I. Die Aufbau- und Rekonstruktionsphase 1945 bis 1951
In diesem Beitrag sollen speziell die Determinanten und Merkmale des bestimmenden Wissenschaftsverständnisses in der SBZ/DDR erörtert werden
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1. Überwiegende Autonomie der Wissenschaften
In der Aufbau- und Rekonstruktionsphase kann durchaus noch von einem diskursiven Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik gesprochen werden, wenngleich es sich dabei nicht um eine Diskursgemeinschaft von Gleichberechtigten und Chancengleichen handelte. Die Politik trat allenfalls punktuell als direkter Weisungsgeber der Wissenschaft in Erscheinung. Verbindliche normative Vorgaben an die Wissenschaft waren in den ersten Jahren nicht zu erkennen. Formal und auch in weiten Teilen inhaltlich verlief der Wissenschaftsbetrieb in weitgehend traditionellen Bahnen. Nicht nur an den Universitäten und Hochschulen, auch an den Forschungsinstituten der Akademien fand Wissenschaft institutionell in den Jahren bis 1951/52 überwiegend im Rahmen alter Forschungsstrukturen statt. Wissenschaftliche Arbeitsweisen, Tätigkeitsmerkmale und Normen blieben vorerst unangetastet.
Die wissenschaftspolitischen Lenkungseinrichtungen im politisch-administrativen System (Parteiapparat, Hochschulausschuss, Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung, Deutsche Wirt-schaftskommission, Länderministerien für Volksbildung) versuchten zunächst, Wissenschaft in sich wandelnde gesellschaftspolitische Strukturen (Wirtschaftsplanung, Bildung und Kultur) einzubinden. Die am Anfang zur Verfügung stehenden Instanzen ließen sich lediglich für indirekte Anleitungsmechanismen einsetzen. Für Wissenschafts- und Hochschulpolitik existierte zunächst ein vergleichsweise kleiner bürokratischer Apparat, der sich im Laufe der Zeit allerdings rasch erweiterte.
Das Fehlen externer Funktionszuweisungen und effektiver politischer Steuerungsinstrumente war vor allem der Tatsache geschuldet, dass die politischen Entscheidungsträger 1945/46 über kein stringentes wissenschaftspolitisches Konzept verfügten. Das politische Verständnis von Wissenschaft pendelte zwischen einer auch ideologisch fundierten Wissenschaftsgläubigkeit und einem eher politisch motivierten Misstrauen gegenüber den Trägern bürgerlicher Wissenschaft
Zugleich trat Wissenschaftspolitik als Förderpolitik in Erscheinung: durch materielle Privilegierung von Wissenschaftlern sowie durch finanzielle Unterstützung bzw. Wiedereröffnung und Neugründung wissenschaftlicher Institutionen
2. Ansätze zu einem marxistischen Wissenschaftsverständnis
Das Wissenschaftsverständnis der leitenden Funktionäre im Parteiapparat und in den Länderverwaltungen beruhte auf der Überzeugung, mit dem "konsequenten Marxismus"
Marxismus als Wissenschaft bedeutete in erster Linie, durch die über den dialektischen und historischen Materialismus gewonnenen Erkenntnisse über Einsichten in die Gesetzmäßigkeit historischer Abläufe und damit über ein politisch nutzbares Instrumentarium zur Etablierung des Sozialismus zu verfügen. In den ersten Nachkriegsjahren bezog sich das Verständnis vom Marxismus als eine Wissenschaft, die "richtiges" politisches Handeln ermöglicht, insbesondere auf die politische Programmatik der SED. Vom Primat des Marxismus in der Wissenschaft bzw. von verbindlicher Methodologie war in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre noch nicht die Rede. Erst im Verlaufe der fünfziger Jahre erhob die SED-Führung den Anspruch, selbst die oberste wissenschaftliche Instanz in grundlegenden theoretischen Fragen zu sein, durch Parteibeschlüsse den Marxismus-Leninismus als allein gültige Theorie zu interpretieren.
Der von SED-Funktionären frühzeitig artikulierte Anspruch, ein gänzlich neues Geschichtsbild zu entwickeln, wurde als eine Möglichkeit gesehen, theoretische Grundlagen der marxistischen Ideologie und Methode zu propagieren und im Theoriegebäude der Wissenschaften einen anerkannten Platz zu verschaffen. In der Geschichtswissenschaft begann exemplarisch die Überprüfung bisheriger Wissensbestände, ihre Aktualisierung und ihre Neuerarbeitung, in erster Linie des Wissens über Geschichtsziele und gesellschaftliche Bewegungsgesetze
Im Allgemeinen waren bei den für die Wissenschaft verantwortlichen SED-Führern hinsichtlich der Forschung zunächst noch Spuren eines "bürgerlichen" Wissenschaftsverständnisses sichtbar. Das schloss die pragmatische Duldung einer relativen Autonomie der wissenschaftlichen Forschung und des Pluralismus als Bestandteil wissenschaftlicher Auseinandersetzung ein. Das trifft in erster Linie auf den Bereich der Naturwissenschaften, aber für die ersten Jahre auch auf weite Teile der Gesellschaftswissenschaften zu. Sobald sich aber wissenschaftspolitische Diskussions- und Beratungsgremien zu institutionalisieren begannen - beispielsweise der im Mai 1947 konstituierte "Ausschuss für Hochschulfragen beim Zentralsekretariat der SED" -, wuchs das Risiko bei der Äußerung unorthodoxer Ansichten. Innerparteiliche Repression gegen "Abweichler" in den Reihen von parteigebundenen Wissenschaftlern und politische Indoktrination nahmen seit 1948 deutlich zu.
Das Verständnis von Wissenschaft, wie es SED-Politiker in der ersten Phase artikulierten, war stets mit wissenschaftspolitischen Absichten gekoppelt. Entsprechend ihrem Führungsanspruch versuchte die SED zunächst über ihre Hochschulgruppen politischen Einfluss an den Universitäten und Hochschulen auszuüben. Das nur längerfristig zu realisierende Vorhaben zielte auf die Schaffung eines akademischen Wissenschaftsbetriebes, der von politisch loyalen bzw. parteigebundenen Professoren beherrscht wird und den Bedürfnissen eines zentral gelenkten Bildungs- und Wissenschaftssystems entspricht. Als erster Schritt hin zu dieser Perspektive galt es zunächst, die Rekrutierung des wissenschaftlichen Nachwuchses politisch und sozial zu steuern. Allerdings scheiterten die anfänglichen Versuche, den traditionellen Weg zur Hochschullehrerkarriere unter politische Kontrolle zu bringen, d. h., die beherrschende Stellung der alten Professorenschaft bei der Auswahl, Ausbildung sowie Prägung von Mentalitäten und Verhaltensnormen der nachwachsenden Generation zu brechen
Es kam den für Wissenschaft verantwortlichen SED-Funktionären zunächst darauf an, der marxistischen Gesellschaftswissenschaft, namentlich dem historischen und dialektischen Materialismus, einen respektablen Platz im ostdeutschen Wissenschaftsbetrieb zu verschaffen. Betrachtet man die dazu von Anton Ackermann und Fred Oelßner zu verschiedenen Anlässen intern und öffentlich gehaltenen Reden und Äußerungen, so zeugen diese von einem hohen Grad von Theoriegläubigkeit und sind von der Überzeugung durchdrungen, dass sich parallel zu den gesellschaftspolitischen Veränderungen und dem politischen Machtwechsel auch das politische Denken bzw. das - wie es hieß - gesellschaftliche Bewusstsein der Wissenschaftler im Sinne des Marxismus und des historischen Materialismus wandeln werde. Dabei spielte die Personalpolitik selbstverständlich eine herausragende Rolle. Man versuchte mit allen verfügbaren politischen Möglichkeiten - und mit vorerst mangelhaftem Erfolg -, marxistische bzw. der SED nahe stehende Gesellschaftswissenschaftler an den Universitäten, Hochschulen und wissenschaftlichen Instituten zu platzieren.
Die Parteispitze ließ sich in den vierziger Jahren wohl von der Annahme leiten, dass sich auch in den Naturwissenschaften die Marxisten dank ihrer überlegenen Weltanschauung früher oder später durchsetzen würden. Man nahm an, viele Naturwissenschaftler würden sich selbst zu Marxisten wandeln, wenn sie sich nur mit den "Klassikern" des Marxismus befassten. Ackermann vertrat diese Ansicht in einem Vortrag im Oktober 1948 in Leipzig, dem eine gewisse Schlüsselfunktion hinsichtlich des zu dieser Zeit dominierenden Wissenschaftsverständnisses zukommt. Da die "exakte Wissenschaft", so Ackermanns These, auf den Fundamenten des philosophischen Materialismus stehe und auf dieser Basis wissenschaftliche Experimente durchführe, sei der Weg zum dialektischen Materialismus nicht mehr weit. "Aus der Zeit, da Rom das Zentrum der zivilisierten Welt bildete, stammt die Redewendung: Alle Wege führen nach Rom. In unserer Zeit muß es heißen: Alle Wege der Wissenschaft führen zum dialektischen Materialismus."
Man ging also in den ersten Jahren sehr stark von der Annahme aus, die Ideologie des Marxismus-Leninismus würde sich im Streit der Denkansätze und Theorien durchsetzen. Tatsächlich spielte sich dieser Streit, bei dem die tradierten Regeln des Wissenschaftsbetriebes beachtet werden sollten, niemals in einem pluralen politischen Umfeld ab, sondern war von Anfang an durch normative politische Prämissen begrenzt. Obgleich "bürgerlichen" Wissenschaftlern vorerst weitgehende Autonomie in Forschung und Lehre eingeräumt wurde, gab es von der Politik definierte Bereiche oder gar Disziplinen, die als reaktionär galten und keinen Platz im Lehr- und Wissenschaftsbetrieb der Universitäten zu beanspruchen hatten. Das Fehlen eines politischen Pluralismus in Staat und Gesellschaft musste langfristig Auswirkungen auf alle Teilbereiche der Gesellschaft haben. Auch wenn die politische Durchdringung aller Bereiche nie vollständig gelang und der Ausbau des Herrschafts- und Verwaltungsapparates in den ersten Jahren noch in den Anfängen steckte, führte die Entwicklung in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre nicht zur Ausdifferenzierung in teilautonome Bereiche wie Politik und Wissenschaft, sondern tendenziell zur Entdifferenzierung der Institutionen
Der theoretische Grundsatz marxistisch-leninistischer Weltanschauung, dass Politik und Wissenschaft als dialektische Einheit zu verstehen seien, war in dieser Phase weder in den öffentlichen Verlautbarungen noch in internen Richtlinien zu erkennen. Die Frage, in welchem Maße sich Fragestellungen, Themen und Ergebnisse der Wissenschaften an den Bedürfnissen einer neuen gesellschaftspolitischen Ordnung auszurichten hätten, wurde nur ansatzweise diskutiert, so beispielsweise in Beratungsgremien der Deutschen Akademie der Wissenschaften oder auf Hochschulkonferenzen der SED. Die Partei war zunächst auf Leistungen der Wissenschaft aus Forschung, Beratung, Lehre und anderen Anwendungen angewiesen, die auch außerhalb ihrer weltanschaulichen Positionen liegen konnten. Diese Erwartung bestimmte bis Anfang der fünfziger Jahre weitgehend das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik. Das lag nicht in den noch wenig entwickelten theoretischen Ansprüchen, sondern hauptsächlich in den begrenzten praktischen Möglichkeiten zur Planung, Steuerung und Kontrolle von Wissenschaft begründet.
3. Wandlungen im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik
Ab 1948 begann sich das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik deutlich zu wandeln. Der nun von der SED offen proklamierte Führungsanspruch betraf auch den Wissenschaftssektor. Nachdem praktische Notlagen anfänglich kognitive Defizite überlagert hatten, begann sich die Politik unter dem Aspekt der Erhöhung der Leistungsfähigkeit der umstrukturierten Wirtschaft stärker für die naturwissenschaftliche und technikorientierte Forschung zu interessieren. Mit der Gründung der DDR standen - im Unterschied zu 1945/46 - staatliche Instrumente zur Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft zur Verfügung, die auch in wissenschaftspolitischer Hinsicht von Bedeutung waren. Die nicht nur intern artikulierte und dann auch realisierte Absicht, Wissenschaft steuerbar zu machen und auf politische und ökonomische Aufgaben auszurichten, markierte eine neue Qualität in der Politik.
Jetzt erhielten die Gesellschaftswissenschaften einen höheren politischen Stellenwert, der durch bildungspolitische Offensiven noch verstärkt wurde. Waren anfangs noch renommierte nichtmarxistische Gelehrte aktiviert worden, was zunächst ein Ausdruck des Wiederauflebens bildungsbürgerlicher Gelehrtenideale zu sein schien, setzte bald eine weltanschauliche Überprüfung speziell der Philosophen ein, die zur Vertreibung bürgerlicher Geisteswissenschaftler führte. Im Zuge dieser stets auch ideologisch motivierten kulturpolitischen Kampagnen mehrten sich die bewusst inszenierten Verdrängungsaktionen gegen bürgerliche Professoren in den Geisteswissenschaften, die zu Entlassungen und politisch gesteuerten Emeritierungen führten
Die wissenschaftspolitischen Zielsetzungen der SED konnten nur realisiert werden, wenn es gelang, die tradierte Funktionsweise des Hochschulwesens als Mechanismus der Selbstreproduktion des Bildungsbürgertums aufzubrechen. Der 1948/49 proklamierte "Sturm auf die Festung Wissenschaft" setzte allerdings äußerst zögernd ein, denn dem Aufbau einer marxistischen Wissenschaft fehlte das dafür notwendige Personal. Die geringe Zahl von Wissenschaftlern mit Hochschullehrerqualifikation, die der SED angehörten oder ihr nahe standen, machte es kaum möglich, eine personelle Erneuerung des Lehrkörpers in kurzer Frist herbeizuführen. Deshalb wurde der Weg über die soziale und politische Regulierung des Studienzugangs gewählt, um eine "neue Intelligenz" zu schaffen, in der sich ein gewandeltes Verhältnis zu Partei und Staat manifestieren sollte.
Die hierfür gegründeten Arbeiter- und -Bauern-Fakultäten stellten nicht nur eine bildungspolitische Institution dar, die bewusst die tradierten Strukturen des Bildungssystems durchbrachen
4. Die beginnende Politisierung der Wissenschaften
Seit Anfang der fünfziger Jahre änderte sich der gesellschaftliche Stellenwert der Wissenschaft, die nun nicht mehr lediglich als Bestandteil der Bildungs- und Kulturpolitik betrachtet wurde. Geisteswissenschaftliche Forschungen sollten in zunehmendem Maße auf die Herausbildung eines "neuen sozialistischen Bewusstseins" gerichtet sein. Dem entsprach auf der kognitiven Ebene, dass die systemischen Kategorien des Marxismus-Leninismus (Macht, Klassenkampf, Produktivkräfte etc.) nicht nur in der Parteipropaganda Anwendung fanden, sondern auch in die wissenschaftliche Debatte eingeführt wurden. Von den Naturwissenschaften erwartete die Parteiführung anders als bislang wissenschaftliche Beratungsleistungen in den drängenden Fragen der Wirtschaftspolitik und -planung. Zugleich fragte sie technisch relevantes Wissen für den Binnen- und Außenmarkt ab
Es zeichneten sich gravierende Änderungen und Wandlungen im Wissenschaftsverständnis jener Funktionäre ab, die im Parteiapparat und in den Ministerien wissenschaftspolitische Entscheidungen fällten. In dieser Hinsicht bildete eine theoretische Konferenz der SED vom Juni 1951 eine deutliche Zäsur, die unter dem bezeichnenden Thema stand: "Die Bedeutung der Arbeiten des Genossen Stalin ,Über den Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft' für die Entwicklung der Wissenschaften." Erstmals wurde hier die Forderung nach einem marxistischen Wissenschaftsbegriff erhoben und die Rolle der Wissenschaft für den Aufbau des Sozialismus in der DDR neu definiert. Jetzt trat die Ansicht stärker hervor - ohne jedoch das Verständnis von Wissenschaft gänzlich zu dominieren -, dass wissenschaftliche Tätigkeit im eigentlichen Sinne überhaupt nur auf dem Boden des Marxismus-Leninismus denkbar sei. So erklärte Fred Oelßner auf dieser Konferenz apodiktisch: "Der dialektische Materialismus, der von Marx und Engels begründet, von Lenin und Stalin weiterentwickelt wurde, ist die erste und einzige wissenschaftlich begründete Weltanschauung . . . Darum kann wirkliche Wissenschaft nur auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus gedeihen. Je gründlicher die Wissenschaftler dies verstehen, um so besser werden sie die Wissenschaft vorwärts bringen."
Das richtete sich insbesondere gegen die bürgerlichen Intellektuellen mit nonkonformen Lehrmeinungen an den Hochschulen, die im Rahmen der bislang betriebenen Intelligenzpolitik mit ihren Fachkenntnissen in den gesellschaftlichen Aufbau integriert werden sollten. Unter Aufkündigung bisher geltender bündnispolitischer Arrangements sollte das gesellschaftskritische und alternative Potenzial der bürgerlichen Wissenschaftler jetzt nicht nur begrenzt und beschränkt, sondern weitgehend ausgeschaltet werden. Zum Kriterium für die Beurteilung der Intellektuellen machte die SED zwar schon von Anfang an vorrangig die politische Gesinnung, nunmehr aber nicht allein politische Loyalität, sondern politisches Bekenntnis.
Mit der zwischen 1949 und 1951 inszenierten Kampagne gegen den "bürgerlichen Objektivismus und Kosmopolitismus" an den Universitäten verstärkten sich die Bemühungen, weltanschauliche Fragen zur Grundlage der Berufungspolitik in geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu machen. In der Folge verstärkter politischer Indoktrination, die auch die naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten zu spüren bekamen, nahm die Abwanderung zahlreicher Wissenschaftler deutlich zu, die wiederum durch Maßnahmen zur materiellen Besserstellung eingedämmt werden sollte.
II. Die Konsolidierungsphase 1952-1961
Im Zuge des "planmäßigen Aufbaus des Sozialismus" setzte eine organisierte Politisierung der Wissenschaften ein, das heißt deren Steuerung entsprechend politischen Zielsetzungen mit den Mitteln DDR-spezifischer Steuerungsmedien (verbindliche Ideologie, Autorität, politische Kampagnen und Kontrolle). Mit dem auf der SED-Parteikonferenz 1952 verkündeten Konzept des sozialistischen Aufbaus wurde die Wissenschaft erklärtes Objekt der Politik. Die Parteibürokratie artikulierte deutlich die Absicht, Wissenschaft auf politische und ökonomische Aufgaben auszurichten. Wissenschaft war nunmehr in die Systemauseinandersetzung integriert, was zugleich den Verlust der gesamtdeutschen Dimension der Wissenschaft mit sich brachte.
Im Laufe der fünfziger Jahre änderten sich als Konsequenz wissenschaftspolitischer Steuerungsprozesse das Selbstverständnis und die soziale Organisation der Wissenschaft. Bis Anfang der sechziger Jahre bildete sich hier ein neues, anderes Selbst- und Rollenverständnis heraus, das sich zunehmend deutlicher vom traditionellen bürgerlichen Wissenschaftsverständnis abhob. Es begann sich ein Problemlösungsdenken durchzusetzen, das sich stärker an den DDR-internen gesellschaftlichen Herausforderungen ausrichtete.
1. Neue Formen der Forschungsförderung und -entwicklung
Mit der beschleunigten Umsetzung des seit 1945 intendierten sowjetischen Sozialismusmodells begannen sich zunehmend die Mechanismen der Herrschaftssicherung auf die zentrale Wissenschaftssteuerung und -planung auszudehnen. Wissenschaftspolitik erhielt jetzt im politischen Kalkül der SED neben der Machtpolitik einen höheren, wenn auch vorerst noch nicht klar definierten Stellenwert.
Der erste Fünfjahrplan für die Jahre von 1951 bis 1955 sollte den Nachweis erbringen, dass Partei und Regierung in der Lage waren, für die Wissenschaft Probleme zu definieren und Lösungsstrategien zu planen. Das betraf in erster Linie die Naturwissenschaften. Hinsichtlich der Gesellschaftswissenschaften wurde am Beginn der fünfziger Jahre das kollektive, gesellschaftliche Orientierungswissen als Basis einer gesellschaftlichen Identität durch parteioffizielle Interpretationen der Theorie des Marxismus-Leninismus verbindlich vorgegeben
Die SED-Führung initiierte in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre also einen Kurswechsel, bei dem die Instrumentalisierung der Wissenschaft die Form einer technokratischen Macht- und Ordnungspolitik annahm. Die Institutionalisierung wissenschaftspolitischer Apparate sollte helfen, in den wissenschaftlichen Arbeitsprozess einzudringen und der Wissensverwertung politische Filter vorzuschalten
Im natur- und technikwissenschaftlichen Bereich bestimmte zunehmend die überragende Bedeutung der Wissenschaft als Ressource für die wirtschaftliche Entwicklung der DDR das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft. Bereits mit dem Zweijahrplan 1948/49 setzten Versuche ein, durch auftragsbezogene Forschung den Anwendungsbezug bestimmter Forschungsprojekte einzufordern. Nicht nur wissenschaftliche Institutionen, sondern auch Industrie und Wirtschaft sollten ein Mitspracherecht bei der Finanzierung von Wissenschaft erhalten. Für das Jahr 1950 wurde erstmals ein Forschungs- und Entwicklungsplan aufgestellt, der alle Forschungsthemen der Institute der Akademien und der Universitäten mit ihrem entsprechenden finanziellen Aufwand auflistete. Mit dem ersten Fünfjahrplan begannen Experimente zur längerfristigen Planung wissenschaftlicher Forschungen nach ökonomischen Erfordernissen. Über Wirtschaftspläne wurde ein Großteil der wissenschaftsrelevanten Problemstellungen bestimmt. Forschungspläne legten Themenfelder, Prioritäten und Relevanzkriterien fest. Damit dominierte nunmehr ein eindeutig dirigistisches Wissenschaftsverständnis in der Politik.
Das erklärte Ziel, das Wachstum der Wirtschaft mit wissenschaftlichen Forschungsarbeiten zu unterstützen, bedingte den materiellen und personellen Ausbau des Wissenschaftssektors. Im Ergebnis mehrerer Politbürobeschlüsse etablierten sich bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften viele neue Forschungsinstitute und es wurden wissenschaftliche Kommissionen und Laboratorien eingerichtet. Ferner gab es akademische Neugründungen nach sowjetischem Vorbild, so beispielsweise die Bauakademie 1950 und die Akademie der Landwirtschaftswissenschaften 1951. Aufgrund der Erweiterung von Forschungskapazitäten im außeruniversitären Bereich verlagerte sich das Schwergewicht der Forschung weitgehend auf die Institute der Akademien und Einrichtungen der Industrie.
Des Weiteren kam es im Hochschulsektor zu zahlreichen Neugründungen. Es setzte in der Folge eines Ministerratsbeschlusses vom August 1953 eine Gründungswelle ein, in deren Verlauf innerhalb weniger Jahre sieben Technische Hochschulen, sieben Pädagogische Institute mit Hochschulcharakter, drei Medizinische Akademien, drei Künstlerische Hochschulen, zwei Landwirtschaftliche Hochschulen und eine Wirtschaftshochschule entstanden. Die Abkehr vom herkömmlichen Universitätsmodell mit seinem breiten Spektrum naturwissenschaftlicher Fächer und die Hinwendung zur technischen Spezialisierung sollte eine zügige Ausbildung wissenschaftlich-technischer Fachkräfte bewirken. Tendenziell verstärkten sich die Bestrebungen, die Universitäten ausschließlich auf ihre Bildungs- und Ausbildungsfunktion festzulegen.
2. Die Etablierung neuer Steuerungsinstrumente
In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre nahmen Wissenschaft und insbesondere die Wissenschaftspolitik im strategischen Konzept der SED einen deutlich höheren Stellenwert ein. Dies schlug sich u. a. in der Institutionalisierung wissenschaftspolitischer Apparate nieder. Im Zentralkomitee entstand im Ergebnis einer Reorganisation des Parteiapparates 1957 eine eigenständige Abteilung für Wissenschaft, deren Kompetenzen nunmehr auch in die staatlichen Wissenschaftsapparate hineinreichte. Ihre Aufgabe war es, nicht nur wissenschaftspolitische Entscheidungen vorzubereiten, sondern das wissenschaftliche Management an den Universitäten und Akademien anzuleiten sowie darüber hinaus die Außenwissenschaftsbeziehungen zu verantworten. Für die Forschungsplanung der Natur- und Technikwissenschaften und der Industrieforschung wurden weitere staatliche Steuerungseinrichtungen gegründet. Zu dem bereits seit Anfang der fünfziger Jahre installierten Zentralamt für Forschung und Technik bei der Staatlichen Plankommission und dem 1955 gegründeten Amt des Ministerrates für Kernforschung und Kerntechnik kam 1961 das Staatssekretariat für Forschung und Technik. Einzelne Ministerien etablierten Wissenschaftliche Beiräte, die den beiderseitigen Transfer - wissenschaftliche Politikberatung und politische Beeinflussung der Wissenschaftler - sicherstellen sollten.
Damit wuchs zugleich die Mehrgleisigkeit bürokratischer Zuordnungen und Zuständigkeiten. Nicht nur unterschiedliche Ressorts des Parteiapparates, sondern auch verschiedene staatliche Behörden stellten hinsichtlich der erhofften wirtschaftspolitischen Effekte zum Teil gegensätzliche Forderungen an die Wissenschaftler. Das Kompetenzgerangel innerhalb administrativer Leitungsstrukturen - wissenschaftliche Institutionen hatten es in der Regel mit verschiedenen ZK-Sekretären und Staatssekretären zu tun - führte in nicht wenigen Fällen zu gegenteiligen Effekten, indem wichtige Investitionen aufgrund von Zuständigkeitsstreitereien blockiert wurden.
Als eine wichtige Institution im Überschneidungsbereich von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft wurde 1957 der Forschungsrat der DDR gegründet, dem die führenden Natur- und Technikwissenschaftler angehörten
Das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft sollte nach den Vorstellungen der SED-Führung auf ein anderes Niveau geführt werden. Das richtete sich jetzt auch an die Adresse der Naturwissenschaften. Im Juni 1956 legte die ZK-Abteilung Wissenschaft ein Programm zur Weiterentwicklung einzelner naturwissenschaftlicher Disziplinen vor, das eine bedeutende Erweiterung der Ausbildungs- und Forschungskapazitäten auf den Gebieten der Kernphysik und Kerntechnik vorsah
Die im Parteiapparat vorbereiteten Entscheidungen über die Entwicklung der Naturwissenschaften machten deutlich, dass nunmehr Fachabteilungen der SED und der Ministerien nahezu uneingeschränkt über die Zuweisung von Ressourcen und die Struktur der Forschung verfügten. Das Monopol über Ausbildung und Rekrutierung des wissenschaftlichen Personals wurde nicht nur für die Zusammensetzung des akademischen Lehrkörpers, sondern auch für die Personalplatzierung in außeruniversitären wissenschaftlichen Einrichtungen genutzt. Theoretische Konferenzen, Dozentenlehrgänge, wissenschaftliche Zeitschriften sowie das gesamte Kommunikations- und Publikationswesen transportierten nicht nur politische Vorgaben, sondern dienten auch dem Versuch, wissenschaftliche Erkenntnisprozesse direkt oder indirekt zu beeinflussen. Dabei übten die Parteigruppen an den Universitäten und Forschungsinstituten zunehmend eine Vermittlungsfunktion aus. Waren sie bislang angehalten, Stimmungsbilder unter Wissenschaftlern und Studenten an die Führung weiterzugeben, sollten sie jetzt auch Diskussionen über das wissenschaftliche Selbstverständnis einleiten, die von der Politik im Hinblick auf die Rolle der Wissenschaft im Prozess der gesamtgesellschaftlichen Umgestaltung für wesentlich gehalten wurden. Als Bezugspunkt dieses Anliegens diente die Diskussion über die Verantwortung des Wissenschaftlers in der Gesellschaft (Kernenergie).
Nachdem Ulbricht im Juli 1958 auf dem V. Parteitag der SED die Losung "Vorwärts im Kampf für den Sieg des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik" ausgegeben hatte, setzte der ZK-Apparat alles daran, die Umwandlung der Gesellschaftswissenschaften als Faktor zur Bildung sozialistischen Bewusstseins zu einem gewissen Abschluss zu bringen. Zum Komplex der verstärkten Steuerungsbemühungen gehörte vor allem der Versuch, wissenschaftliche Erkenntnisprozesse im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich direkt oder indirekt maßgeblich zu beeinflussen. Zu diesem Zweck wurde der Marxismus-Leninismus zur Wissenschaftstheorie erklärt. Als legitimatorischer Hintergrund dieser Ansprüche diente der Verweis auf die Notwendigkeit, Wissenschaft aus dem "Elfenbeinturm" heraus und in den Prozess der politischen und sozialen Umgestaltung zu führen. Dies galt es auf der Theorieebene abzusichern. Das SED-Politbüro sah nunmehr in der Philosophie eine "bewusstseinsbildende" Wissenschaft, die erkenntnistheoretische Prämissen (Wahrheitskriterien, Merkmale der Parteilichkeit) und methodologische Standards zu definieren sowie Grundsatzdebatten in Gang (Logik-Diskussion, Hegel-Diskussion, Diskussion über den Materiebegriff) setzten sollte. Auch auf dem naturwissenschaftlichen Feld versuchte die SED-Führung, Theoriebildung und wissenschaftliche Forschungsleistungen zu steuern, indem sie Fragestellungen, Kategorien, Hypothesen, Erkenntnisse und Ergebnisse privilegierte oder aber sanktionierte (Diskussionen um die Kybernetik und Quantentheorie).
III. Resümee
Als Fazit für die Entwicklung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik am Ende der fünfziger Jahre ist festzuhalten, dass mit dem vollzogenen immensen Ausbau des Wissenschaftssektors eine neue Stufe der Politisierung der Wissenschaft verbunden war. Wissenschaftsrelevante Probleme wurden weitgehend über Wirtschaftspläne definiert. Forschungspläne legten Themenfelder und Förderungskriterien fest. Unter Beteiligung zahlreicher Planungs- und Koordinierungsinstanzen - und oftmals ohne Abstimmung untereinander - wurde bis Anfang der sechziger Jahre das Prinzip geplanter Forschung durchgesetzt. Fachabteilungen der SED verabschiedeten Richtlinien zu spezifischen Aufgaben einzelner Wissenschaftsdisziplinen, mit denen diese unmittelbar politisch gesteuert werden sollten. Parteibeschlüsse setzten politische als wissenschaftliche Zwecke ein, gaben Forschungs- und Darstellungsgegenstände vor, definierten Ergebnisse vorweg und trafen organisatorisch-struktuelle Regelungen. Speziell für die Gesellschaftswissenschaften beanspruchte die SED-Führungselite die Hoheit über Theorie- und Methodologiestandards.
In den Naturwissenschaften setzte ein Prozess ein, in dessen Ergebnis die Dominanz wirtschaftspolitischer Interessen schließlich auch deren fachliches Profil wesentlich beeinflusste, wobei es in nicht wenigen Fällen offenbar eine gewisse Korrespondenz zwischen wissenschaftlichem Forschungsinteresse und dem von der SED postulierten Erkenntnisauftrag gab. Die Politik versuchte nunmehr, mit weit reichenden totalitären Ansprüchen Wissenschaft auch auf der kognitiven Ebene umfassend zu steuern - allerdings noch immer in unterschiedlicher Ausprägung in den Gesellschaftswissenschaften und in den Naturwissenschaften. Das ging mit Vorgängen einher, wissenschaftliche Erkenntnisprozesse direkt und indirekt zu beeinflussen. Damit ergab sich aber auch eine permanente Handlungsüberlastung der Politik, die bis zum Ende der DDR andauerte.