Einleitung
Die Zeitgenossen haben das Jahr 1945 als eine "Stunde null" empfunden, eine wirkliche "Stunde null" hat es aber nicht gegeben. Die globale Systemauseinandersetzung führte in Deutschland schnell zu unterschiedlichsten Kontinuitäten in den einzelnen Besatzungszonen. Kontinuitätsbrüche standen neben Kontinuitätslinien. Eine Grundfrage war dabei der Umgang mit den alten Eliten und Funktionsträgern. Dieses Problem verschärfte sich in der SBZ noch dadurch, dass von Anfang an die sowjetische Besatzungsmacht und ihre deutschen Helfer strategisch und taktisch darauf orientiert waren, ein neues Gesellschaftsmodell zu errichten, das an die Sowjetunion angelehnt und den politischen Folgerungen aus der marxistisch-leninistischen Dogmenlehre verpflichtet war. Dieses als mittelfristig in den Blick genommene Ziel implizierte eine soziale und politische Revolutionierung der Gesellschaft. Dazu zählten die Ausbildung und Heranbildung neuer Führungskräfte für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.
Allgemein gingen die Kommunisten nach 1945 davon aus, dass die Intelligenz als "soziale Schicht" bislang in der deutschen Geschichte den Interessen des Kapitals und der kapitalistischen Herrschaftselite verpflichtet gewesen wäre, sodass sie für die neuen Aufgaben - entsprechend den sowjetischen Erfahrungen - nur bedingt brauchbar sei. Deshalb käme es darauf an, Mittel und Wege zu finden, um einerseits eine neue Intelligenz zu rekrutieren und andererseits die alte Intelligenz, wenn möglich, "zu nutzen" oder, wenn nicht möglich, auszuschalten. Das Hauptziel bestand darin, eine "sozialistische Intelligenz" heranzubilden. Etwa fünfzehn Jahre später, ein für die soziale und politische Revolutionierung einer ganzen Gesellschaft kurzer Zeitraum, waren sich die herrschenden Kommunisten in der DDR weitgehend einig, dass die "sozialistische" Intelligenz in der DDR überwiege und nur noch Rudimente der alten Intelligenz existierten
Um dieses Ziel zu erreichen, reformierten die Kommunisten in der SBZ/DDR das gesamte Hochschulwesen einschneidend. Dazu zählten u. a. die Nutzbarmachung der Entnazifizierung für eine weiter gehende Säuberung des Lehrkörpers; die Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen des Hochschulwesens; die Gründung neuer Hochschulen (Ideologie-"Hochschulen", Spezialhochschulen), die Implementierung neuer Struktureinheiten an den bestehenden Universitäten (Arbeiter- und Bauern-Fakultäten [ABF], Gesellschaftswissenschaftliche und Pädagogische Fakultäten); die Veränderung des gesamten Studienablaufs und die Einführung obligatorischer Politschulungen (gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium, Russisch-Unterricht); die Schließung von nichtgenehmen oder -erforderlichen Instituten und die Neueröffnung als notwendig erachteter Institute; die Etablierung der SED als Machtzentrum an den Universitäten und Hochschulen. Daneben wurden die Zulassungsbedingungen für Studierende entscheidend verändert, um vor allem Männer und Frauen aus bisher benachteiligten sozialen Schichten zuzulassen. Dies gelang allerdings nur in den Jahren bis etwa Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre, ehe dann wieder eine Selbstrekrutierung der Intelligenz einsetzte. Ebenso gelang es nicht, die Geschlechterzusammensetzung innerhalb der Studentenschaft oder gar in der Hochschullehrerschaft zu verändern.
Ihre Hochschulpolitik und ihre gesellschaftspolitischen Ziele versuchte die SED mittels "Zuckerbrot" und "Peitsche" durchzusetzen. Die Intelligenz in der DDR einschließlich der Studenten konnte eine gravierende soziale Besserstellung gegenüber den anderen Bevölkerungsteilen nutzen. Die Gehälter, die teilweise ins Exorbitante stiegen, die Sozialleistungen, die Wohn- und allgemeinen Lebensverhältnisse und die Urlaubsmöglichkeiten versüßten der Intelligenz bis zum Mauerbau das Leben in der DDR. Zugleich sollte sie dadurch kompromittiert und zum Dienen am Kommunismus ermuntert werden. Um dies zu erzielen, wurde zugleich der gesamte Hochschulalltag einem rigiden Ideologisierungsprozess unterworfen, dessen krasseste Form die Militarisierung der Hochschulen darstellte.
Gegen diese Anmaßungen wehrten sich stets Hochschullehrer und Studenten. Der Protest reichte von gesellschaftlicher Verweigerung über soziales Aufbegehren bis hin zu tausendfachem politischem Widerstand und gelegentlichen Massenprotesten
War es der SED aber nun ungeachtet der politischen, strukturellen und personellen Veränderungen gelungen, die Hochschulen auch von innen zu erobern? Wie verhielt sich die Masse der Studierenden und der Hochschullehrer gegenüber dem SED-Staat? Um auf diese Fragen Antworten geben zu können, wird im Folgenden das Verhalten der Hochschullehrer und der Studierenden in einigen Krisen des DDR-Kommunismus (1953, 1956, 1961) analysiert. Dieser vergleichenden Betrachtung liegt die Annahme zugrunde, dass sich das Verhalten von sozialen Gruppen in einer Spannungssituation, zumal in einer Diktatur, am ehesten als Indikator und Gradmesser für die Stellung zur Gesellschaft und zum Staat eignet. Ein hohes Maß an Loyalität in einer Krisensituation deutet demzufolge darauf hin, dass die Distanz zum Staat relativ gering ist, während ein Aufbegehren, und sei es nur ein bloßes widerständiges Mittun, mindestens eine innere Distanz offenbart.
Das Jahr 1953
Die Intelligenz und die Studierenden lassen sich nach ihrem Verhalten während der Volkserhebung im Juni 1953 in drei Gruppen einteilen:
1. Gruppe: Sie verhielt sich abwartend, freute sich über die Rechnung, die die Regierung präsentiert bekam, verhielt sich jedoch weitgehend passiv, nahm nur zögerlich an Demonstrationen und Streiks teil. Oftmals ging sie einfach nach Hause. Sie enthielt sich jeglicher politischer Erklärungen. Das war die größte Gruppe.
2. Gruppe: Sie beteiligte sich bewusst politisch an der "gescheiterten Revolution" und war zum Teil führend in Streikleitungen aktiv. Diese aktive Rolle ist umso bemerkenswerter, als überall Arbeiter auch gegen die Privilegien der Intelligenz protestierten.
3. Gruppe: Das war die gesellschaftskonforme, die neue Intelligenz, die an eine Inszenierung der westdeutschen Faschisten und ihrer ostdeutschen Agenten glaubte. Die Vertreter dieser Gruppe gingen zu Propagandaeinsätzen auf die Straße, unterstützten die Kasernierte Volkspolizei (KVP), betätigten sich als Streikbrecher und versuchten, auf die Demonstrierenden und Streikenden im Sinne der SED-Führung Einfluss auszuüben. Sie war die kleinste Gruppe
Nach dem 17. Juni gab es gerade dort scharfe Auseinandersetzungen, wo während der Volkserhebung wenig gegen das SED-Regime unternommen worden war: an den Universitäten und Hochschulen. Die meisten Auseinandersetzungen trugen innerparteilichen Charakter, weil die SED die wichtigste Aufgabe "auf dem Gebiete der weiteren Festigung der Einheit und Geschlossenheit ihrer Reihen" sah
Am 31. Oktober und 1. November 1953 führte die ZK-Abteilung "Wissenschaft und Hochschulen" in Leipzig eine Hochschulkonferenz durch. Das Ziel bestand darin, ein vorläufiges Fazit "aus den Lehren des 17. Juni" für die Universitäten zu ziehen sowie die künftigen Aufgaben "bei der Vorbereitung des IV. Parteitages der SED", der vom 30. März bis 6. April 1954 stattfinden sollte, zu benennen. Das Hauptreferat hielt Kurt Hager. Er betonte, dass der 17. Juni bewiesen habe, "dass die Mehrheit der Professoren, Studenten, Arbeiter und Angestellten der Akademien, der Universitäten und Hochschulen fest zur DDR steht und die Leistungen der Partei und Regierung für die Förderung der Wissenschaft anerkennt"
Das "reinigende Gewitter" bedeutete für einige Studenten, Assistenten und Professoren Verhaftung, Entlassung bzw. Exmatrikulation. Solche drastischen Strafen waren als abschreckende Maßnahmen gedacht. In der Regel verhielten sich die Studierenden und die Angehörigen der Universitätsintelligenz nicht nur während, sondern auch nach der Volkserhebung abwartend. Die nach der 15. Tagung des ZK der SED initiierten innerparteilichen Auseinandersetzungen waren nötig, um die Macht des SED-Politbüros und die von Walter Ulbricht zu sichern und auszubauen. An der Humboldt-Universität zu Berlin zum Beispiel wurden infolge des 17. Juni sechzig Genossen aus der SED ausgeschlossen, zwölf von der Kandidatenliste gestrichen, je sechzehn erhielten eine strenge Rüge bzw. eine Rüge und fünf eine Verwarnung.
Das Jahr 1956
Es existierte innerhalb des größten Teils der Intelligenz ein Konsens, den Ernst Bloch kurz nach den Ereignissen vom 17. Juni 1953 formuliert und der SED-Führung kundgetan hatte: "Insgesamt also müsste der Sozialismus mehr als bisher zum Herzen der Menschen sprechen, müsste lebhafter als bisher in ihre Phantasie greifen und viel gründlicher in ihren arbeitenden, arbeitenwollenden Verstand."
Drei Jahre später, die Machthaber hatten sich von dem Schock von 1953 gerade erholt, stürzte Nikita Chruschtschow Josef Stalin vom Sockel. Der berühmten Geheimrede Chruschtschows vom Februar 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU folgte eine tiefe Krise des Weltkommunismus. Die ohnehin schwache Basis der kommunistischen Parteien in der Bevölkerung Ost- und Ostmitteleuropas einschließlich der DDR schwand unter dem Eindruck der Offenbarungen des XX. Parteitages der KPdSU noch weiter. Vor allem die polnische und die ungarische Bevölkerung nutzten 1956 die Führungskrise in der kommunistischen Weltbewegung und in ihren nationalen Regierungen und erhoben sich gegen die Diktatoren. Die blutige Niederschlagung der ungarischen Revolution im November 1956 durch die sowjetischen Truppen führte vor Augen, dass die Moskauer Kommunisten keine Satelliten kampflos aus ihrem Machtbereich entließen.
Seit dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 und vor allem seit den Unruhen in Polen und Ungarn im Oktober/November 1956 war es an den Hochschulen und Universitäten in der DDR zu vielfältigen Protesten gegen das SED-Regime und zu Solidaritätskundgebungen für die ungarischen Aufständischen gekommen. In der Logik der herrschenden Kommunisten konnten für diese Unruhen nur ausländische, westliche Mächte verantwortlich sein. So, wie die ungarische Revolution angeblich von "imperialistischen Kreisen" organisiert worden war, konnten auch die Proteste an den DDR-Hochschulen nach Meinung der SED-Führung nur von westlichen Geheimdiensten inspiriert worden sein. Allerdings bemühten sich die SED und ihr MfS seit Herbst 1956 vergeblich, Beweise dafür zu ermitteln.
Obwohl es in der DDR im Gegensatz zu Ungarn oder Polen auf den Straßen weitgehend ruhig blieb, war die Stimmung im ganzen Land auf einem Tiefpunkt angelangt. Es kam überall zu heftigen Diskussionen, es bildete sich eine innerparteiliche Opposition, der ohnehin bestehende Widerstand gegen die SED verstärkte sich. Die SED-Führung befand sich in einer desolaten Lage. Am meisten bereiteten ihr die Vorgänge und Diskussionen an den Universitäten und Hochschulen Probleme. Diese Institutionen waren von ihr als Kaderschmieden aufgebaut worden. Gerade aber das Jahr 1956 zeigte, dass der Neukonstituierungsprozess noch lange nicht so weit gediehen war, wie sie es sich wünschte.
Vor allem an den ideologisch geprägten Fakultäten riefen nach dem XX. Parteitag häufig Genossen trotzig: "Ich lasse nicht von Stalin!"
Die Verunsicherung selbst hochrangiger Funktionäre wie Otto Grotewohl zeigte sich in einer Diskussionsrunde Ende April 1956 in der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Ministerpräsident sprach unter anderem davon, dass "wir als Sozialdemokraten" uns darüber im Klaren sein müssten, dass es das Recht der Sowjetmacht gewesen war, innere und äußere Feinde niederzuschlagen
In den Semesterferien beruhigte sich die Lage an den Hochschulen nur scheinbar. Das war weder der SED- noch der MfS-Führung verborgen geblieben. Nach Beginn des neuen Studienjahres spitzte sich die Situation an den Universitäten rapide zu. Eine MfS-Information vom 28. Oktober 1956 fasste präzise zusammen: "Aus fast allen deutschen (sic!) Hochschulen zeigen sich Versuche der Studenten - teilweise unterstützt durch Professoren -, die Auseinandersetzungen in den Volksrepubliken Polen und Ungarn für Forderungen an die Führung der SED und an den Staat auszunutzen. In Versammlungen, Diskussionen und vereinzelt auch in Resolutionen und Schreiben wird - oft im Einverständnis mit den FDJ-Leitungen - verlangt: ,Änderung im Hochschulbetrieb, nämlich vor allem Gründung einer unabhängigen Studentenorganisation, Auflösung der FDJ-Hochschulgruppen, Abschaffung des obligatorischen gesellschaftlichen Grundstudiums und des Unterrichts in der russischen Sprache.' Heftige Angriffe richten sich besonders gegen die Berichterstattung der demokratischen Presse und die Beschlagnahme der ,BZ am Abend' mit der Gomu|lka-Rede. Die Mehrzahl der Studenten - auch die Mitglieder der SED - orientiert sich nach der Westpresse und vor allem nach den Meldungen des RIAS. Die Hochschulleitungen der SED und FDJ sind nur selten in der Lage, der feindlichen Argumentation entgegenzuwirken. Wie nach dem XX. Parteitag der KPdSU verstärken sich die Äußerungen gegen das Führungskollektiv der SED, besonders gegen W. Ulbricht, dessen Rücktritt wiederholt gefordert wird. Im Zusammenhang berichtet, richten sich diese Strömungen gegen die führende Rolle der SED und den Aufbau des Sozialismus in der DDR, was besonders durch die ,Unabhängigkeitsbestrebungen', die oft versteckt geforderte ,Meinungs- und Pressefreiheit' und vereinzelt durch offene Agitationen gegen die Sowjet-Union und den sozialistischen Aufbau deutlich wird."
Am 23. Oktober 1956 ordnete die ZK-Abteilung Wissenschaft und Propaganda an, dass sie täglich über alle Vorgänge an den Hochschulen und Universitäten unterrichtet werden müsse. Es wurde ein Operativstab gebildet und außerdem eine tägliche Verbindung zu den entsprechenden Abteilungen im MfS aufgebaut. Dieses reagierte am 3. November 1956 mit der Richtlinie "über die Abwehr feindlicher Tätigkeit gegen die Universitäten und Hochschulen". Darin wurde insbesondere beklagt, dass die bisherige operative Arbeit vollkommen ungenügend gewesen und es dringend vonnöten sei, dass das Netz der Geheimen Informatoren und der Geheimen Hauptinformatoren an den Universitäten ausgebaut werde. Diese Maßnahmen verhinderten jedoch nicht, dass die Situation an den Hochschulen Ende Oktober/Anfang November 1956 zu eskalieren drohte. In einer MfS-Analyse vom 2. November 1956 heißt es: "So ist auch an den Universitäten der DDR, insbesondere aber in der Humboldt-Universität Berlin zu verzeichnen, dass bestimmte Personen außerhalb der Universität, aber auch Personen in der Universität denken, ihre Zeit sei gekommen, auch hier umstürzlerische Tätigkeiten oder Umtriebe zu entwickeln. Der Gegner versucht hier, bestimmte Forderungen der Studenten für seine Zwecke auszunutzen, auszuweiten, um sie gegen Partei und Regierung zu hetzen."
Spätestens vom 25. Oktober 1956 an kursierten an den Hochschulen Unterschriftenlisten, in die sich jene eintragen sollten, die für die Abschaffung des Russischunterrichtes oder des gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudiums votierten. In den Seminargruppen, in denen solche Listen umgingen, sprachen sich zwischen fünfzig und neunzig Prozent der Studenten für die Abschaffung aus. Das geschah nicht selten in kurzfristig einberufenen Versammlungen, sodass sogar am 31. Oktober 1956 zwei Hundertschaften der Kampfgruppen zusammengezogen wurden, um eventuelle Demonstrationen der Studenten niederknüppeln zu können. In den meisten Fakultäten und Instituten kam es zu Unruhen, Protesten, Forderungen und heftigen Diskussionen, wobei der Oppositionsgeist an der Veterinärmedizinischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin am deutlichsten ausgeprägt war
An allen Hochschulen forderten die Studenten die Abschaffung des Russischunterrichtes und des gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudiums, er-weiterte Möglichkeiten des Studentenaustausches in Gesamtdeutschland, die Beschneidung der Rechte der FDJ und die Zulassung einer unabhängigen Studentenvertretung. Diese Forderungen brachten die SED-Führung in Handlungsnöte. Professoren wie Robert Havemann, der selbst in die ideologische Schusslinie geraten war, warnten: "Wir dürfen jetzt nichts tun, was den Gegner ermutigt. . . . der Feind gibt keine Ruhe. Wir dürfen die vorhandenen Organisationen nicht auflösen, sondern [müssen] sie stärken."
Die SED-Führung unter Ulbricht war ab Ende November 1956 zum Gegenangriff übergegangen und hatte mit zahlreichen Verhaftungen begonnen, ihre Parteibasis zu disziplinieren. Im Oktober 1957 trafen sich die Mitglieder des SED-Zentralkomitees zu ihrer 33. Tagung, um erneut über das lange stürmische Jahr 1956 "zu beraten", das an den Universitäten und Hochschulen erst mit der III. Hochschulkonferenz 1958 einen vorläufigen Abschluss fand. Auch die Entmachtung von Karl Schirdewan und Ernst Wollweber, die im Februar 1958 wegen "Fraktionstätigkeit" aus dem ZK ausgeschlossen wurden, hing eng mit den Vorgängen von 1956 zusammen. Das 33. ZK-Plenum bedeutete einen Höhepunkt in der Auseinandersetzung mit Abweichlern, Revisionisten und Oppositionellen.
Am 26. März 1957 hatte das Politbüro der SED in einer turnusmäßigen Sitzung eine Vorlage der Zentralen Parteikontrollkommission verabschiedet. Dieser Beschluss beauftragte das MfS, eine Analyse über die "konterrevolutionäre Gruppe" Harich vorzulegen. Diese fast neunzig Seiten umfassende "Analyse" erhielten die Mitglieder und Kandidaten des ZK der SED ein halbes Jahr später in Vorbereitung der 33. ZK-Tagung, die vom 16. bis 18. Oktober 1957 stattfand. Das Dokument belegt eindrucksvoll die "ideologische Diversion" kritischer Intelligenzler 1956/57. Zugleich zeigt es, wie schnell Personen für geringfügige Vergehen oder Abweichungen geächtet oder verfolgt werden konnten. Schließlich wird deutlich, dass Wolfgang Harich und Walter Janka, ihre Aktivitäten und ihre Verfolgung, 1956/57 tatsächlich nur die Spitze eines großen Eisberges bildeten
Anders als noch im Sommer 1953 gingen die Unruhen 1956/57 nicht nur vorrangig von Hochschullehrern und Studenten aus, sondern zudem noch von solchen Hochschulangehörigen, die entweder Mitglieder der SED waren oder aber kommunistischen Ideen nahe standen. Im Kern ging es um Versuche, die DDR zu demokratisieren, allgemeinen Menschenrechten zur Anerkennung zu verhelfen, letztlich die DDR so zu reformieren, dass sie zu einer Wiedervereinigung Deutschlands auf gleichberechtigter, demokratischer Grundlage fähig sein würde, ohne dass dies einem bloßen Anschluss an Westdeutschland gleichkäme. Allerdings blieb es zumeist bei Debatten um einen solchen "dritten Weg". Nur in Ausnahmefällen äußerte sich an den Hochschulen konspirativer Widerstand. Ein typisches Beispiel ist von der Technischen Hochschule für Chemie in Halle-Merseburg überliefert, wo vier Studenten Flugblätter herstellten und verbreiteten. Im Dezember 1956 erfolgte ihre Verhaftung und im März 1957 die Verurteilung zu Zuchthausstrafen zwischen zehn Monaten und drei Jahren.
In einer älteren Arbeit ist einmal die These vertreten worden, dass der 17. Juni 1953 den "17. Juni der Intelligenz" von 1956/57 eingeleitet habe
Das Jahr 1961
Nach dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 bemühte sich die SED-Führung, die Auseinandersetzungen um "revisionistische und objektivistische Tendenzen" zu beenden. Jetzt kam der Entwicklung eines "sozialistischen Bewußtseins" und dem forcierten "Aufbau des Sozialismus" im Zusammenhang mit der "nationalen Grundkonzeption" eine besondere Bedeutung zu. Bis 1961 sollte die DDR die Bundesrepublik "erreichen und übertreffen". Dazu bedurfte es nicht nur ökonomischer und politischer Anstrengungen, sondern ebenso ideologischer Eingriffe, um ein "neues Bewusstsein" bei den Menschen herauszubilden. Dieser "neue Mensch" sollte sich dadurch auszeichnen, dass er den Weisungen der Parteiführung unbedingt Folge leistet und die Wendungen der Politik kritiklos und ohne oppositionelles Aufbegehren mitträgt. Der Mauerbau war nicht nur eine Bewährungsprobe für den "neuen Menschen", sondern speziell für die Intelligenz.
In seinem Vorfeld verschlechterte sich die Stimmung beinahe stetig. Anfang August 1961 mobilisierte die SED ihre Parteigruppen an den Hochschulen. Ohne dass genau gesagt worden wäre, was geschehen wird, herrschte erhöhte Alarmbereitschaft. Unmittelbar nach dem 13. August war die Lage an den Hochschulen zunächst ruhig - es waren Semesterferien. Da parteiliche Kräfte an den Hochschulen zusammengezogen worden waren, überrascht es auch nicht, dass in den ersten Stimmungsberichten die Zustimmung zu den "Maßnahmen" überwog. Allerdings ist auch schon in dieser Zeit vielfach die Meinung vertreten worden, der Mauerbau sei einem bevorstehenden Zusammenbruch der DDR zuvorgekommen. Und "wenn die Regierung der DDR Panzer und Bajonette auffährt, dann bestätigt das, wie wenig Freiheit es gibt"
Die Intelligenz verhielt sich zurückhaltend und abwartend. Zwar waren kaum zustimmende Meinungsäußerungen zu vermelden, aber ebenso hielten sich direkt ablehnende in Grenzen. Vielerorts argwöhnten Intelligenzler, dass die sozialen Zugeständnisse nunmehr rückgängig gemacht würden, weil die Gefahr der "Republikflucht" weitgehend gebannt sei. Außerdem befürchteten viele, dass man nun endgültig vom internationalen Wissenschaftsbetrieb abgeschnitten sei und die Einheit der deutschen Wissenschaft, an die insbesondere im Osten noch viele glaubten, zerbreche. Ausgesprochen feindlich gegenüber der SED trat nur eine kleine Minderheit auf. Dies passte in den Gesamtkontext. Zwar sind bis zum 4. September 1961 insgesamt 6 041 Personen aus allen Bevölkerungskreisen verhaftet und davon 3 108 inhaftiert worden, zumeist wegen Hetze und Staatsverleumdung, aber es kam nicht zu mehr Streiks als in vergleichbaren Zeiträumen der Vorjahre. Obwohl nach dem Mauerbau die größte Verhaftungs- und Verurteilungswelle seit 1953 losbrach, sind die meisten "strafbaren Handlungen" Aktionen Einzelner gewesen, sodass im Gegensatz zu 1953 die allgemeine Lage relative Entspanntheit vermittelte. Die Erklärung für die relative Ruhe liegt auf der Hand: Die Bevölkerung hatte seit 1953 lernen müssen, ihre Ablehnung zu verbergen. Zustimmung zu ihrer Politik konnte die SED nicht erwarten, aber eine offene Rebellion brauchte sie angesichts des Waffenmonopols und der sowjetischen Panzer im Lande ebenfalls nicht zu befürchten. Die meisten Intelligenzler verhielten sich nicht anders als Arbeiter und Bauern.
Ab Ende August 1961 begann sich an den Hochschulen die Situation allmählich zu verschärfen. Die Berichterstatter notierten, dass zwar die meisten mit irgendwelchen Maßnahmen gerechnet hatten, aber kaum jemand den Bau einer Mauer mitten durch eine Stadt für möglich gehalten hatte. Immer häufiger artikulierten Hochschullehrer und Studenten, die DDR habe sich ins Unrecht gesetzt: "Man redet von Einheit, aber man zieht Stacheldraht."
Der Mauerbau zog an den Universitäten und Hochschulen kurzfristig zwei Konsequenzen nach sich. Zum einen flüchteten Hunderte Universitätsangehörige in den Westen, vom Professor bis zum Studenten und Angestellten. Allein an der Berliner Charité fehlten nach dem 13. August über fünfzig Ärzte, nahezu jeder zehnte der dort beschäftigten Ärzte. Das hing auch damit zusammen, dass gerade in Berlin eine Reihe Mediziner, Natur- und Agrarwissenschaftler noch immer im Westteil der Stadt wohnten. Im unmittelbaren zeitlichen Umfeld des 13. August 1961 flohen mehr Studenten und Wissenschaftler als in den Jahren 1959 oder 1960 insgesamt.
Die zweite kurzfristige Folge der Absperrmaßnahmen waren scharfe Auseinandersetzungen der SED mit einzelnen Personen, die sich kritisch gegenüber der kommunistischen Politik äußerten. An der Humboldt-Universität zu Berlin kam es nach dem 13. August 1961 zu 57 parteiinternen Verfahren. Die eigentlichen Auseinandersetzungen spielten sich jedoch zwischen SED-Leitungen und staatlichen Behörden (Staatssekretariat für Hochschulwesen [SfH], MfS) einerseits und Universitätsmitgliedern, die nicht der SED angehörten, andererseits ab. Es kam an allen Universitäten und Hochschulen zu Relegationen und Exmatrikulationen, allein an der Universität in Leipzig bis zum 22. September 1961 zu insgesamt 54. Die Gründe waren allesamt politischer Natur, weshalb einige der exmatrikulierten Studenten vom MfS verhaftet und verurteilt wurden. Im Zusammenhang mit dem Mauerbau erfolgten 227 Exmatrikulationen, wobei die höchsten Anteile auf Leipzig und Berlin entfielen. Es gab darüber hinaus fast doppelt so viele Disziplinarverfahren. Bis Anfang Januar 1962 sind wegen oppositioneller Handlungen gegen den Mauerbau mindestens 30 Studenten und Studentinnen verhaftet und verurteilt worden. An der Humboldt-Universität betraf das bis zum 11. September 1961 allein mindestens 15 Studierende.
Der wichtigste Anlass für heftige Diskussionen an den Universitäten war neben dem Mauerbau die forcierte Militarisierung und die Einführung der Wehrpflicht. Nach anfänglichem Zögern der Studierenden konnte schon bald gemeldet werden, dass rund neunzig Prozent der Studenten den Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee (NVA) ableisten würden. Die Berichterstatter räumten ein, dass die hohen Prozentzahlen "nicht darüber hinwegtäuschen [dürften], dass bei vielen Studenten noch erhebliche Unklarheiten bestehen"
1961 gab es im Gegensatz zu 1953 oder 1956/57 kaum graduelle Unterschiede im Verhalten zwischen den einzelnen sozialen Gruppen und Schichten, die Ablehnung des Mauerbaus war allgemeiner Natur. An den Universitäten existierten aus zwei verschiedenen Gründen Unruheherde. Zum einen sollte die studentische Jugend ihre ideologische "Feuertaufe" bestehen, indem sie sich als "Avantgarde" an der weiteren Militarisierung der Gesellschaft beteiligte - eine Vorgabe der SED-Führung, die trotz beachtlicher Widerstände weitgehend und schnell umgesetzt wurde. Zum anderen erfolgten eine Reihe politischer Auseinandersetzungen mit Hochschullehrern, die durch den Bau der Mauer ihre wissenschaftliche Arbeit bedroht sahen. Vor allem Naturwissenschaftler, Human- und Veterinärmediziner befürchteten, in Zukunft vom westdeutschen und internationalen Wissenschaftsbetrieb vollends isoliert zu werden. Weil der Mauerbau die Arbeitsbedingungen der Wissenschaftler in einem höheren Maße als die der Arbeiter beeinträchtigte, kam es nach dem 13. August 1961 an den Universitäten teilweise zu schärferen Auseinandersetzungen als in den Betrieben. In Jena etwa flüchtete nach jahrelangen Auseinandersetzungen der angesehene Mathematiker Walter Brödel noch nach dem Mauerbau in den Westen. An der Universität waren beinahe einhundert Agitatoren eingesetzt, um die Universitätsangehörigen über das "schändliche Treiben" von Brödel aufzuklären. Dazu kamen Zeitungsartikel, Flugblätter und die obligatorischen Stellungnahmen, auch aus Großbetrieben Jenas. Die Historiker der Universität forderten pflichtgemäß, "Prof. Brödel jede Möglichkeit zu entziehen, an unserer Universität weiterhin gegen unsere gemeinsamen Aufgaben und Ziele zu wirken"
Zum Ende des Jahres 1961 spitzte sich die Lage an einigen Hochschulen sogar noch zu. Offenbar hatten die Studenten und Hochschullehrer nicht nur den ersten Schock des Mauerbaus überwunden, sondern sich allmählich auch von der Illusion gelöst, dass die Mauer nur eine Angelegenheit von wenigen Wochen darstelle. Ein Unruheherd war abermals die Humboldt-Universität zu Berlin. Im März 1962 schätzte der Sekretär der Parteileitung, Werner Tzschoppe, ein, dass sich "bei grossen Teilen der Intelligenz und bei den Studenten" die Lage "verhärtet" habe; "es gibt eine Flut von Provokationen und anderen ernsten Erscheinungen"
Neben den vereinzelten Protesten und dem mehrheitlichen Schweigen der Intelligenz artikulierte sich aber in weitaus umfangreicherem Maße als 1953 oder 1956/57 offene Zustimmung zum Mauerbau und zur SED-Politik. Dafür existieren Beispiele aus allen Hochschulen, Fakultäten und Instituten. Besonders einhellig äußerten sich die Gesellschaftswissenschaftler, wobei als Beispiel auf die Historiker verwiesen wird. Denn im Gegensatz zu den medizinischen, veterinärmedizinischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten, an denen "in breitem Umfang Unverständnis für die Maßnahmen vom 13. August" herrschte
Insgesamt nahmen nach 1953 die offenen oppositionellen Aktivitäten ab. Das Jahr 1956 stellte eine Ausnahme dar, wenngleich berücksichtigt werden muss, dass sich diese Opposition mehrheitlich nicht wie 1953 und 1961 gegen das System stellte, sondern eher systeminterne Veränderungen anstrebte. Gleichwohl war der Logik des Systems entsprechend die Opposition aus den Reihen der Intelligenz objektiv für das System 1956/57 am gefährlichsten, weil sich in dieser Opposition besonders viele Parteigänger und SED-Mitglieder befanden. Konnte die SED den "bürgerlichen Gegner" offen und rücksichtslos bekämpfen und verfolgen, so geriet sie bei der Verfolgung von Opponenten aus ihren eigenen Reihen in Argumentationsnöte, die sie durch die Abstrafung einiger führender Funktionäre zu kaschieren suchte. Die Mauer brachte die SED dann jedoch in eine exklusive Lage: Sie brauchte nonkonforme Meinungen nicht mehr zu dulden, der Weg in den Westen war versperrt. Die Bevölkerung und die Intelligenz verstanden das und beugten sich mehrheitlich. Der Trend, dass aus den Reihen der Intelligenz, der Studentenschaft und auch aus der SED selbst heraus immer weniger Opposition betrieben wurde, setzte sich im nächsten Krisenjahr, 1968, fort
Doch während 1968 an den Universitäten und Hochschulen immerhin auch Studierende und Hochschullehrer für einen "demokratischen Sozialismus" eintraten, die Invasion der Warschauer Pakt-Staaten scharf verurteilten und dafür hart bestraft worden sind