Der Tropenwald ist ein Ort, der vielfältige Sehnsüchte, Begierden und Ängste hervorruft. Als "Urwald" ist er das Symbol unberührter Natur schlechthin, als Lebensraum indigener Völker Ort des Wilden und Fremden, als Ressourcenraum Ziel von Goldgräbern, Holzunternehmen und Ölfirmen. Tropeninseln in Brandenburg und Indoor-Regenwälder wie das "Eden Project" in Cornwall vermarkten diese moraldurchdrungenen Vorstellungswelten. Zugleich sind auch zivilgesellschaftliches Interesse und Engagement für die Vielfalt tropischer Wälder gerade in Deutschland weitverbreitet. Jedes Schulkind lernt die globale Bedeutung dieser ökologisch wertvollen und gefährdeten Natur kennen, und kein anderes bedrohtes Biotop vermochte über die vergangenen Jahrzehnte so viel Spendengeld und politische Energie zu seinem Schutz zu mobilisieren wie die schwindenden Tropenwälder des globalen Südens.
Dennoch schreitet der Verlust dieser Wälder fast ungebremst voran. Während der vergangenen zwei Dekaden gingen jährlich um die acht Millionen Hektar Tropenwald verloren, das heißt in etwa alle fünf Jahre Wälder von der Gesamtfläche der Bundesrepublik Deutschland. Im Amazonas- und Kongobecken sowie im Inselarchipel Indonesien schrumpfen die Wälder vor allem zugunsten von Viehweiden, Soja- und Palmölplantagen sowie holzwirtschaftlicher Nutzung. Alle Warnungen und politischen Initiativen der vergangenen Jahrzehnte scheinen in dieser Frage bisher wirkungslos zu verpuffen, gleich ob sie sich auf die drohende Ausrottung unserer nächsten biologischen Verwandten, der Menschenaffen, beziehen oder auf den Verlust biologischer Vielfalt, die wertvolles Ausgangsmaterial für die Entwicklung neuer Arzneien und biologischer Wirkstoffe bildet. Und auch die Initiativen zur Verbesserung der Lage indigener Menschen, die in diesen Wäldern leben, haben nicht die Fortschritte erbracht, die viele sich im Gefolge der Weltumweltkonferenz von Rio de Janeiro 1992 erhofften.
Heute ist es vor allem der globale Klimawandel, der die Tropenwälder neu ins politische Bewusstsein gerückt hat, mit ihrem Potenzial zur Bindung von Kohlenstoff und der möglichen Vermeidung zusätzlicher Treibhausgasemissionen, die mit der Entwaldung und Trockenlegung von Torfböden einhergehen. Im Rahmen der UN-Klimakonvention sind daher spezielle Initiativen zur Reduktion von Treibhausgasemissionen durch die Vermeidung von Entwaldung entwickelt worden. Dazu gehören Zahlungen für Ökosystemleistungen, etwa für den Erhalt von Wäldern als CO2-Senken (REDD+). Diese Ansätze werden gestützt von dem umwelt- und energiepolitisch gerahmten Leitbild einer grünen Ökonomie, die Natur- und Klimaschutz mit neuen Formen der Wertschöpfung verbinden will.
Der Schutz tropischer Wälder vollzieht sich dabei nicht mehr im Widerstreit mit wirtschaftlichen Interessen und kommerziellen Nutzungen, sondern ist als konstitutives Element dieser Inwertsetzung eingeschrieben. Manche Kritiker sehen in dieser neuen Verknüpfung von Umweltpolitik und Ökonomie die hegemoniale Verfestigung einer ökologisch destruktiven "imperialen Lebensweise". Unbestritten ist sicherlich, dass der Tropenwald hier in einen sehr abstrakten Problem- und Verwertungszusammenhang eingebunden wird, der von nüchternem Kalkül geprägt ist. Dieses schließt auch die Rolle lokaler und indigener Gemeinschaften in Tropenwäldern ein, die in solchen Szenarien vor allem als potenzielle Anbieter von Ökosystemleistungen Beachtung finden. Die Möglichkeiten einer umfassenden Teilhabe und eines emanzipatorischen Einschlusses indigener Völker in die globale Klimapolitik sind dabei kaum zu erahnen.
Sperrige Realitäten
Die vielschichtigen Entwicklungen in den Wäldern der Sierra Imataca im Südosten Venezuelas – dem Feld meiner ethnologischen Forschung und Gegenstand der folgenden Ausführungen – lassen sich weder mit der Vorstellung eines bedrohten Naturparadieses angemessen verstehen, mit der die großen Umweltorganisationen in ihren Regenwaldkampagnen meist arbeiten, noch mit der Rettungslogik einer grünen Inwertsetzung, wie sie in den globalen Klimaforen verhandelt wird. Die Region steht seit Jahrzehnten im Zentrum von Konflikten um natürliche Ressourcen, Tropenwaldzerstörung, indigene Rechte und Naturschutz. Hier liegen nicht nur bedeutende Zonen forstwirtschaftlicher und bergbaulicher Nutzung, die Waldregion zählt weltweit auch zu den wichtigsten Hotspots biologischer Vielfalt.
In der Region leben – nicht zuletzt – verschiedene indigene Bevölkerungsgruppen, darunter Angehörige der Kari’ña, die als direkte Nachfahren der einst von den Spaniern gefürchteten Kariben gelten. Sie geben heute in vielerlei Hinsicht das Bild einer verlorenen und traumatisierten Kultur ab. Inmitten riesiger Forstkonzessionen und zahlreicher Zonen handwerklicher Goldgewinnung leben sie zurückgezogen in verstreuten und äußerlich sehr armselig wirkenden Gehöften weitgehend subsistent in und von dem, was der Wald und ihre kleinen Brandrodungsfelder bieten. Erreichbar sind ihre Siedlungen über eine unasphaltierte Piste, die sich vom Goldgräberstädtchen Tumeremo durch ein welliges Waldareal schlängelt und nach Osten bis an die venezolanisch-guyanische Grenze führt (Karte).
Der offizielle Name des letzten kleinen Weilers lautet Bochinche, das bezeichnet umgangssprachlich Unordnung und Chaos, auch ein ausschweifendes Festgelage. Dieses Bedeutungsfeld ist durchaus passend, um die sozialen und ökologischen Zustände in dieser rauen, von dreckiger Arbeit und zerstörerischen extraktiven Energien dominierten Ressourcenfront zu beschreiben. Das gesamte Gebiet ist in Holzkonzessionen aufgeteilt, von denen die meisten auch aktiv bewirtschaftet werden. Chaos, Gewalt und Zerstörung werden jedoch vor allem mit dem volatilen Goldbergbau in Verbindung gebracht, der im Siedlungsgebiet der Kari’ña weitgehend informell und illegal organisiert ist und immer wieder neue Ströme von Menschen auf der Suche nach Glück und Perspektiven in das Gebiet lockt, darunter viele brasilianische garimpeiros.
Auch indigene Gemeinschaften beteiligen sich vielerorts am Goldgeschäft, verdingen sich in Minen oder haben eigene Kooperativen gegründet. Eine Hinwendung zur Goldsuche lässt sich auch bei den Kari’ña in Imataca beobachten, deutlicher noch unter denen, die sich jenseits der Grenze im ehemals britischen Guyana befinden. Neben gravierenden Umweltschäden verursacht der Abbau von Gold, vor allem durch den Einsatz von hochgiftigem Quecksilber, massive gesundheitliche und soziale Probleme. In jüngster Zeit ist die Region in erster Linie durch alarmierende Nachrichten über Malariaepidemien und extreme Gewaltkonflikte negativ in die Schlagzeilen gerückt.
Chaos und Unordnung ebenso wie exzessive Trinkrituale bestimmen denn auch das durchweg problembehaftete öffentliche Bild der Kari’ña in der Region. Sie werden als schwierig, verschlossen, kulturell verarmt und von sozialem Verfall sichtlich geprägte Gruppe beschrieben, die darüber hinaus schlecht organisiert ist und viel streitet. Unabhängig vom moralischen Gehalt verweisen diese Zuschreibungen auf einen in der Tat seltsam disparaten und schwer fassbaren Zustand hin, der Ausgeliefertsein und Ohnmacht beinhaltet, aber auch aktives Ausweichen und Beharrungsvermögen. Zusammen erzeugt dies eine diffuse Widerständigkeit, eine sperrige Art kultureller Resilienz. So fällt gerade angesichts der räumlichen Nähe zur venezolanischen Gesellschaft ins Auge, wie markant die Kari’ña eine soziale Distanz zu ihr wahren. Hinzu kommt, dass die Kari’ña kaum Ansätze zeigen, sich politisch zu organisieren und die Entwicklungen um sie herum mit einem gewissen Gleichmut hinzunehmen scheinen. Entsprechend wenig sind sie auch in die Netzwerke der venezolanischen Indigenen- und Umweltbewegung eingebunden, wie auch indigene Aktivisten aus der Region immer wieder ernüchtert feststellen müssen.
Die Kari’ña entsprechen also in vielerlei Hinsicht nicht den gängigen Erzählmustern und Bildern, wie sie in Medien, Wissenschaft und Politik über indigene Tropenwaldbewohner produziert und zirkuliert werden. Gerade die Aspekte, die weite Sympathien und Anerkennung zu mobilisieren vermögen – Selbstbestimmung, kulturelle Stärke und vor allem ökologische Weisheit – sind hier nicht ohne Weiteres zu finden oder zu entschlüsseln. Fernab jeglicher Tropenromantik fordert ihre Situation stattdessen dazu auf, sich differenzierter mit ihren sperrigen Realitäten zu beschäftigen und feinfühligere Analysen über die Zusammenhänge von Entwicklung, Kulturwandel und Naturzerstörung zu entwickeln, als sie in dem Bild eines durch Invasion bedrohten Tropenwalds und indigenen Lebensraums transportiert werden. Jenseits einfacher Dichotomien von Natur und Kultur, Tradition und Moderne, Opfer und Widerstand, lokal und global erfordert dies die Berücksichtigung breiterer historischer und politischer Kontexte.
Dabei ändert sich auch der analytische Blick auf natürliche Ressourcen, nämlich weg von der Vorstellung, diese Ressourcen als quasi naturhafte Substanzen mit besonderen Eigenschaften zu sehen, die sie nützlich und wertvoll machen. Vielmehr gilt es jeweils zu bestimmen, wie diese Substanzen als Ressourcen bedeutsam werden. Dies schließt die Betrachtung physischer Stofflichkeit, extraktiver Infrastrukturen und alltäglicher Nutzungspraktiken ebenso ein wie die kultureller Bedeutungsgehalte und gesellschaftlicher Diskurse über Entwicklung, Raum und Nation.
In dieser Perspektive zeigt sich der Tropenwald als dynamische, immer wieder umkämpfte und neu beschriebene Landschaft, in der spezifische und wechselnde Materialitäten (in diesem Fall vor allem Gold, Gummi, Holz, Biodiversität und heute auch CO2) zu symbolisch dominanten Ressourcen werden, die unterschiedliche politische Ökologien hervorbringen. Diese können miteinander konkurrieren, sich überschneiden und sowohl lokale naturräumliche und soziale Verhältnisse als auch staatliche Visionen von Entwicklung prägen.
Mein Blick richtet sich im Folgenden vor allem auf die Ressource Holz. Sie steht im Zentrum eines bis heute besonders wirkmächtigen Naturregimes, in dem auf geradezu erstaunliche Weise Legitimation für staatliches Handeln erzeugt wird. Dabei werden die Wälder im Hinterland Guayanas in einen für die nationale Souveränität und Entwicklung geradezu schicksalhaften nationalen Ressourcenraum transformiert. Die Forstwirtschaft wird in diesem Zuge positiv mit staatlichen Ordnungsdiskursen verknüpft, über die sich der Zugriff des Staates auf dieses Gebiet und seine Ressourcen legitimiert. Die Anerkennung indigener Ansprüche und die Artikulation "anderer Ökologien" werden dadurch erheblich erschwert, wie am Beispiel der Kari’ña deutlich wird.
Nationaler Ressourcenraum
Venezuelas Wirtschaft ist in hohem Maße vom Export natürlicher Ressourcen abhängig. Die mit Abstand wichtigste Ressource ist das Öl, das die Entwicklung des modernen Venezuela im 20. Jahrhundert maßgeblich geprägt hat. Im Ölreichtum und einer bis heute in weiten Teilen der venezolanischen Gesellschaft tief verankerten Rentenlogik liegt der wichtigste Schlüssel zum Verständnis der politischen und gesellschaftlichen Dynamiken im Land. Wie sehr bereits die satten, sozial befriedeten Aufbruchszeiten der 1960er und 1970er Jahre dabei auf einem trügerischen Phantasma von Fortschritt und Entwicklung aufbauten, hat der Anthropologe Fernando Coronil sehr eindrücklich am Beispiel einer gescheiterten Traktorenfabrik gezeigt. Die grundlegende Vorstellung, das Öl "auszusäen" und einen Grundstock für eine diversifizierte und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung zu bilden, bleibt auch im postchavistischen und krisengeschüttelten Venezuela eng an eine extraktive Rentenlogik gebunden. So ist es bezeichnend, dass bei allen radikalen politischen Differenzen sowohl Regierung als auch Opposition in Venezuela weiterhin auf die intensive Extraktion natürlicher Ressourcen und den Ausverkauf der Bodenschätze als Weg aus der wirtschaftlichen Krise setzen, eine Politik, die anderenorts nur unter sehr guten politischen Randbedingungen erfolgreich war.
Auch im Reformprojekt der sogenannten Bolivarianischen Revolution bleibt das Land und zumal das Hinterland ein Füllhorn natürlicher Ressourcen, die das Versprechen einer besseren Zukunft in sich tragen. Trotz klarer Evidenzen seiner zerstörerischen Kraft gilt der Extraktivismus vielen als probates Mittel, Armut zu bekämpfen und Entwicklung anzukurbeln. Die Hoffnungen liegen dabei einmal mehr auf den ressourcenreichen Tropenwaldregionen südlich des Flusses Orinoko, wo – historisch nicht zufällig – auch die Mehrheit der knapp 600.000 Indígenas in Venezuela lebt. Dort hat der venezolanische Präsident Nicolás Maduro erst 2017 erneut Konzessionsgebiete in großem Stil für transnationales Kapital geöffnet, vor allem zur Förderung von Gold, Diamanten, Eisen, Coltan und Bauxit. Mit über 100.000 Quadratkilometern umfasst dieser arco minero nahezu die Hälfte des Bundesstaates Bolívar. Das Gebiet schließt damit die gesamte Kernregion Guayanas ein, einschließlich der weiteren Waldregionen in Imataca, wo viele bedeutende Goldreserven liegen.
Die besondere Bedeutung der Region Guayana im aktuellen Krisendiskurs kann jedoch nicht nur auf ihre besonders privilegierte Ausstattung mit natürlichen Ressourcen zurückgeführt werden. Solche "naiven Geografien" verkennen die vielfältigen historischen und sozialen Antriebskräfte, die Guayana zu einem defining national space haben werden lassen, also zu einer für die Bestimmung des Nationalen entscheidenden Region.
Insbesondere zwei Motive haben die Entwicklung von Guayana historisch geprägt: zum einen die Vorstellung einer an Schätzen enorm reichen Natur, die das Gebiet schon früh in koloniale Fantasien und Kämpfe für Gott, Gold und Ruhm einband und auch den Grundstein für einen anhaltenden Grenzkonflikt legte. Zum anderen durchziehen Motive der Leere und Wildheit koloniale Diskurse über diese Region, die sich in rekonfigurierter Form in den modernen Vorstellungen von wenig erschlossenen, geopolitisch sensiblen Grenzräumen fortschreiben, in dem indigene Bewohner nur wenige Spuren hinterlassen hätten.
Bis weit in das 18. Jahrhundert wurde hier das legendäre El Dorado gesucht; später versuchte das unabhängige Venezuela mit gigantomanischen Kolonisierungsprojekten die schlummernde Brache zum Leben zu erwecken. Gerade weil viele frühere Anläufe einer Erschließung Guayanas entweder vollständig im Bereich des Fantastischen verblieben oder über das Niveau lokaler Plünderung beziehungsweise kurzlebiger Zyklen der Ressourcennutzung nicht hinauskamen, wurde die produktive Einverleibung von Guayana zu einer umso wichtigeren und drängenderen nationalen Herausforderung festgeschrieben. Schließlich konnte auch die ab Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Goldsuche nur ganz vereinzelte Entwicklungsimpulse setzen.
Für eine solide und nachhaltige Entwicklung von Guayana schienen erst die Einkünfte einer prosperierenden Ölindustrie erfolgversprechende Bedingungen zu schaffen. Als Schlüssel zur modernen Nationenbildung wurde die industrielle Erschließung dieser vermeintlich unberührten Regionen in den 1960er und 1970er Jahren systematisch vorangetrieben. Die ehrgeizigen Visionen und bald sichtbaren Erfolge dieser Conquista del Sur, der Eroberung des Südens, entwickelten weit über das Land hinaus ihre Strahlkraft – nicht umsonst lässt Max Frisch seinen Homo Faber nach Venezuela reisen, um hier Turbinen zu installieren. Auch Ökonomen des Massachusetts Institute of Technology, die bei dieser Erschließung beratend mitwirkten, schwärmten von der gewaltigen Modernisierungskraft dieses Projektes, die binnen weniger Jahre aus einer in ihren Augen buchstäblich unbewohnten Wildnis eine produktive Industrieregion entstehen ließ.
Der Aufbau industrieller Basisindustrien, die Entwicklung städtischer Zentren mit ihrer wachsenden Nachfrage nach landwirtschaftlichen Gütern, die infrastrukturelle Erschließung, die Intensivierung zunächst der Prospektion und Inventarisierung, später dann der Ausbeutung von mineralischen und biotischen Ressourcen sowie der Bau von großen Wasserkraftwerken erzeugten rapide und umfassende Veränderungen bis in die letzten Siedlungen hinein. Auch die indigene Bevölkerung selbst wurde zum Objekt entwicklungspolitischer Maßnahmen: Mittels sogenannter empresas indígenas sollte sie produktiv in die Nation eingebunden werden. Diese Strategie erwies sich schnell als ein Holzweg im übertragenen Sinn. In der historischen Rückschau gilt dies wohl für die gesamte Entwicklung des venezolanischen Guayana und schon gar für die forstliche Erschließung der dortigen Wälder, die beide bis heute problembeladen bleiben.
Folgenreich für viele indigene Gruppen war die Ausweisung großer Forstreserven im Hinterland des neu entstehenden industriellen Entwicklungspols Ciudad Guayana, wo eine ökonomisch und sozial nur wenig angeschlossene Lage entstand, eine neue Peripherie der Peripherie. So ist das Siedlungsgebiet der Kari’ña seit 1961 offiziell eine Forstreserve, die etwa die Größe Baden-Württembergs hat und zunächst bezeichnenderweise den Namen El Dorado trug. Der Staat reservierte sich damit den zukünftigen Zugriff auf diese Wälder. Zugleich konnte mit der Ausweisung einer Forstreserve zumindest formal eine gewisse staatliche Präsenz und Kontrolle in diesem "leeren" und angesichts der schmerzvollen Niederlage im Grenzstreit mit Britisch-Guyana als besonders verwundbar geltenden Grenzraum manifestiert werden. Der Zugriff erfolgte dabei weitgehend unabhängig von der indigenen Bevölkerung, die mit ihren flüchtigen Siedlungsstrukturen nicht ernst genommen wurde, zumal ihre Loyalität zur Nation als widerständige Grenzgänger so oder so fraglich erschien.
Die positive Rahmung des Forstwesens als ordnende Kraft in der Herstellung von Staatlichkeit in der Peripherie verfestigte sich, als bedingt durch wirtschaftliche Krise und Strukturanpassungsmaßnahmen in den 1980er Jahren die forstliche Erschließung in großem Maßstab begann. Die Verhältnisse und materiellen Praktiken in diesem Feld der Ressourcennutzung sind dem positiven Image der Forstwirtschaft durchaus zuträglich. So wird die kommerzielle Holzgewinnung in Imataca vor allem von nationalen Unternehmen betrieben, sie ist nicht auf Rodungen größerer Flächen, sondern auf die selektive Entnahme von Werthölzern ausgerichtet, und daher trotz enormen Flächenanspruchs vergleichsweise überschaubar und geordnet. Dies erklärt die bis heute hohe Legitimität der forstlichen Erschließung der Region, gerade im Kontrast zum Goldbergbau oder der historischen Gummigewinnung.
Gemessen an ihrem eigenen formulierten Anspruch als Motor einer nachhaltigen Regionalentwicklung sind die Erfolge der Forstwirtschaft allerdings sehr bescheiden. Die Holzgewinnung bringt der lokalen Bevölkerung meist nicht mehr als den Staub, den die mit Stämmen und Brettern beladenen Lastwägen aufwirbeln, wie eine Studie über die Region Ende der 1990er Jahre trocken feststellte. Spuren forstwirtschaftlicher Degradation sind allgegenwärtig, äußerlich sichtbar für den Besucher vor allem die vielen Schneisen, Rodungen und Wege, die von Forstunternehmen zu Transportzwecken, für Arbeitercamps und Baumschulen angelegt werden und die das Terrain und mit ihm die Subsistenzaktivitäten der Kari’ña systematisch durchschneiden. Nicht ohne Grund zählt die Ethnologin Anna Tsing, die hier ihre eigene Felderfahrung in Kalimantan verarbeitet, verlassene Holzwege zu den "trostlosesten Orten der Welt".
Prekäre Territorialität
Die Wirkungsmacht der positiven Rahmung der Holzwirtschaft zeigt sich nicht nur ganz materiell in den Grenzziehungen, territorialen Einteilungen und institutionellen Praktiken der staatlichen Forstpolitik. Sie wirkt auch auf die wahrgenommenen Artikulationsmöglichkeiten der indigenen Bevölkerung in dieser Region zurück, die Schwierigkeiten hat, sich vernehmbar gegen die kommerzielle Holznutzung zu wehren, schon gar, wenn sie – wie die Kari’ña – ohnehin kaum als handlungsmächtiger und (öko)rhetorisch versierter Akteur in Erscheinung tritt. Gravierende Folgen hat dies insbesondere für die kritische Frage indigener Landrechte. Hier tritt eine Reihe von Widersprüchen zutage, die die Möglichkeiten der Anerkennung kultureller Differenz und daraus entstehender Rechtsansprüche bezogen auf die Kari’ña ganz grundsätzlich infrage stellen. Diese Widersprüche fallen heute umso mehr ins Auge, als sich die politische Situation indigener Gemeinschaften unter Chávez entscheidend verbessert hat und die aktuelle Verfassung ihnen auch weitreichende Rechte kultureller Selbstbestimmung und Autonomie sowie Landrechte garantiert.
Ein erster Widerspruch liegt in der Tatsache, dass viele indigenen Territorien in sogenannten Sonderverwaltungszonen wie zum Beispiel Forstreserven oder Nationalparks liegen, wie mir einmal ein Rechtsexperte des venezolanischen Umweltministeriums mit einer gewissen naiven Verwunderung erklärte. Als solche sind sie immer auch Gebiete öffentlichen Interesses, was die Vergabe von Eigentumstiteln von vornherein stark einschränkt.
Zweitens behält der Staat sich auch weiterhin ein unangefochtenes Verfügungsrecht über alle unterirdischen Bodenschätze vor, auch in solchen Gebieten, die formal als indigene Territorien anerkannt sind.
Drittens deutet vieles darauf hin, dass bei aller positiven Symbolpolitik die venezolanische Regierung auch weiterhin keine Bereitschaft erkennen lässt, größere zusammenhängende Territorien in den ressourcenreichen Tropenwaldgebieten im Süden des Landes anzuerkennen. Dabei spielen Argumente der inneren und äußeren Gefährdung der nationalen Souveränität eine große Rolle. Der Einschluss der Indigenen in globale Umwelt- und Klimadiskurse verstärkt dies negativ, da diese ihrerseits als problematisch für die nationale Souveränität gedeutet werden.
Viertens und im Fall der Kari’ña entscheidend ist jedoch die Tatsache, dass deren räumliche und soziale Praktiken in einem deutlichen Gegensatz zu den Vorstellungen über indigene Territorialität stehen, die dem gegenwärtigen venezolanischen Recht zugrunde liegen. Dieses geht von einer quasi natürlichen Beziehung zwischen homogenen Gruppen und ihren angestammten "Habitaten" aus, aus der sich konkrete politische Ansprüche ableiten lassen, wie sie von einigen indigenen Gruppen auch aktiv verfolgt werden. Bei den Kari’ña jedoch offenbarten die wenigen, extern angestoßenen Versuche einer Bestimmung und "Demarkation" indigenen Territoriums sichtliche Schwierigkeiten, ein solches kulturell klar markiertes Territorium zu beschreiben, teilweise auch Desinteresse oder Unverständnis für dieses Vorhaben. Darin spiegelt sich die prekäre kulturelle Verortung und materielle Verankerung in einem Raum wider, der schon vielfach geräumt, kartiert, geordnet und verändert worden ist.
Postkoloniale Kontaktzone
Die jüngeren Veränderungen im Tropenwald der Kari’ña, die aufgrund ihres Ausmaßes und der globalen Verflechtungen höchst sichtbar werden, verleiten leicht zu der trügerischen Vorstellung, die zuvor bestehenden natürlichen und sozialen Verhältnisse als vergleichsweise stabil und zeitlos anzusehen. Dies gilt umso mehr, als der Tropenwald sich in besonderem Maße als Projektionsfläche für Erzählungen von Ursprünglichkeit und Primitivität darbietet. Dabei haben Arbeiten der historischen Ökologie in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder dafür sensibilisiert, in welchem Maße Umwelten, die uns wild erscheinen, von Eingriffen menschlichen Handelns geprägt und geformt sind. So sind auch die tropischen Regenwälder in weitaus höherem Maße als lange angenommen "anthropogene Wälder" und damit soziale Landschaften. Gerade in einer größeren historischen Perspektive wird deutlich, in welchem Ausmaß die peripheren tropischen Wälder der Sierra Imataca auch eine Kontaktzone intensiver kolonialer Begegnung darstellen.
Auch in dieser Geschichte spielen natürliche Ressourcen eine tragende Rolle. So spannen sich die oftmals global verknüpften Netzwerke, in die die Kari’ña im Laufe ihrer kolonialen und postkolonialen Kontaktgeschichte eingebunden werden, um bestimmte Ressourcen auf, die jeweils einen materiellen Ankerpunkt vor Ort bilden. Im frühen kolonialen Kontext stand dabei Gold als Generator kollektiver Fantasien im Vordergrund, die – gerade weil das Edelmetall lange flüchtig blieb – als steter Antrieb der kolonialen Expansion wirkten. Schon früh gerieten die Kari’ña dabei zwischen die Fronten rivalisierender Kolonialmächte, wobei sie insbesondere für die niederländischen Kolonialakteure im Osten wichtige Funktionen zunächst als Handelspartner, später als "Buschpolizei" im kolonialen System übernahmen. Gegenüber der von zivilisatorischem Eifer besessenen spanischen Kolonialmacht leisteten sie dagegen bis weit in das 18. Jahrhundert hinein erbitterten Widerstand, was ihnen den Ruf von wilden und kriegerischen Kannibalen eintrug.
Die koloniale Kontaktgeschichte war keineswegs ein geradliniger Prozess fortschreitender Expansion und Dominanz globaler Kräfte über lokale Kulturen. Vielmehr vollzog sie sich in einem vielschichtigen System, das von Dialog und Kooperation ebenso geprägt war wie von Herrschaft und Widerstand und Bedingungen schuf, in dem sich neue soziokulturelle Formationen herausbilden konnten. So konnten gerade die Kari’ña ihren Einfluss in dem von Handelsallianzen und kriegerischen Auseinandersetzungen geprägten interethnischen Raum beträchtlich ausweiten. Noch heute lebt das Bild der mächtigen Kariben in den Köpfen und als literarisches Sujet in Venezuela fort.
Erst in dem Maße, wie sie im ausgehenden 18. Jahrhundert sukzessive an Bedeutung für die niederländische Kolonialmacht verloren, ihnen spanische Missionsoffensiven, Krankheiten und Kriege zusetzten, wurden die Kariben buchstäblich an den Rand einer kolonialen Ordnung gedrängt, zu deren Herstellung sie maßgeblich beigetragen hatten. Diese Marginalisierung umfasste nicht nur ihren sozialen Ausschluss, sondern auch eine aktive Verdrängung in ganz materiellem Sinne: Die stark dezimierten Reste überlebender Karibengruppen zogen sich in dieser Zeit in die Waldgebiete des Hinterlandes zurück. In dieser Zeit bildeten sich spezifische soziokulturelle Muster heraus, die bis heute das ethnografische Bild der Kari’ña in Imataca bestimmen: Aus großen, selbstbewussten Nationen mit charismatischen Führerfiguren wurden kleine, zersprengte, isolierte Gruppen, weniger angepasst an die Natur als an ein marginalisiertes Leben auf der Flucht vor externen Kräften. Damit kehren die Kari’ña Anfang des 19. Jahrhunderts als neu naturalisierte Subjekte an ihren nur scheinbar "ursprünglichen" und aus Sicht der kolonialen Eliten auch natürlicherweise bestimmten Platz im Wald zurück, wo sie dann knapp hundert Jahre später als isolierte und "kulturell vergleichsweise reine Gruppe" von Ethnologen wiederentdeckt werden.
So wundert es auch nicht, dass vor allem die biologisch reichen Grenzwälder Guayanas und Amazoniens heute mit einer hohen kulturellen Vielfalt zusammenfallen. Die Fähigkeit, in den peripheren Nischen und Zwischenräumen ökonomischer Erschließungsfronten zu (über)leben, ermöglichte es den Kari’ña und anderen indigenen Gruppen, den verschiedenen Ressourcenzyklen zu trotzen, auch wenn sie sich weder dem Sog der sich geradezu rauschhaft ausweitenden Goldökonomie, noch der ökologisch destruktiven Gummigewinnung im 19. und frühen 20. Jahrhundert ganz entziehen können. Historische Berichte aus dieser Zeit heben immer wieder die auffallend desolate, ja geradezu moribunde Verfassung der Kari’ña hervor. Während dieser Erschließungswellen bot die politische wie imaginäre Grenzlinie ins benachbarte Britisch Guyana für die Kari’ña jedoch immer auch die Möglichkeit des Rückzugs, und so prägen grenzüberschreitende Migrationen bis heute das Mobilitätsverhalten der Kari’ña. Gegenwärtig ist es vor allem die Goldsuche, die mit ihren fluiden Strukturen enorme soziale Sogkräfte entfaltet, gerade weil sie dem Habitus von Mobilität, Rückzug und Autonomie entgegenkommt.
In dem Maße wie Holzunternehmen und Bergbaukonzerne nun zunehmend die Leere des Waldes füllen und der Mangel an Staatlichkeit, an Grenzsicherheit und "Zivilisation" schwindet, werden die Zwischenräume, in denen sich die Kari’ña einrichten, weiter transformiert und verengt. In der Fähigkeit, am Rande und in der selbstbestimmten Marginalität zu überleben, liegt vielleicht zugleich der Kern ihrer kulturellen Differenz. Es artikuliert sich darin eine Widerständigkeit, eine "ontologische Politik". Diese bringt sich hier jedoch gerade nicht öffentlich zum Ausdruck, etwa in kulturellen Ritualen, in Kosmologien oder in Forderungen nach Land und Autonomie, sondern im Hintergrund, in einer äußerlich reduzierten, ganz eigensinnigen, stark im Tropenwald verankerten Lebensweise. Deren Härte und Verwundbarkeit spiegelt die Gewaltsamkeit der kolonialen Eroberung und Entwicklung bis in die Gegenwart wider. In diesem Sinne lassen sich die Kari’ña weder als Dienstleister für Wald- und Klimaschutz ohne Weiteres vereinnahmen, noch bieten sie sich an als Blaupause für positive Utopien einer anderen Ökologie, wie sie in den aktuellen Debatten um das gute Leben anklingen. Die Anerkennung ihrer Differenz bleibt schwierig.