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Sehnsucht nach Wald als Wildnis

Thomas Kirchhoff

/ 16 Minuten zu lesen

Nicht unsere biologischen Anlagen und auch nicht die zunehmende anthropogene Überformung von Natur sind konstitutiv für unsere Sehnsucht nach Waldwildnis, sondern ihre kulturell geprägten Bedeutungen als ästhetische und symbolische Gegenwelt zur Kultur.

In den vergangenen Jahren zeigt sich in unserer Gesellschaft eine zunehmende Sehnsucht nach Wald und Wildnis beziehungsweise nach Waldwildnis als deren Einheit. Bücher über Wald finden sich in den Bestsellerlisten. Neue Magazine widmen sich speziell dem Wald und dem Abenteuer in Wald und Wildnis. Mit "Waldwildnis" wird für Waldpädagogik und Survivalausrüstung geworben. Unzählige Dokumentarfilme berichten über Wildnis und versuchen, ihren Zauber zu vermitteln. Menschen begeben sich in der Wildnis auf "Visionssuche". "Durch die Wildnis" heißt eine erfolgreiche Serie im Kinder- und Jugendfernsehen. Naturschutzorganisationen starten Initiativen wie "Wildnis in Deutschland" und gemeinsam mit Forstbetrieben Projekte wie "Wald und Wildnis". Gemäß der Nationalen Strategie zur Biologischen Vielfalt der Bundesregierung soll sich bis 2020 auf zwei Prozent der Landesfläche Deutschlands Natur wieder nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten als Wildnis entwickeln, fünf Prozent der Waldfläche sollen wieder Waldwildnis sein. "Into the wild" lautete das Motto der Web-2.0-Konferenz "re:publica" 2014 – das mit Waldbildern illustriert wurde.

Dieser Trend zur Waldwildnis findet allerdings nicht nur Zustimmung. Es regt sich auch heftiger Widerstand, insbesondere in Debatten um die Ausweisung von Nationalparks und großflächigen Wildnisentwicklungsgebieten. Diese Ablehnung ist nicht nur durch die Angst vor Arbeitsplatzverlusten und Ertragseinbußen in der Wald- und Forstwirtschaft motiviert, sondern artikuliert auch die Sorge, etwas von dem zu verlieren, was die eigene Identität, was die Heimat mit ihrer vertrauten Landschaft bisher ausgemacht hat.

Diese uneinheitliche gesellschaftliche Beurteilung von Wald und Wildnis, die durchaus auch als individuelle Ambivalenz auftritt, lässt sich durch die Ergebnisse repräsentativer Befragungen, zum Beispiel der Naturbewusstseinsstudie 2013, objektivieren: 35 Prozent der Befragten meinen, ein Wald solle ordentlich aussehen, 64 Prozent verneinen das; für 76 Prozent gehören abgestorbene Bäume und Totholz zum Wald, für 20 Prozent nicht; 42 Prozent sind für mehr Wildnis in Deutschland, drei Prozent dagegen – wobei jeweils keine nennenswerten Unterschiede zwischen Stadt- und Landbevölkerung bestehen. 79 Prozent der Befragten meinen, zusätzliche Wildnis solle sich in Wäldern entwickeln. Dabei sind Wälder diejenige Landschaftsform, die deutlich am stärksten mit Wildnis assoziiert wird: 44 Prozent der Befragten nannten spontan "Wälder, Regenwald oder Dschungel", nur sechs Prozent "Gebirge/Berge".

Ähnliche Einstellungen zeigten sich in einer aktuellen Befragung zur Waldwahrnehmung: Einen naturnahen Buchenwald, in dem deutlich erkennbar abgestorbene Bäume am Boden liegen, charakterisierten 38 Prozent als wild, ein Prozent als ordentlich, 64 Prozent als schön und ein Prozent als hässlich. 88 Prozent fänden es bedauerlich, wenn dieser Buchenwald ordentlicher würde.

Waldwildnis wird also in der deutschen Gesellschaft derzeit von einer deutlichen Mehrheit wertgeschätzt, ein Konsens besteht allerdings nicht. Diese Wertschätzung ist in der deutschen Kultur keineswegs ein neuartiges Phänomen, sondern spätestens seit der Romantik fest etabliert. Sie dürfte heutzutage jedoch besonders weit verbreitet sein.

Wie lässt sich die offenbar zunehmende Wertschätzung von Waldwildnis deuten? Eine Möglichkeit ist, Waldwildnis als Gebiet beziehungsweise Ökosystem mit bestimmten, für den Menschen angenehmen oder nützlichen physischen Eigenschaften zu begreifen und ihre Wertschätzung auf ein Bedürfnis nach diesen physischen Eigenschaften zurückzuführen: nach sauberer Luft, nach Ruhe, nach sommerlicher Kühle, nach weichem Boden. Nicht erklären lässt sich so allerdings, warum "wilder" Wald gegenüber "ordentlichem" Wald bevorzugt wird, obwohl sich ihre physischen Umweltqualitäten in den genannten Hinsichten kaum unterscheiden. Plausibler ist die Deutung, dass die entscheidende Basis der Wertschätzung von Waldwildnis nicht auf der Ebene physischer Eigenschaften liegt, sondern auf der Ebene ästhetischer Qualitäten und symbolischer Bedeutungen – von Projektionsmöglichkeiten, die bei "wildem" Wald deutlich andere sind als bei "ordentlichem" Wald. Der symbolische Gehalt von Waldwildnis ist zentral für ihr Verständnis. Denn er verdeutlicht, weswegen Waldwildnis starke Emotionen wachruft, sodass man im Zusammenhang mit Waldwildnis überhaupt von Sehnsucht und Faszination, aber auch von Angst und Abscheu sprechen kann.

Um die ästhetisch-symbolische Wertschätzung von Naturphänomenen zu erklären, werden verschiedene Ansätze verfolgt, wobei insbesondere zwischen naturalistischen und kulturalistischen unterschieden werden kann.

Naturalistische Erklärungsansätze

Die Grundhypothese naturalistischer Ansätze ist, dass solche Wertschätzungen im Wesentlichen oder sogar vollständig genetisch verankert sind, sich durch natürliche Selektion im Laufe der Phylogenese des Menschen ausgebildet haben und auf Funktionalität verweisen. Demnach sollen die Menschen noch heutzutage eine Affinität zu solchen Habitaten und Naturphänomenen besitzen, die früher – als die Menschen als Jäger und Sammler lebten – besonders vorteilhaft für ihr Überleben waren. Wenn man die Wertschätzung von Waldwildnis erklären will, können solche Theorien allerdings kaum etwas beitragen, weil in ihnen nicht Wälder, sondern savannenartige Landschaften als optimale und deshalb präferierte Habitate gelten.

Gemäß einer anderen naturalistischen Theorie stellt eine vom Menschen nicht veränderte, nicht gestörte Natur ein funktional optimales, harmonisches System dar und wird deshalb vom Menschen als schön empfunden. Diese Theorie könnte die Wertschätzung von Waldwildnis zwar grundsätzlich erklären, hat aber mindestens drei gravierende Schwächen: Erstens sind seit Jahrzehnten praktisch alle Ökologen der Ansicht, dass auch eine vom Menschen nicht gestörte Natur allenfalls in Ausnahmefällen in solchen optimalen Systemen organisiert ist. Zweitens bleibt unklar, wie der Mensch evolutionär die Fähigkeit erlangt haben könnte, diese angebliche funktionale Optimalität ohne wissenschaftliche Analysen zu erkennen. Drittens kann diese Theorie nicht die grundlegenden geschichtlichen Wandlungen in der Wertschätzung von Naturphänomenen erklären, zum Beispiel warum Wildnis in unserer Kultur bis ins 17. Jahrhundert fast nur negative Konnotationen hatte – man sah in ihr den Ort des moralisch Bösen jenseits des kultivierten Bereichs von Burg, Stadt, Dorf und Feldflur – und dann innerhalb relativ kurzer Zeit zu einem Sehnsuchtsort geworden ist.

Genauso wenig kann der Bedeutungswandel von Wald erklärt werden: Über Jahrhunderte galten Wälder, Gebirge und Sümpfe als Inbegriff von Wildnis, die man möglichst mied. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus beschreibt Germanien als ein "Land (…) entweder schrecklich durch Wälder oder scheußlich durch Sümpfe". Und noch die Brüder Grimm dokumentieren in ihrem Deutschen Wörterbuch: "[D]ie gewöhnliche volksthümliche und ältere vorstellung der wildnis ist die eines ‚dichten waldes‘ (…) oder ‚unwegsamen gebirges‘ (…) gerne dichterisch im gegensatz zum paradies." Aber insbesondere seit der Romantik erhielten Wälder immer mehr positive Bedeutungen und wurden für viele Menschen zu einem Sehnsuchtsort.

Kulturalistische Erklärungsansätze

Mit kulturalistischen Deutungsansätzen hingegen lässt sich dieser Übergang von der schrecklichen (Wald-)Wildnis zum Sehnsuchtsort (Wald-)Wildnis sehr gut erklären. Deren Grundhypothese ist, dass ästhetisch-symbolische Wertschätzungen von Natur im Wesentlichen auf kulturell geprägten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern beruhen, die kulturgeschichtlichen Wandlungen unterliegen.

Die Kernidee der meisten kulturalistischen Deutungen von Waldwildnis lautet dabei: Natur und insbesondere Wildnis stellt eine Gegenwelt zur Kultur beziehungsweise Zivilisation dar, wobei im Falle von Wildnis ein Moment von Unkontrolliertheit, ja Unkontrollierbarkeit und deshalb Bedrohlichkeit mitschwingt. Eine Waldwildnis ist demnach ein Waldgebiet, das als Gegenwelt mit bestimmten symbolischen Bedeutungen wahrgenommen und dabei positiv oder aber negativ bewertet wird, je nachdem, ob die Kultur beziehungsweise Zivilisation, zu der es die Gegenwelt bildet, negativ oder aber positiv bewertet wird. Diese doppelte Bewertungsmöglichkeit manifestiert sich beispielsweise in der literarischen Gestalt der Räuber im wilden Wald, die böse, weil brutal und habgierig, aber auch gut sein können, als Kämpfer gegen eine ungerechte Obrigkeit, die sich mit Unterdrückten solidarisieren. Und sie zeigt sich darin, dass manche Menschen Wildnis als Ort der Freiheit von gesellschaftlicher Ordnung wertschätzen, während andere sie eben deshalb geringschätzen.

Um als Waldwildnis wahrgenommen zu werden, muss ein Waldgebiet nicht frei von menschlichen Einflüssen, nicht ganz und gar natürlich entstanden sein. Es darf nur nicht als vollständig durch den Menschen kontrolliert erscheinen. Das Waldgebiet muss auch keine bestimmten ökologischen Eigenschaften haben. Überhaupt ist (Wald-)Wildnis – das mag überraschen – kein Gegenstand der Ökologie oder irgendeiner anderen Naturwissenschaft, sondern eine lebensweltliche Naturauffassung. Waldwildnis kann man mittels ökologischer Eigenschaften weder definieren noch beschreiben; man kann aber die ökologischen Eigenschaften der Ökosysteme innerhalb eines Waldgebietes beschreiben, das zuvor in ästhetisch-symbolischer Perspektive als Waldwildnis ausgewiesen worden ist – so wie man die Farben eines Gemäldes chemisch analysieren kann, ohne dadurch seinen Gehalt und seine Schönheit erschließen zu können.

Konstitutiv für die Wertschätzung von Waldwildnis ist nicht, dass sie selten geworden ist, weil die Menschen im Laufe ihrer Kulturgeschichte immer mehr Wälder gerodet oder in geordnete Wirtschaftswälder umgewandelt haben. Und die Wertschätzung ist auch nicht das Ergebnis eines wie auch immer zu erklärenden Wieder-wirksam-Werdens einer phylogenetischen Affinität des Menschen zu Wildnis. Vielmehr sind positive Bedeutungen von Waldwildnis Ausdruck einer kritischen Einstellung zur Kultur, in der man lebt. Sie gründen in Kulturkritik oder, emotional formuliert, in einem "Unbehagen in der Kultur" beziehungsweise in einem "Unbehagen in der Modernität". Diese Kritik beziehungsweise dieses Unbehagen konstituiert die Sehnsucht nach einer Gegenwelt zur Kultur – und die sehen in modernen Gesellschaften viele Menschen in der Natur in Gestalt von Waldwildnis sowie anderer Formen von Wildnis. Als Gegenwelt können aber auch traditionelle Kulturlandschaften, fremde Kulturen, Sub- beziehungsweise Gegenkulturen ohne jeglichen Naturbezug, Götterwelten, Fantasiewelten und so weiter fungieren. Jedoch nur Wildnis ist eine Gegenwelt, die sinnlich erfahrbar ist und zugleich jenseits von Kultur liegt.

Wahrnehmungen von Waldwildnis sind immer subjektiv und individuell. Das heißt nicht, dass sie etwas rein Individuelles und Subjektives wären; denn sie erfolgen im Rahmen kulturell geprägter, intersubjektiv-kollektiver Wahrnehmungsmuster. Diese Wahrnehmungsmuster von Waldwildnis sind in Märchen, Gemälden, Fotografien und Filmen präsent, werden im Verlauf der Sozialisation internalisiert und leiten unbewusst unsere individuelle Wahrnehmung. Die Wahrnehmungen, Bedeutungen und Bewertungen von Waldwildnis verändern sich im Laufe der Geschichte, weil Kultur und damit der Inhalt von Kulturkritik geschichtlichen Wandlungen unterliegt. Und weil es innerhalb einer Kultur zu jedem Zeitpunkt konkurrierende Menschenbilder und Gesellschaftsideale gibt, besteht bezüglich der Wahrnehmung, Bedeutung und Bewertung von Waldwildnis nie ein innerkultureller Konsens.

Zur Bedeutungsgeschichte von Waldwildnis

Im Folgenden sollen einige grundlegende positive Wahrnehmungsmuster von Waldwildnis in groben Zügen idealtypisch skizziert werden. Diese Wahrnehmungsmuster sind nicht spezifisch "deutsch", allenfalls spezifisch "europäisch". Der Darstellung liegt die Hypothese zugrunde, dass auch ältere Bedeutungen von Wildnis – insbesondere solche aus der Zeit der Aufklärung und Romantik – noch heutzutage wirksam sind. So bildete sich im Laufe unserer Kulturgeschichte ein immer vielfältigeres Spektrum positiver Bedeutungen von Waldwildnis heraus, in dem sich zwei Grundbedeutungen identifizieren lassen: zum einen Waldwildnis als Ort der Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen, Konventionen und Entfremdungsprozessen und damit als Möglichkeitsraum für Authentizität; zum anderen Waldwildnis als Ort guter ursprünglicher Ordnung, die der gesellschaftlichen Ordnung überlegen ist. Mit "Freiheit" und "Ordnung" ist dabei allerdings, je nach Menschenbild oder Gesellschaftsideal beziehungsweise politischer Philosophie, sehr Unterschiedliches gemeint.

Bereits im christlichen Denken des Mittelalters finden sich neben den negativen, die überwiegen, erste positive Bedeutungen von Waldwildnis: Insbesondere ist sie erstens Zufluchtsort für Verfolgte und Geächtete, die sich – wie Robin Hood – einer ungerechten Obrigkeit entgegenstellen, zweitens analog zur Wüste arider Gebiete der Ort, an den sich Eremiten aus einer verweltlichten Kirche beziehungsweise vor den Versuchungen des weltlichen Lebens zurückziehen, um ihr Leben in Stille und Abgeschiedenheit ganz Gott zu widmen, sowie drittens der Ort der Bewährung und Reifung von Helden im Kampf gegen das Böse.

Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts werden rationalistische Philosophien formuliert, denen zufolge die Welt – weil Gott, ihr Schöpfer, allmächtig, weise und gütig ist – eine vollkommene Ordnung darstellen muss. Auf dieser Basis entsteht eine Wertschätzung von Wildnis als Ort, an dem die ursprüngliche göttliche Ordnung der Welt noch nicht durch den Menschen verändert, also noch nicht beeinträchtigt ist. Diese vollkommene göttliche Ordnung sei, so etwa der Philosoph Shaftesbury, wegen ihrer unendlichen Komplexität für den Menschen zwar nicht wissenschaftlich, aber doch ästhetisch-intuitiv erkennbar, wenn er von seinen endlichen Nutzenkalkülen und Ordnungsvorstellungen absehe; dann gelte: "Disorder becomes regular" und "the Wildness pleases". Solche Theorien entstanden zwar vor allem in Bezug auf Hochgebirge, in denen man "natural cathedrals" sah. Aber zum Beispiel Shaftesbury nennt in diesem Zusammenhang auch einen riesigen, finsteren Wald. Später notiert der Universalgelehrte John Muir in diesem Sinne: "The clearest way into the Universe is through a forest wilderness." Und der Philosoph Holmes Rolston konstatiert: "The forest is a kind of church."

Im Denkrahmen des politischen Liberalismus symbolisiert Wildnis primär zwar den vorgesellschaftlichen Naturzustand des Menschengeschlechts, der in einen Krieg aller gegen alle mündet (Thomas Hobbes) und durch einen Gesellschaftsvertrag überwunden werden muss. Sobald dieser Gesellschaftsvertrag geschlossen ist, erhält (Wald-)Wildnis jedoch die positive Bedeutung eines symbolischen und auch tatsächlichen Ortes, an dem das Individuum vorübergehend vollkommen frei von gesellschaftlichen Regeln und Zwängen und damit gemäß seiner eigenen individuellen Natur leben kann. Dieses Bedeutungsmuster motiviert heutzutage viele Formen der Suche nach individuellen Abenteuern in der Wildnis.

Im Übergang zur Aufklärungskritik entwickelt sich, maßgeblich durch Jean-Jacques Rousseau, die Bedeutung von Waldwildnis als Ort des Naturzustandes, in dem die Menschen noch nicht durch die Zivilisation verdorben sind, noch in Harmonie miteinander und mit der äußeren Natur leben, weil sie sich noch an sich selbst orientieren statt entfremdet an zivilisatorischen Äußerlichkeiten und Scheinbedürfnissen. Waldwildnis und die dort lebenden "edlen Wilden" symbolisieren für die zivilisierten Menschen authentische Individualität und eine auf natürlichem Mitgefühl beruhende Gemeinschaft. Nach Rousseau ist beides mit dem Zivilisationsprozess unwiederbringlich verloren gegangen, es kann aber auf höherer Stufe – die berühmte Formel "Zurück zur Natur" stammt nicht von Rousseau – ein Analogon mittels Vernunft und Tugend realisiert werden.

Auf Edmund Burke, einen der geistigen Väter des britischen Konservatismus, lässt sich die folgende Theorie zurückführen: Der Anblick erhabener Natur – gemeint sind Naturphänomene, die wegen ihrer Undeutlichkeit, Gewalt oder Unermesslichkeit im Betrachter Furcht, Schmerz oder Erstaunen hervorrufen und das Vernunftvermögen lähmen – könne statt "horror" auch "delightful horror" hervorrufen, weil er physiologisch unsere Nerven stärke und so die Funktionsfähigkeit unseres Körpers und letztlich die Selbsterhaltung fördere. So könne ein "gloomy forest" und eine "howling wilderness" ein Heilmittel gegen kulturelle Verweichlichungstendenzen und Vergnügungssucht sein.

Die Romantik stellt der aufklärerischen Vernunftorientierung die Idee und individuelle Praxis der ästhetischen Neuschaffung einer zauberhaften Wirklichkeit entgegen, die jenseits der durch Vernunft versachlichten Alltagswelt liegt. So soll das vereinzelte Individuum zumindest ästhetisch wieder eine Entgrenzung des Ichs erfahren und ein Gefühl der Eingebundenheit in eine ursprüngliche Ganzheit empfinden können. Ein klassischer Topos dieser romantischen Wiederverzauberung der Welt ist der Blick über das Meer oder über waldbedeckte Hügel und Berge zum Horizont, an dem Erde und Himmel, Materielles und Immaterielles verschmelzen. Innerhalb eines Waldes sind, sofern er nicht vernünftig geordnet, sondern wild erscheint, ähnliche ästhetische Wiederverzauberungen möglich: wenn sich im Spiel der Blätter Licht und Schatten vermischen, wenn sich der Blick in die Ferne irgendwo zwischen den Baumstämmen verliert oder wenn in der Ferne zwischen den Stämmen das Sonnenlicht erstrahlt.

Im romantischen Topos der Waldeinsamkeit ist der Wald ein Rückzugsort in einer sich wandelnden Gesellschaft, eine zeitlose heile (Traum-)Welt inneren und äußeren Erlebens, ein Symbol für Dauerhaftigkeit, ein Schutzraum, in dem alte Märchen, Sagen und Werte noch lebendig erscheinen. "Waldeinsamkeit, Die mich erfreut, So morgen wie heut In ewger Zeit. O wie mich freut Waldeinsamkeit./Waldeinsamkeit Wie liegst du weit! O Dir gereut Einst mit der Zeit. Ach einzge Freud Waldeinsamkeit!/Waldeinsamkeit Mich wieder freut, Mir geschieht kein Leid, Hier wohnt kein Neid Von neuem mich freut Waldeinsamkeit." (Ludwig Tieck)

Im Rahmen des klassischen deutschen Konservatismus entwickelt der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl die Ansicht, Wildnis, insbesondere Waldwildnis, könne in den Menschen, die vereinzelt, ungesund und sündig in der Großstadt lebten, das instinktive Wissen um die Prinzipien einer guten Ordnung erneuern. Diese Ordnung sei im Naturzustand bereits latent (von Gott gegeben) vorhanden, müsse aber noch vom Menschen zur vollkommenen Form einer hierarchisch-organischen Gemeinschaft entwickelt werden, die auf den natur- beziehungsweise gottgegebenen Talenten und Ungleichheiten beruht. Die Gemeinschaft der Waldwildnis wird zum Vorbild gelingender menschlicher Vergesellschaftung, womit – zirkulär – ein in den Wald hineinprojiziertes Gesellschaftsideal wieder aus ihm herausgelesen wird und damit als naturgegeben erscheint.

Mit dem Aufkommen der Umweltbewegung in den 1960er Jahren wird Waldwildnis zum Inbegriff vollkommener natürlicher Ordnung. Die ökologische und evolutionäre Selbstorganisation der Natur habe dort im Laufe von Jahrtausenden zu einer Organisationsweise geführt, deren Komplexität, Effizienz und Stabilität die aller anthropogenen Organisationsformen – seien es menschliche Gesellschaften oder technische Artefakte – bei Weitem überschreite. Der Umweltökonom David Rapport behauptet sogar, "that natural evolution of ecosystems represents the best of all possible worlds". So wird Waldwildnis zum Objekt "ökologischer Ehrfurcht", das vor der Zerstörung durch den Menschen geschützt werden muss. Der exotische Dschungel, in dem die Männer der Kolonialzeit den zu erobernden "jungfräulichen Wald" (virgin forest) sahen, wird zum bedrohten Paradies.

Etwa seit den 1970er Jahren wird Waldwildnis auch zum Inbegriff unregulierter Prozessualität, von Wildheit. Diese Wildnisbedeutung kann man als Ausdruck einer kulturell bedingten Sehnsucht nach Freiheit von der "Zähmung" der Instinktnatur und Triebhaftigkeit des Menschen durch die Gesellschaft interpretieren: Waldwildnis fasziniert als Ort unreglementierter, triebhafter Aktivität und Überraschung, als Ort der Entlastung von Rationalität, Konventionen, Regeln, Scham- und Ekelgefühlen zivilisierten Lebens, aus dem man vorübergehend ausbrechen möchte. So sieht der deutsche Survival-Experte Rüdiger Nehberg im Regenwald nicht wie viele andere eine "grüne Hölle", sondern eine "Herausforderung: kein Meter ohne Überraschung, gefüllte Speisekammer, action pur – grünes Paradies".

Zuletzt soll noch erwähnt werden, dass Waldwildnis statt als Gegenwelt mit bestimmten gegenkulturellen Bedeutungen auch wertgeschätzt werden kann als Ort jenseits (gegen)kultureller Symboliken: als Ort der Freiheit von intersubjektiven Sinngehalten überhaupt. Hierzu zuzuordnen sind vermutlich "Visionssuchen" zur individuellen Selbstheilung und Sinnsuche in der Wildnis, sofern sie die Quelle der "Vision" nicht in der Wildnis, sondern im Selbst sehen.

Zunehmendes Unbehagen in der Kultur?

Gemäß der hier entwickelten Interpretation, was Waldwildnis ist und warum sie wertgeschätzt wird, müsste die in den vergangenen Jahren offenbar zunehmende Sehnsucht nach ihr Ausdruck eines wachsenden "Unbehagens in der Kultur" sein. Dieses Unbehagen dürfte vor allem für ihre Grundbedeutung "Ordnung" zutreffen, insofern in unserer Gesellschaft Gefühle sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Verunsicherung zunehmen und eine problematische Individualisierung, Entsolidarisierung und Beschleunigung gesellschaftlichen Wandels empfunden wird. Spiegeln müssten sich diese Gefühle in einem zunehmenden Interesse vor allem an "Waldwildnis als Ort guter ursprünglicher Ordnung": Bücher, die natürliche Wälder als dauerhaft stabile, solidarische Gemeinschaften von Bäumen und anderen Organismenarten beschreiben, sind derzeit Bestseller.

Für die Grundbedeutung "Freiheit" könnte man spekulieren: Der "Freiheitsindex Deutschland 2017" konstatiert eine seit 2011 insgesamt zunehmende Wertschätzung von Freiheit, aber auch, dass die Bürgerinnen und Bürger in den vergangenen Jahren verstärkte staatliche Einschränkungen von privaten Freiheiten angesichts von Bedrohungen wie Terrorismus und Extremismus in Kauf nehmen. Diese Entwicklung könnte eine Sehnsucht nach "Waldwildnis als Ort der Freiheit" fördern, an dem solche Einschränkungen praktisch nicht existieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. hier und im Folgenden Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit/Bundesamt für Naturschutz, Naturbewusstsein 2013. Bevölkerungsumfrage zu Natur und biologischer Vielfalt, Berlin–Bonn 2014.

  2. Vgl. Olaf Kühne/Corinna Jenal/Anna Currin, Längsschnittstudie zur Wahrnehmung von Alt- und Totholz sowie zur symbolischen Konnotation von Wald. Zwischenbericht Phase 1, Freising 2014, S. 29f., S. 44.

  3. Vgl. Matthias Stremlow/Christian Sidler, Schreibzüge durch die Wildnis, Bern 2002; Thomas Kirchhoff/Ludwig Trepl, Landschaft, Wildnis, Ökosystem: Zur kulturbedingten Vieldeutigkeit ästhetischer, moralischer und theoretischer Naturauffassungen. Einleitender Überblick, in: dies. (Hrsg.), Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene, Bielefeld 2009, S. 13–66; Thomas Kirchhoff/Vera Vicenzotti, A Historical and Systematic Survey of European Perceptions of Wilderness, in: Environmental Values 4/2014, S. 443–464.

  4. Vgl. Roger Paden/Laurlyn K. Harmon/Charles R. Milling, Ecology, Evolution, and Aesthetics: Towards an Evolutionary Aesthetics of Nature, in: The British Journal of Aesthetics 2/2012, S. 123–139; David Buss, Evolutionary Psychology, London–New York 2016.

  5. Vgl. Thomas Kirchhoff, Das Konzept der "kulturellen Ökosystemdienstleistungen": Eine begriffliche und methodische Kritik, Habilitation, Technische Universität München 2015, S. 62–70.

  6. Vgl. ders./Vera Vicenzotti, Von der Sehnsucht nach Wildnis, in: ders. et al. (Hrsg.), Naturphilosophie. Ein Lehr- und Studienbuch, Tübingen 2017, S. 313–322.

  7. Publius Cornelius Tacitus, Germania. Lateinisch-deutsch, Stuttgart 2007 (98 n. Chr.), Kap. 5 (eigene Übersetzung).

  8. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 30, Leipzig 1854–1960, Sp. 108f.

  9. Vgl. Götz Großklaus/Ernst Oldemeyer (Hrsg.), Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, Karlsruhe 1983; Kirchhoff/Trepl (Anm. 3); Kirchhoff/Vicenzotti (Anm. 6).

  10. Zu diesem Prozess siehe auch den Beitrag von Hansjörg Küster in diesem Heft. Dass der Bedeutungswandel von Wildnis nicht auf physischen Veränderungen beruht, zeigt sich besonders deutlich daran, dass die Alpen, ohne sich nennenswert physisch zu verändern, innerhalb weniger Jahrzehnte von einem Ort des Schreckens zu einem Sehnsuchtsort geworden sind.

  11. Vgl. Ralf Konersmann, Kulturkritik, Frankfurt/M. 2008.

  12. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1930; Peter L. Berger/Brigitte Berger/Hansfried Kellner, Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt/M.–New York 1987.

  13. Vgl. Kirchhoff/Vicenzotti (Anm. 6), S. 314; Ursula Breymayer/Bernd Ulrich, "Unter Bäumen": Ein Zwischenreich, in: dies. (Hrsg.), Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald, Dresden 2011, S. 15–33, hier S. 15.

  14. Für eine ausführlichere Darstellung, die auch negative Bedeutungen behandelt, siehe Kirchhoff/Vicenzotti (Anm. 3 und 6), auf die ich mich im Folgenden stütze, sowie die dort zitierte Literatur.

  15. Zum "deutschen Wald" siehe den Beitrag von Johannes Zechner in diesem Heft.

  16. Anthony A. Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury, Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, Bd. 2, Indianapolis 2001 (1732), S. 40–43, S. 217–228, Zitat S. 218.

  17. Marjorie H. Nicolson, Mountain Gloom and Mountain Glory. The Development of the Aesthetics of the Infinite, Seattle 1959.

  18. John Muir, Alaska Fragments, June–July, 1890, in: Linnie M. Wolfe (Hrsg.), John of the Mountains, Madison 1979, S. 311–322, hier S. 313; Holmes Rolston III, Aesthetic Experience in Forests, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 2/1998, S. 157–166, hier S. 164.

  19. Edmund Burke, A Philosophical Inquiry into the Origin of Our Ideas on the Sublime and Beautiful, London 1757, Part II, Section V.

  20. Vgl. Wilhelm Heinrich Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik, Bd. 1: Land und Leute, Stuttgart 1854, S. 31–34, S. 202.

  21. Kirchhoff/Trepl (Anm. 3), S. 49f.; Vera Vicenzotti, Der "Zwischenstadt"-Diskurs. Eine Analyse zwischen Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt, Bielefeld 2011, S. 145ff.

  22. David J. Rapport, Answering to Critics, in: ders. et al. (Hrsg.), Ecosystem Health, Malden 1998, S. 41–50, hier S. 46.

  23. Dieser Wertschätzung liegt eine perfektionistisch-organizistische Naturauffassung zugrunde, die keine Basis in – heutzutage noch anerkannten – naturwissenschaftlichen Theorien hat. Vgl. Thomas Kirchhoff, Die Konzepte der Ökosystemgesundheit und Ökosystemintegrität. Zur Frage und Fragwürdigkeit normativer Setzungen in der Ökologie, in: Natur und Landschaft 9–10/2016, S. 464–469. Somit liegt es nahe, diese Wildnisauffassung als eine verwissenschaftlichte Reformulierung der oben beschriebenen rationalistischen Philosophien zu deuten.

  24. Rüdiger Nehberg/Target, Abenteuer Urwald, o.D., Externer Link: http://www.target-human-rights.com/HP-07_vortraege/index.php?p=vortrag02.

  25. Vgl. Martin Drenthen, The Paradox of Environmental Ethics. Nietzsche’s View of Nature and the Wild, in: Environmental Ethics 2/1999, S. 163–175.

  26. Siehe z.B. Heinz Bude, Das Unbehagen in der bürgerlichen Mitte, in: APuZ 49/2014, S. 44–48.

  27. Vgl. Ulrike Ackermann (Hrsg.), Freiheitsindex Deutschland 2017, Frankfurt/M. 2017.

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hat Landschaftsplanung und Philosophie studiert. Er ist Post-Doc-Wissenschaftler an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. – Institut für interdisziplinäre Forschung (FEST) in Heidelberg und Privatdozent für Theorie der Landschaft an der Technischen Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte sind lebensweltliche und wissenschaftliche Naturauffassungen. E-Mail Link: thomas.kirchhoff@fest-heidelberg.de