeschlossen, wobei ihr höheres Wachstumstempo die Prognose eines bevorstehenden Vorbeiziehens an den aktiven Realisten nahe zu legen schien. Es war dies die Zeit, in welcher die auch heute noch vertretenen Diagnosen einer "Egoisten-Gesellschaft", "Spaßgesellschaft" oder "Ellen-bogen-Gesellschaft" auftauchten. Wie die Daten zeigen, gab es während dieser Zeit in der Tat bei den jüngeren Teilen der Gesellschaft eine Tendenz in diese Richtung , die aber keinen "Trend", d. h. also keine nachhaltige Entwicklung darstellte. Als "nachhaltig" erwies sich letzten Endes einzig das Wachstum der Gruppe der aktiven Realisten.

Die strategische Frage, ob der Wertewandel die Zukunftsfähigkeit der Menschen unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Modernisierung stärkt, kann insoweit mit "Ja" beantwortet werden. Die These lautet, dass sich die Wertesynthese immer deutlicher als die Leitlinie des Wertewandels herauskristallisiert. Die im Titel aufgeworfene Frage "Brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten?" kann von diesem Ergebnis her verneint werden. Der Wertewandel verläuft - von den aktiven Realisten her beurteilt - sozusagen von selbst in die richtige Richtung. Es handelt sich hierbei um einen Prozess, der durch Programme einer Um- oder Rücksteuerung der Werte wie etwa durch ideologische Indoktrination von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, nur verunsichert, kaum aber positiv beeinflusst werden könnte.

VII. "Wertewandel" allein reicht aber nicht aus!

Es stellt sich allerdings die Frage, ob man sich mit einem Wertewandel, in dessen Folge ein annähernd "optimaler" Persönlichkeitstypus entstanden ist, welcher aber letztlich doch nur einer unter anderen ist, zufrieden geben kann. Diese Frage stellt sich vor allem in einer Gesellschaft, die allen Menschen gleiches Lebens- und Entfaltungsrecht zugesteht und die sich auf ihre Fahnen geschrieben hat, möglichst allen die hierfür erforderlichen Chancen einzuräumen. Die Programmatik eines unter demokratischen Prämissen antretenden "aktivierenden" Staates würde mit Sicherheit ihr Ziel verfehlen, wenn man diese Frage nur mit Blick auf die Prognose eines weiter anwachsenden Anteils der aktiven Realisten an der Gesamtbevölkerung bejahen würde. Vielmehr muss nach den Bedingungen gefragt werden, unter denen die Entfaltung dieses Typus in der Breite der Gesellschaft gefördert werden kann.

Die Beantwortung dieser Frage setzt - aus der Perspektive der Forschung betrachtet - zunächst einmal voraus, dass die Entstehungsbedingungen des Persönlichkeitstyps aktiver Realisten oder vielmehr der Wertesynthese untersucht und geklärt werden.

Angesichts der noch nicht abgeschlossenen Forschungen können wir noch keine endgültige Antwort geben. Es ist aber erstens mit ziemlicher Sicherheit auszuschließen, dass der von uns festgestellten Differenzierung der Persönlichkeitsentwicklung in erster Linie solche individualpsychologischen Ursachen zugrunde liegen, die auf Vererbung zurückzuführen wären. Die aktiven Realisten weisen ihr spezifisches Profil der Wertesynthese nicht deshalb auf, weil sie hierfür in einer besonderen Weise genetisch vorprogrammiert sind. Eine maßgebliche Rolle spielt vielmehr die Sozialisation, spielen familiäre Einflüsse - und zwar solche, die im Prinzip beeinflussbar sind. Zweitens können wir im Rahmen dieser Einflüsse bestimmte gesellschaftliche Einwirkungsfaktoren ausmachen, die mitentscheidend darüber sind, ob Menschen das Profil der Wertesynthese entwickeln können oder nicht.

VIII. Die Bedeutung der Erziehung

Man muss auf die Erziehungssituation in der Familie eingehen, um frühe Prägungen zu verstehen, welche die Entstehung der Wertesynthese bei aktiven Realisten begünstigen . Zunächst spielt hierbei die Erfahrung stabiler familiärer Ordnungsstrukturen und intensive emotionale Zuwendung eine Rolle.

Erfahrungen von Stabilität und Berechenbarkeit haben allerdings auch Konventionalisten vermehrt in der Kindheit gemacht. Beide Wertetypen bekunden eine anhaltende Vorbildwirkung ihrer Eltern, die jedoch bei ordnungsliebenden Konventionalisten aus einem strengen Erziehungsstil erwächst, der dem Kind wenig Widerspruch und Freiräume ließ, aber dennoch mit rückblickendem "Gehorsam" gut geheißen wird. Bei aktiven Realisten spielte dagegen die Erfahrung elterlicher geistiger und kultureller Anregung die wichtigere Rolle sowie die Übertragung eigenständig zu bewältigender Aufgaben, verbunden mit anspornendem Lob durch Eltern und Bezugspersonen.

Gerade hier sind die Defizite der Primärsozialisation von Resignierten am größten. Die gestörte Sozialisation zeigt sich bei Resignierten und bei Hedonisten auch in einer geringeren Vorbildwirkung der Eltern. Für die Sozialisation von Hedonisten ist neben der Abwesenheit des religiösen Elements, die hier - rein statistisch gesehen - besonders zu Buche schlägt, eine Tendenz des elterlichen Erziehungsstils zum Laisser-faire erklärungskräftig.

Zu einer in ausreichendem Maße vorhandenen emotionalen und sozialen Vertrauensfähigkeit kommt bei aktiven Realisten etwas hinzu, was man als ein in der Grundstruktur der Persönlichkeit verankertes Bedürfnis nach produktiver Aktivität bezeichnen kann. Voraussetzung für die Entstehung dieses Bedürfnisses im Prozess der Primärsozialisation ist die Leistungserziehung im Elternhaus , d. h. also die angemessene und anspornende Übertragung von Aufgaben und Verantwortung, die immer wieder Erfolgserlebnisse ermöglicht und produktive Leistung zum verinnerlichten Bedürfnis der Person macht. Dass die "traditionell" erzogenen Konventionalisten zwar eine hohe Leistungsbereitschaft, aber keine Disposition zur Wertesynthese besitzen, kann unter Rückgriff auf die Psychoanalyse mit der Vermutung erklärt werden, dass Leistungsantriebe hier in erster Linie durch ein psychisch verinnerlichtes und allzu strenges Über-Ich ausgelöst werden, das stets zu folgsamer Pflichterfüllung ermahnt.

IX. Die "Verantwortungsrolle" als Schlüsselkategorie

Das durch den Werte- und Engagementsurvey 1997 rekonstruierbare elterliche Erziehungsklima ist als ein einflussreicher Erklärungsfaktor der persönlichen Entwicklung insgesamt wie auch der Entstehung der Wertesynthese zu betrachten. Über seinen unmittelbaren Erklärungswert hinaus liefert es verallgemeinerbare Hinweise auf günstige Sozialisations- und Entfaltungsbedingungen im weiteren Lebensverlauf von Personen. Auch in späteren Phasen der persönlichen Entwicklung spielt der Verhaltensstil von Vorbild- und Führungspersonen eine große Rolle. Wir selbst konnten die Bedeutung dieses Faktors eindrucksvoll bei zahlreichen Mitarbeiterbefragungen nachverfolgen, die wir in den vergangenen Jahren vorgenommen haben.

In späteren Sozialisationsphasen der Menschen kommt allerdings noch etwas hinzu, was gerade dann, wenn nach gesellschaftspolitisch relevanten Bedingungen der Wertesynthese gefragt wird, besonders bedeutungsvoll erscheinen muss. Die Entdeckung dieses zusätzlichen Einwirkungsfaktors wurde dadurch vorbereitet, dass sich bei zahlreichen Menschen ein "Wechsel" zum Typus des aktiven Realisten in Verbindung mit "kritischen Lebensereignissen" wie der Übernahme beruflicher Verantwortung und der Familiengründung beobachten ließ. Bei der näheren Untersuchung der entsprechenden Einflüsse kristallisierte sich die Bedeutung der individuellen Tätigkeitsfelder heraus, die den Menschen sinnvoll strukturierte Handlungsfreiräume sowie Möglichkeiten zu eigenverantwortlicher Gestaltung anbieten, welche subjektiv nachvollziehbare und akzeptanzfähige Grenzen haben.

Solche Chancen haben bisher in erster Linie Personen, die Führungs- bzw. Vorgesetztenpositionen wahrnehmen und denen von daher die Qualität von "Verantwortungsträgern" zugeschrieben wird. In der gegenwärtigen Gesellschaft ist - ungeachtet aller Beschwörungen der Eigenverantwortung als wünschenswerter allgemeinmenschlicher Eigenschaft - diese "hierarchische" Kontingentierung von Verantwortungsspielräumen noch weitgehend in Kraft. Auch für die heutigen aktiven Realisten gilt, dass sie oft auf den verschiedensten Ebenen Führungspositionen innehaben. Dies hängt damit zusammen, dass sie aufgrund ihrer bereits in der kindlichen und der Jugendphase entwickelten fachlichen und sozialen Kompetenz Tätigkeitsfelder und Rollen ausfüllen konnten, in die etwa Resignierte oder auch Hedonisten aufgrund ihrer ungünstigeren "Vorprägung" nicht gelangen konnten.

Dass sehr viele Menschen mit einer ungünstigeren Vorprägung dennoch die Fähigkeit zur Wertesynthese entwickeln können, wenn ihnen Verantwortung übertragen wird, deutet auf eine bis in den Wertebereich hinein durchschlagende Sozialisationskraft gesellschaftlicher Chancen- und Anforderungsstrukturen - oder auch: gesellschaftlicher "Rollen" - hin. Verallgemeinert man diese Einsicht, dann führt dies zu der Folgerung, dass "Verantwortungsrollen" mit Handlungsfreiräumen, welche die Ausübung von Eigenverantwortung gestatten, möglichst vielen Menschen unabhängig von ihrer Hierarchieposition zugänglich gemacht werden sollten. Dies könnte ein guter Weg zur Freisetzung desjenigen "Humanpotenzials" sein, das im Zuge des Wertewandels entstanden ist, das aber bisher noch keineswegs in dem eigentlich wünschenswerten - und notwendigen! - Maße aktiviert und genutzt wird.

Es ist ein falscher Ansatz, wenn die Forderung nach Eigenverantwortung in moralisierender Weise an die Menschen herangetragen wird, ohne an die nicht selten hemmenden konkreten Umstände im Alltag zu denken. Vielmehr gilt es einzusehen, dass Verantwortungsrollen einen entscheidenden Baustein desjenigen "Sozialkapitals" darstellen, von dem heute zu Recht - aber oft noch mit etwas diffusen Vorstellungen - die Rede ist. Das gilt auch für die Leitvorstellung der so genannten "Subsidiarität". Das in den Menschen schlummernde, latent vorhandene Potenzial wird nur dann freigesetzt werden können, wenn das Prinzip der Verantwortung in individuellen Tätigkeitsfeldern mit aller erforderlichen Konsequenz und Konkretheit verfolgt wird.

Es ist hierbei nicht nur an die Millionen von Arbeitskräften und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu denken, sondern auch an die Mitglieder unzähliger großer und kleiner Organisationen, deren Aktivitäten und Handlungsspielräume in einem Großteil der Fälle immer noch durch die exklusiven Zuständigkeiten, Entscheidungs- und Weisungsbefugnisse von "Verantwortungsträgern" und durch entsprechend gestaltete Strukturen in einem überflüssigen Ausmaß eingeschränkt sind. Dies gilt für Firmen und Behörden ebenso wie z. B. für Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Vereine, Schulen oder Seniorenheime. Zusammenfassend gesagt erscheint eine breit ansetzende, auf die Schaffung von Verantwortungsrollen für möglichst alle zielende und hierbei von Dezentralisierungs-, Delegations- und Netzwerklösungen Gebrauch machende sozialorganisatorische Reforminitiative erforderlich, mit der das Leitbild des "mündigen", zur Eigenverantwortung fähigen Mitglieds der "Bürger- oder Zivilgesellschaft" von der Ebene der Reformprogrammatik und -rhetorik auf die Ebene der realen Gestaltung übertragen wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. So betrachteten im Speyerer Werte- und Engagementsurvey 1997 85 Prozent der ca. 3 000 von Infratest Burke repräsentativ befragten erwachsenen Deutschen den "Egoismus zwischen den Menschen" als wichtiges gesellschaftliches Problem. 76 Prozent meinten, dass in Deutschland "viele Menschen auf Kosten anderer zu leben versuchen", und weitere 76 Prozent, dass "heute nur Macht und Geld zählen". 46 Prozent vertraten sogar die resignierende Meinung, dass man "nur Nachteile" hätte, wenn man "anderen Menschen hilft".

  2. Der Freiwilligensurvey wurde von Anfang Mai bis Ende Juli 1999 durch Infratest Burke im Rahmen des "Projektverbunds Ehrenamt" bei einer repräsentativen Stichprobe von ca. 15 000 deutschsprachigen Befragten ab 14 Jahren durchgeführt. Vgl. Bernhard von Rosenbladt (Hrsg.), Freiwilliges Engagement in Deutschland. Ergebnisse der Repräsentativerhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement in Deutschland, Bonn 2000; Hans-Joachim Braun/Helmut Klages (Hrsg.), Zugangswege zum freiwilligen Engagement und Engagementpotenzial in den neuen und alten Bundesländern, Bonn 2000; Sybille Picot (Hrsg.), Freiwilliges Engagement in unterschiedlichen Lebenswelten, Bonn 2000.

  3. Vgl. Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt/M. 1985², S. 17 ff.

  4. Indikator für Selbstentfaltung war hierbei, inwieweit es den Befragten wichtig ist, "die eigene Phantasie und Kreativität" zu entwickeln. Es handelt sich also um eine "kultivierte" Form der Selbstentfaltung, die mit Toleranz und einem allgemeinem Engagementbedürfnis der Person einhergeht.

  5. Vgl. ebd.

  6. Ergebnisse dieses Surveys wurden in dieser Zeitschrift bereits vorgestellt. Vgl. Thomas Gensicke, Sind die Deutschen reformscheu? Potenziale der Eigenverantwortung in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 18/98, S. 19-30; vgl. weiter Helmut Klages, Engagement und Engagementpotenzial in Deutschland. Erkenntnisse der empirischen Forschung, in: ebd., B 38/98, S. 29-38.

  7. Es handelt sich hier um einen eher für Männer typischen Komplex, während prosoziale Werte stärker von Frauen vertreten werden. In diesem auch bei jungen Leuten auftretenden Geschlechterunterschied scheinen sich nach wie vor bestehende Rollenstereotypen auszudrücken.

  8. Vgl. hierzu Thomas Gensicke, Deutschland im Übergang. Lebensgefühl, Wertorientierungen, Bürgerengagement, Speyer 2000 (= Speyerer Forschungsberichte 204), S. 84.

  9. Deutliche Verstärkungen gab es dagegen bei Werten wie "Die eigene Phantasie und Kreativität entwickeln", "Sich bei Entscheidungen auch nach seinen Gefühlen richten" und "Fleißig und ehrgeizig sein". Von den "traditionellen" Werten scheint am ehesten die Leistungsorientierung so etwas wie eine kleine "Renaissance" zu erleben, was gut mit dem von uns analysierten Trend zur Wertesynthese passt.

  10. Vgl. H. Klages (Anm. 3), S. 164 ff.; ders., Wertedynamik. Über die Wandelbarkeit des Selbstverständlichen, Zürich 1988, S. 116 ff.

  11. Vgl. Gerhard Franz/Willi Herbert, Werttypen in der Bundesrepublik. Konventionalisten, Resignierte, Idealisten und Realisten, in: dies., Sozialpsychologie der Wohlfahrtsgesellschaft, Frankfurt/M. 1987, S. 40 ff.

  12. Wir haben in diesem Zusammenhang auch auf die rasante Ausbreitung des privaten und den Einbruch des öffentlichen Fernsehens in der jüngeren Zuschauerschaft als Katalysator dieser Entwicklung hingewiesen. Vgl. Thomas Gensicke, Wertewandel in den neunziger Jahren - Trends und Perspektiven, in: Norbert Seibert/Helmut J. Serve/Roswitha Terlinden (Hrsg.), Problemfelder der Schulpädagogik, Bad Heilbrunn 2000, S. 21-56.

  13. Vgl. hierzu Th. Gensicke (Anm. 8), S. 139 ff.

  14. Vgl. auch schon David McClelland, Die Leistungsgesellschaft, Stuttgart u. a. 1966, S. 290 ff.

  15. Vgl. G. Franz/W. Herbert (Anm. 11), S. 65 ff.

Dr. rer. pol, geb. 1930; em. Prof. der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Speyer; Mitbegründer des Zentrums Berlin für Zukunftsforschung e. V.

Anschrift: Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Postfach 1409, 67324 Speyer.
E-Mail: Klages@dhv-speyer.de

Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Joachim Braun) Freiwilliges Engagement in Deutschland, Bd. 2: Zugangswege und Engagementpotenzial in den neuen und alten Bundesländern, Stuttgart 2000.