Einleitung
"Ein Monument des Geschichtspolitikers Helmut Kohl" sei das neue Bundeskanzleramt auf dem Spreebogen, schrieb die Berliner tageszeitung am 2. Mai 2001, als Gerhard Schröder das neue Gebäude in Besitz nahm. Ähnlich vereinfachende Einschätzungen waren bereits vor der offiziellen Fertigstellung des Amtssitzes des deutschen Regierungschefs zu hören und zu lesen. Ein Rückblick auf die Entstehung des neuen Bundeskanzleramtes und des neuen Regierungsviertels soll die etwas komplizierteren Bedingungen in Erinnerung rufen, unter denen am Berliner Spreebogen die Bundespolitik ein neues Antlitz erhielt.
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I. Vorgaben der Bonner und Berliner Vergangenheit
Wie sich Bundesregierung und Bundestag in Berlin niedergelassen haben, lässt sich zu einem wichtigen Teil als Versuch erklären, das oft als Last empfundene politisch-ästhetische Programm der Hauptstadt am Rhein zu überwinden. Durch gebaute Offenheit und Transparenz hatte die Republik in Bonn ihre Westorientierung betonen wollen; eine nüchterne, alles Pathetische vermeidende Architektursprache sollte außenpolitische und militärische Zurückhaltung verkünden. Dies hat die in Bonn gebaute Staatsarchitektur zwar geleistet, sie wurde dennoch immer wieder von Politikern und Fachleuten wegen ihrer Unauffälligkeit kritisiert. Zu den umstrittensten Bonner Bauwerken gehörte das Bundeskanzleramt aus den siebziger Jahren, wegen seiner betonten Funktionalität und Spröde wurde es als Sparkassenarchitektur lächerlich gemacht. Aber auch die anderen Bauten von Regierung und Parlament in Bonn wirkten kaum identitätsbildend. Ebensowenig entsprachen sie der mittlerweile als zwingend definierten Fernsehtauglichkeit massenhafter Politikvermittlung. Den Kern der Exekutive und der Legislative nach Berlin zu verlagern, wie es der Bundestag am 20. Juni 1991 beschloss, wurde deshalb auch als eine willkommene Chance begriffen, die bauliche Staatsrepräsentation einer Generalüberholung zu unterziehen.
In Berlin einen Städtebau und eine Architektur der politischen Macht zu entwerfen stellte sich weit schwieriger dar als in Bonn: Die Stadt an der Spree ist eindringlich von der politischen Geschichte gezeichnet, auch von der düstersten Periode der deutschen Vergangenheit. Die Bundesrepublik, die bis in die siebziger Jahre die offene Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus gemieden hat, brachte es in Bonn fertig, ihre wichtigsten Institutionen anzusiedeln, ohne sich baulich explizit und reflexiv mit dieser Phase der Geschichte zu beschäftigen - obwohl etwa Teile des Bundesverteidigungsministeriums in der zwischen 1936 und 1938 gebauten Troilokaserne untergebracht waren. In Berlin würde die Konfrontation mit den vorhandenen und den erinnerten Spuren aller abgeschlossenen Phasen der deutschen Geschichte unvermeidlich sein, höchst aufmerksam würden In- und Ausland beobachten, wie mit dem Erbe Preußens, der Weimarer Republik, dem nationalsozialistischen Deutschland so-wie der DDR umgegangen wird.
II. Die Aneignung alter Herrschaftsorte
Zu Beginn der Umzugsplanungen wurde erwogen, den Bundestag im Bereich Spreeinsel anzusiedeln, weil dort das Hohenzollernschloss gestanden hatte und wo inzwischen das Herrschaftsforum der DDR den Bereich dominierte. Als nach kurzer Zeit festgestellt wurde, dass die Flächen, die für die bundesrepublikanischen Institutionen benötigt wurden, hier nicht vorhanden waren, fiel die einhellige Wahl auf den Spreebogen.
Für diesen Standort westlich der Mauer sprach die weitgehend leergehaltene, gestaltbare Fläche und die Möglichkeit, an die Erscheinung eines Hauses mit weltweitem Wiedererkennungswert anzuknüpfen: des Reichstagsgebäudes aus dem späten 19. Jahrhundert. Allerdings lastete auf diesem Standort die ebenfalls weltbekannte Planungsgeschichte der Nord-Süd-Achse Albert Speers, des gigantomanischen Entwurfs für das Zentrum der Hauptstadt eines germanischen Weltimperiums.
Auch das Reichstagsgebäude musste mit besonderer historischer Sensibilität behandelt werden, wurde es doch hier als Symbol des Parlamentarismus, dort, vor allem im Ausland, als Symbol eines kriegslüsternen Deutschland angesehen.
Aus dem Städtebaulichen Wettbewerb für das neue Regierungsviertel am Spreebogen ging unter 835 Einsendungen im Februar 1993 die Arbeit von Axel Schultes und Charlotte Frank als Erster Preis hervor. Der prägnante Entwurf, eine lineare Figur, die sich über die Spree legt, wurde in der Öffentlichkeit positiv aufgenommen. Die Zustimmung galt nicht nur dem ästhetischen Reiz der Grundfigur, sondern sie resultierte auch wesentlich aus einer historischen und demokratietheoretischen Deutung. Dieses - mindestens im Modell schlank wirkende - Ost-West-Band wurde als eine unmissverständliche Gegenfigur zu Albert Speers Nord-Süd-Achse interpretiert, die lineare Figur als Ost-West-Spange verstanden, die auf die deutsche Teilung anspielt und diese symbolisch aufhebt. Schließlich wurde anerkennend festgestellt, einzig das Reichstagsgebäude als Sitz des Bundestages und der vorgesehene Bundesratssitz würden städtebaulich hervorgehoben, das Bundeskanzleramt würde als Spitze der Exekutive dagegen in das Band eingereiht werden, zusammen mit parlamentarischen Büros. Dass im Zentrum der Bandfigur ein Bürgerforum stehen werde, bekräftigte die demokratische Symbolsprache. Die Arbeit des Preisgerichts, vorschriftsmäßig mehrheitlich mit Fachleuten besetzt, erhielt allgemeine Anerkennung.
Im Dezember 1994 wurden die Ergebnisse des architektonischen Realisierungswettbewerbs für das Bundeskanzleramt bekannt. Zur Überraschung des Publikums gab es zwei erste Preise. Den einen erhielten Axel Schultes und Charlotte Frabnk für den Entwurf eines Gebäudes, das sich durch Form und Farbe kategorisch vom Bonner Vorgängerbau abhebt. Der weitere erste Preis wurde Torsten Krüger, Christiane Schuberth und Bertram Vandreike zuerkannt. Diese hatten einen fein ausgeführten Entwurf vorgelegt, der allerdings mit Säulen, Achsen und Symmetrien stilistische Gestaltungsmittel einsetzte, die auf eine Ästhetik aus der Zeit vor der Bonner Republik verwiesen. Nach der Beendigung des Wettbewerbs ging die Fortführung des Verfahrens von dem aus Fachleuten und Politikern zusammengesetzten Preisgericht auf den Bauherrn über. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl stellte daraufhin eine Beratergruppe aus ihm nahe stehenden Politikern und einigen angesehenen Architekten zusammen, ohne dabei jemanden aus dem Oppositionsspektrum mit einzubeziehen.
Erst im Juni 1995 fiel die Entscheidung, welches Gebäude für das Bundeskanzleramt errichtet werden sollte. Ausgewählt wurde der inzwischen überarbeitete Entwurf von Schultes und Frank. So weit sich rekonstruieren ließ, war die Geschichte der deutschen Staatsarchitektur dabei ein ausschlaggebendes Kriterium, und zwar ein Ausschlussgrund für den konkurrierenden Vorschlag. Die - unbeabsichtigte - formale Anlehnung des Entwurfs von Krüger, Schuberth und Vandreike an den Entwurf von Albert Speer für ein Adolf-Hitler-Palais just an dieser Stelle sei in einem demokratischen Deutschland untragbar, argumentierte der Bauobmann der SPD-Bundestagsfraktion Peter Conradi in einem Schreiben an das Bundeskanzleramt, spätestens die internationale Presse würde eine solche Geschmacklosigkeit nicht durchgehen lassen.
Weitere Abstimmungen zwischen dem Bundeskanzleramt und den Architekten folgten, etwa um die internen Betriebsabläufe zu optimieren. Viel Aufmerksamkeit wurde der Erhöhung der Medienwirksamkeit zuteil, was sich in verschiedenen Studien für das Erkennungszeichen des Kanzlertraktes - ein Kreis und ein stilisierter Baum gingen dem nun sichtbaren Zykloid voraus - und in einer ebenso intensiven Arbeit an dem Ehrenhof ausdrückte. Der Versuch des Amtes, die Breite und die Höhe des Gebäudes über die ursprünglich vorgesehenen Ausmaße hinaus zu erweitern, konnte durch den Kostendruck des Umzugshaushaltes und durch die Verhandlungsarbeit von Schultes und Frank weitgehend im Zaume gehalten werden.
Helmut Kohl hat das Ost-West-Band und das Kanzleramtsgebäude systematisch als ein Symbol der Deutschen Einheit präsentiert. Dies erscheint als Teil einer Strategie, welche die Spaltung und Wiedervereinigung als bestimmende Ereignisse der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert zu interpretieren versuchte.
Der Realisierungswettbewerb für die Umgestaltung des Reichstagsgebäudes zum Sitz des Bundestages endete im Februar 1993 mit der Verleihung dreier erster Preise. Im Juni 1994 entschied der Bundestag, einen der Preisträger, den Briten Sir Norman Foster mit den Umbauarbeiten zu beauftragen. Entstehen sollte ein im Innern stark umgebautes Haus, das Spuren der (Kriegs-)Geschichte offenlegt und hinsichtlich des Energiehaushaltes ökologische Maßstäbe setzt - ohne Kuppel. Eine Gruppe konservativer Politiker versuchte daraufhin die Rekonstruktion der alten Reichstagskuppel mit der Begründung durchzusetzen, sie könne ein weiterhin existierendes Bedürfnis nach nationaler Identifikation befriedigen. Aus einer teils turbulenten Diskussion ging dann die heutige Konstruktion hervor. Diese Kuppel ist keine Nachahmung des alten Bauteils, sondern liegt vielmehr ganz im Trend der neueren Staatswerbung: Sie verkörpert einen anspruchsvollen ökologischen Mechanismus, ist für alle begehbar und vermittelt ein starkes räumliches Erlebnis. Die neue Reichstagskuppel dürfte das beliebteste Ergebnis bundesrepublikanischer Staatsarchitektur überhaupt sein.
Die Errichtung des Regierungsviertels am Spreebogen kann als weitgehend abgeschlossen gelten, bis auf die immer noch offene Realisierung des im städtebaulichen Entwurf als Bindeglied zwischen dem Kanzleramt und den Abgeordnetenbüros vorgesehenen Bürgerforums. Die schwierigen Herausforderungen der politischen Geschichte wurden am Spreebogen grundsätzlich konsensorientiert und deshalb ohne größere Pannen gelöst.
III. Abrisspläne und vertikale Setzungen der Exekutive
Außerhalb des Spreebogens verlief die Hauptstadtplanung anfänglich rüder, eigensinniger und weniger erfolgreich. So war die Annahme der ererbten Bauten früherer Herrschaftsperioden nicht die erste Option der damaligen Bundesregierung, als die Unterbringung der Ministerien vorbereitet werden musste. Vielmehr wurde die Auslöschung der ungeliebten Geschichtszeugnisse angestrebt. Im Dezember 1992 wurde aus Bonn bekannt, dass die Bauten der NS-Zeit und aus der DDR abgerissen werden sollten. Sie seien als Adressen für bundesrepublikanische Institutionen eine Zumutung, für die umzuziehenden Ministerien würden neue Häuser errichtet. Sofort setzte in Berlin ein einhelliger Protest ein; unabhängige Fachleute, Bürgergruppen, die Oppositionsparteien und die Bauverwaltung wandten ein, so könne Geschichte nicht bewältigt werden. Der Konflikt endete erst im Januar 1994, als die Finanzplanung für den Umzug den Kostenrahmen auf 20 Milliarden DM begrenzte und damit die weitgehende Übernahme des ererbten Gebäudebestandes erzwang. Die Häuser des früheren Reichsluftfahrtsministeriums und der Reichsbank wurden darauf zum Gegenstand ausführlich diskutierter und gründlich reflektierter baulicher Aneignung durch die Bundesrepublik. Die Annahme der DDR-Bauten gestaltete sich deutlich schwieriger. Das Haus des Außenministeriums der DDR wurde abgetragen, während der Palast der Republik zwischen Ostberliner Bewohnern und Fachleuten einerseits, Freunden des wieder aufzubauenden Hohenzollernschlosses andererseits umstritten bleibt. Das Staatsratsgebäude avancierte hingegen von einem Objekt der Abrissliste zum provisorischen Sitz des Bundeskanzlers.
Wenn Helmut Kohl versucht hat, im Alleingang seine Interpretation der Geschichte als offizielle Botschaft festzuschreiben, so geschah dies im Falle der Neuen Wache an der Straße Unter den Linden. Im März 1993 ließ der Bundeskanzler bekanntgeben, das Gebäude aus dem frühen 19. Jahrhundert werde zur "Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland" umgebaut. Daraufhin erhielt diese eine plastische Gestaltung und eine textliche Formulierung, die wie zu Zeiten des Kalten Krieges "Krieg und Gewaltherrschaft" allgemein verurteilt, jedoch deutsche Kriegspolitik und Völkermord in diesem Jahrhundert nicht als besondere Bezugspunkte des heutigen deutschen Staates heraushebt. Nicht allein der symbolische Gehalt und die gewählte Gestalt wurden kritisiert, sondern auch das Verfahren: Der Kanzler hatte ohne öffentliche Diskussion über die hochpolitische Frage der Symbolik und der Gestaltung entschieden und daran festgehalten, als eine breite Öffentlichkeit dagegen empört protestierte. Zwar blieb die von Kohl gewählte Gestaltung erhalten, zur politischen Schadensbegrenzung verpflichtete sich der damalige Kanzler indes, den Bau eines Holocaustdenkmals zu unterstützen. Die sehr ernste und kontroverse öffentliche Diskussion, die später um Gestaltung und Ort dieses Denkmals entbrannte, relativierte das Gewicht der vertikal gesetzten "Zentralen Gedenkstätte".
IV. Fazit
Das Regierungsviertel am Spreebogen und die weiteren Standorte der Spitzeninstitutionen des Bundesstaates belegen: Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre baulich-räumliche Repräsentation bei der Neuansiedlung in Berlin mediengerecht aktualisiert. Die Republik vollzog in Berlin zudem den in Bonn nie versuchten Schritt, speziell die Zeit des Nationalsozialismus in Gestalt ihrer bestehenden und geplanten Herrschaftsbauten mit einem Akt kollektiver Reflexion anzunehmen und zu verarbeiten. Diese Aneignung der Geschichte musste in Berlin geleistet werden, und sie konnte hier geleistet werden, in der deutschen Stadt mit der heterogensten und konfliktfreudigsten politisch-intellektuellen Öffentlichkeit. Mit wenigen Ausnahmen - zu ihnen gehört die Neue Wache, nicht das Kanzleramtsgebäude - wurde über die bedeutenden Gestaltungsfragen nicht durch einen Regierungschef allein entschieden.
Nicht gelungen ist bislang die Verarbeitung des baulichen Erbes der DDR-Herrschaft; die Ost-West-Ausrichtung der städtebaulichen Figur am Spreebogen kann dies schlechterdings nicht leisten. Offen bleibt ebenfalls, ob und wann dieses "Band des Bundes" durch den Bau des Bürgerforums vollendet wird.