In den vergangenen Jahren zeigt sich in unserer Gesellschaft eine zunehmende Sehnsucht nach Wald und Wildnis beziehungsweise nach Waldwildnis als deren Einheit. Bücher über Wald finden sich in den Bestsellerlisten. Neue Magazine widmen sich speziell dem Wald und dem Abenteuer in Wald und Wildnis. Mit "Waldwildnis" wird für Waldpädagogik und Survivalausrüstung geworben. Unzählige Dokumentarfilme berichten über Wildnis und versuchen, ihren Zauber zu vermitteln. Menschen begeben sich in der Wildnis auf "Visionssuche". "Durch die Wildnis" heißt eine erfolgreiche Serie im Kinder- und Jugendfernsehen. Naturschutzorganisationen starten Initiativen wie "Wildnis in Deutschland" und gemeinsam mit Forstbetrieben Projekte wie "Wald und Wildnis". Gemäß der Nationalen Strategie zur Biologischen Vielfalt der Bundesregierung soll sich bis 2020 auf zwei Prozent der Landesfläche Deutschlands Natur wieder nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten als Wildnis entwickeln, fünf Prozent der Waldfläche sollen wieder Waldwildnis sein. "Into the wild" lautete das Motto der Web-2.0-Konferenz "re:publica" 2014 – das mit Waldbildern illustriert wurde.
Dieser Trend zur Waldwildnis findet allerdings nicht nur Zustimmung. Es regt sich auch heftiger Widerstand, insbesondere in Debatten um die Ausweisung von Nationalparks und großflächigen Wildnisentwicklungsgebieten. Diese Ablehnung ist nicht nur durch die Angst vor Arbeitsplatzverlusten und Ertragseinbußen in der Wald- und Forstwirtschaft motiviert, sondern artikuliert auch die Sorge, etwas von dem zu verlieren, was die eigene Identität, was die Heimat mit ihrer vertrauten Landschaft bisher ausgemacht hat.
Diese uneinheitliche gesellschaftliche Beurteilung von Wald und Wildnis, die durchaus auch als individuelle Ambivalenz auftritt, lässt sich durch die Ergebnisse repräsentativer Befragungen, zum Beispiel der Naturbewusstseinsstudie 2013, objektivieren:
Ähnliche Einstellungen zeigten sich in einer aktuellen Befragung zur Waldwahrnehmung:
Waldwildnis wird also in der deutschen Gesellschaft derzeit von einer deutlichen Mehrheit wertgeschätzt, ein Konsens besteht allerdings nicht. Diese Wertschätzung ist in der deutschen Kultur keineswegs ein neuartiges Phänomen, sondern spätestens seit der Romantik fest etabliert. Sie dürfte heutzutage jedoch besonders weit verbreitet sein.
Wie lässt sich die offenbar zunehmende Wertschätzung von Waldwildnis deuten? Eine Möglichkeit ist, Waldwildnis als Gebiet beziehungsweise Ökosystem mit bestimmten, für den Menschen angenehmen oder nützlichen physischen Eigenschaften zu begreifen und ihre Wertschätzung auf ein Bedürfnis nach diesen physischen Eigenschaften zurückzuführen: nach sauberer Luft, nach Ruhe, nach sommerlicher Kühle, nach weichem Boden. Nicht erklären lässt sich so allerdings, warum "wilder" Wald gegenüber "ordentlichem" Wald bevorzugt wird, obwohl sich ihre physischen Umweltqualitäten in den genannten Hinsichten kaum unterscheiden. Plausibler ist die Deutung, dass die entscheidende Basis der Wertschätzung von Waldwildnis nicht auf der Ebene physischer Eigenschaften liegt, sondern auf der Ebene ästhetischer Qualitäten und symbolischer Bedeutungen – von Projektionsmöglichkeiten, die bei "wildem" Wald deutlich andere sind als bei "ordentlichem" Wald. Der symbolische Gehalt von Waldwildnis ist zentral für ihr Verständnis.
Um die ästhetisch-symbolische Wertschätzung von Naturphänomenen zu erklären, werden verschiedene Ansätze verfolgt, wobei insbesondere zwischen naturalistischen und kulturalistischen unterschieden werden kann.
Naturalistische Erklärungsansätze
Die Grundhypothese naturalistischer Ansätze ist, dass solche Wertschätzungen im Wesentlichen oder sogar vollständig genetisch verankert sind, sich durch natürliche Selektion im Laufe der Phylogenese des Menschen ausgebildet haben und auf Funktionalität verweisen.
Gemäß einer anderen naturalistischen Theorie stellt eine vom Menschen nicht veränderte, nicht gestörte Natur ein funktional optimales, harmonisches System dar und wird deshalb vom Menschen als schön empfunden. Diese Theorie könnte die Wertschätzung von Waldwildnis zwar grundsätzlich erklären, hat aber mindestens drei gravierende Schwächen:
Genauso wenig kann der Bedeutungswandel von Wald erklärt werden: Über Jahrhunderte galten Wälder, Gebirge und Sümpfe als Inbegriff von Wildnis, die man möglichst mied. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus beschreibt Germanien als ein "Land (…) entweder schrecklich durch Wälder oder scheußlich durch Sümpfe".
Kulturalistische Erklärungsansätze
Mit kulturalistischen Deutungsansätzen hingegen lässt sich dieser Übergang von der schrecklichen (Wald-)Wildnis zum Sehnsuchtsort (Wald-)Wildnis sehr gut erklären. Deren Grundhypothese ist, dass ästhetisch-symbolische Wertschätzungen von Natur im Wesentlichen auf kulturell geprägten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern beruhen, die kulturgeschichtlichen Wandlungen unterliegen.
Die Kernidee der meisten kulturalistischen Deutungen von Waldwildnis lautet dabei: Natur und insbesondere Wildnis stellt eine Gegenwelt zur Kultur beziehungsweise Zivilisation dar,
Um als Waldwildnis wahrgenommen zu werden, muss ein Waldgebiet nicht frei von menschlichen Einflüssen, nicht ganz und gar natürlich entstanden sein. Es darf nur nicht als vollständig durch den Menschen kontrolliert erscheinen. Das Waldgebiet muss auch keine bestimmten ökologischen Eigenschaften haben. Überhaupt ist (Wald-)Wildnis – das mag überraschen – kein Gegenstand der Ökologie oder irgendeiner anderen Naturwissenschaft, sondern eine lebensweltliche Naturauffassung. Waldwildnis kann man mittels ökologischer Eigenschaften weder definieren noch beschreiben; man kann aber die ökologischen Eigenschaften der Ökosysteme innerhalb eines Waldgebietes beschreiben, das zuvor in ästhetisch-symbolischer Perspektive als Waldwildnis ausgewiesen worden ist – so wie man die Farben eines Gemäldes chemisch analysieren kann, ohne dadurch seinen Gehalt und seine Schönheit erschließen zu können.
Konstitutiv für die Wertschätzung von Waldwildnis ist nicht, dass sie selten geworden ist, weil die Menschen im Laufe ihrer Kulturgeschichte immer mehr Wälder gerodet oder in geordnete Wirtschaftswälder umgewandelt haben.
Wahrnehmungen von Waldwildnis sind immer subjektiv und individuell. Das heißt nicht, dass sie etwas rein Individuelles und Subjektives wären; denn sie erfolgen im Rahmen kulturell geprägter, intersubjektiv-kollektiver Wahrnehmungsmuster. Diese Wahrnehmungsmuster von Waldwildnis sind in Märchen, Gemälden, Fotografien und Filmen präsent, werden im Verlauf der Sozialisation internalisiert und leiten unbewusst unsere individuelle Wahrnehmung.
Zur Bedeutungsgeschichte von Waldwildnis
Im Folgenden sollen einige grundlegende positive Wahrnehmungsmuster von Waldwildnis in groben Zügen idealtypisch skizziert werden.
Bereits im christlichen Denken des Mittelalters finden sich neben den negativen, die überwiegen, erste positive Bedeutungen von Waldwildnis: Insbesondere ist sie erstens Zufluchtsort für Verfolgte und Geächtete, die sich – wie Robin Hood – einer ungerechten Obrigkeit entgegenstellen, zweitens analog zur Wüste arider Gebiete der Ort, an den sich Eremiten aus einer verweltlichten Kirche beziehungsweise vor den Versuchungen des weltlichen Lebens zurückziehen, um ihr Leben in Stille und Abgeschiedenheit ganz Gott zu widmen, sowie drittens der Ort der Bewährung und Reifung von Helden im Kampf gegen das Böse.
Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts werden rationalistische Philosophien formuliert, denen zufolge die Welt – weil Gott, ihr Schöpfer, allmächtig, weise und gütig ist – eine vollkommene Ordnung darstellen muss. Auf dieser Basis entsteht eine Wertschätzung von Wildnis als Ort, an dem die ursprüngliche göttliche Ordnung der Welt noch nicht durch den Menschen verändert, also noch nicht beeinträchtigt ist. Diese vollkommene göttliche Ordnung sei, so etwa der Philosoph Shaftesbury, wegen ihrer unendlichen Komplexität für den Menschen zwar nicht wissenschaftlich, aber doch ästhetisch-intuitiv erkennbar, wenn er von seinen endlichen Nutzenkalkülen und Ordnungsvorstellungen absehe; dann gelte: "Disorder becomes regular" und "the Wildness pleases".
Im Denkrahmen des politischen Liberalismus symbolisiert Wildnis primär zwar den vorgesellschaftlichen Naturzustand des Menschengeschlechts, der in einen Krieg aller gegen alle mündet (Thomas Hobbes) und durch einen Gesellschaftsvertrag überwunden werden muss. Sobald dieser Gesellschaftsvertrag geschlossen ist, erhält (Wald-)Wildnis jedoch die positive Bedeutung eines symbolischen und auch tatsächlichen Ortes, an dem das Individuum vorübergehend vollkommen frei von gesellschaftlichen Regeln und Zwängen und damit gemäß seiner eigenen individuellen Natur leben kann. Dieses Bedeutungsmuster motiviert heutzutage viele Formen der Suche nach individuellen Abenteuern in der Wildnis.
Im Übergang zur Aufklärungskritik entwickelt sich, maßgeblich durch Jean-Jacques Rousseau, die Bedeutung von Waldwildnis als Ort des Naturzustandes, in dem die Menschen noch nicht durch die Zivilisation verdorben sind, noch in Harmonie miteinander und mit der äußeren Natur leben, weil sie sich noch an sich selbst orientieren statt entfremdet an zivilisatorischen Äußerlichkeiten und Scheinbedürfnissen. Waldwildnis und die dort lebenden "edlen Wilden" symbolisieren für die zivilisierten Menschen authentische Individualität und eine auf natürlichem Mitgefühl beruhende Gemeinschaft. Nach Rousseau ist beides mit dem Zivilisationsprozess unwiederbringlich verloren gegangen, es kann aber auf höherer Stufe – die berühmte Formel "Zurück zur Natur" stammt nicht von Rousseau – ein Analogon mittels Vernunft und Tugend realisiert werden.
Auf Edmund Burke, einen der geistigen Väter des britischen Konservatismus, lässt sich die folgende Theorie zurückführen: Der Anblick erhabener Natur – gemeint sind Naturphänomene, die wegen ihrer Undeutlichkeit, Gewalt oder Unermesslichkeit im Betrachter Furcht, Schmerz oder Erstaunen hervorrufen und das Vernunftvermögen lähmen – könne statt "horror" auch "delightful horror" hervorrufen, weil er physiologisch unsere Nerven stärke und so die Funktionsfähigkeit unseres Körpers und letztlich die Selbsterhaltung fördere. So könne ein "gloomy forest" und eine "howling wilderness"
Die Romantik stellt der aufklärerischen Vernunftorientierung die Idee und individuelle Praxis der ästhetischen Neuschaffung einer zauberhaften Wirklichkeit entgegen, die jenseits der durch Vernunft versachlichten Alltagswelt liegt. So soll das vereinzelte Individuum zumindest ästhetisch wieder eine Entgrenzung des Ichs erfahren und ein Gefühl der Eingebundenheit in eine ursprüngliche Ganzheit empfinden können. Ein klassischer Topos dieser romantischen Wiederverzauberung der Welt ist der Blick über das Meer oder über waldbedeckte Hügel und Berge zum Horizont, an dem Erde und Himmel, Materielles und Immaterielles verschmelzen. Innerhalb eines Waldes sind, sofern er nicht vernünftig geordnet, sondern wild erscheint, ähnliche ästhetische Wiederverzauberungen möglich: wenn sich im Spiel der Blätter Licht und Schatten vermischen, wenn sich der Blick in die Ferne irgendwo zwischen den Baumstämmen verliert oder wenn in der Ferne zwischen den Stämmen das Sonnenlicht erstrahlt.
Im romantischen Topos der Waldeinsamkeit ist der Wald ein Rückzugsort in einer sich wandelnden Gesellschaft, eine zeitlose heile (Traum-)Welt inneren und äußeren Erlebens, ein Symbol für Dauerhaftigkeit, ein Schutzraum, in dem alte Märchen, Sagen und Werte noch lebendig erscheinen. "Waldeinsamkeit, Die mich erfreut, So morgen wie heut In ewger Zeit. O wie mich freut Waldeinsamkeit./Waldeinsamkeit Wie liegst du weit! O Dir gereut Einst mit der Zeit. Ach einzge Freud Waldeinsamkeit!/Waldeinsamkeit Mich wieder freut, Mir geschieht kein Leid, Hier wohnt kein Neid Von neuem mich freut Waldeinsamkeit." (Ludwig Tieck)
Im Rahmen des klassischen deutschen Konservatismus entwickelt der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl die Ansicht, Wildnis, insbesondere Waldwildnis, könne in den Menschen, die vereinzelt, ungesund und sündig in der Großstadt lebten, das instinktive Wissen um die Prinzipien einer guten Ordnung erneuern.
Mit dem Aufkommen der Umweltbewegung in den 1960er Jahren wird Waldwildnis zum Inbegriff vollkommener natürlicher Ordnung. Die ökologische und evolutionäre Selbstorganisation der Natur habe dort im Laufe von Jahrtausenden zu einer Organisationsweise geführt, deren Komplexität, Effizienz und Stabilität die aller anthropogenen Organisationsformen – seien es menschliche Gesellschaften oder technische Artefakte – bei Weitem überschreite. Der Umweltökonom David Rapport behauptet sogar, "that natural evolution of ecosystems represents the best of all possible worlds".
Etwa seit den 1970er Jahren wird Waldwildnis auch zum Inbegriff unregulierter Prozessualität, von Wildheit. Diese Wildnisbedeutung kann man als Ausdruck einer kulturell bedingten Sehnsucht nach Freiheit von der "Zähmung" der Instinktnatur und Triebhaftigkeit des Menschen durch die Gesellschaft interpretieren: Waldwildnis fasziniert als Ort unreglementierter, triebhafter Aktivität und Überraschung, als Ort der Entlastung von Rationalität, Konventionen, Regeln, Scham- und Ekelgefühlen zivilisierten Lebens, aus dem man vorübergehend ausbrechen möchte. So sieht der deutsche Survival-Experte Rüdiger Nehberg im Regenwald nicht wie viele andere eine "grüne Hölle", sondern eine "Herausforderung: kein Meter ohne Überraschung, gefüllte Speisekammer, action pur – grünes Paradies".
Zuletzt soll noch erwähnt werden, dass Waldwildnis statt als Gegenwelt mit bestimmten gegenkulturellen Bedeutungen auch wertgeschätzt werden kann als Ort jenseits (gegen)kultureller Symboliken: als Ort der Freiheit von intersubjektiven Sinngehalten überhaupt.
Zunehmendes Unbehagen in der Kultur?
Gemäß der hier entwickelten Interpretation, was Waldwildnis ist und warum sie wertgeschätzt wird, müsste die in den vergangenen Jahren offenbar zunehmende Sehnsucht nach ihr Ausdruck eines wachsenden "Unbehagens in der Kultur" sein. Dieses Unbehagen dürfte vor allem für ihre Grundbedeutung "Ordnung" zutreffen, insofern in unserer Gesellschaft Gefühle sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Verunsicherung zunehmen und eine problematische Individualisierung, Entsolidarisierung und Beschleunigung gesellschaftlichen Wandels empfunden wird.
Für die Grundbedeutung "Freiheit" könnte man spekulieren: Der "Freiheitsindex Deutschland 2017" konstatiert eine seit 2011 insgesamt zunehmende Wertschätzung von Freiheit, aber auch, dass die Bürgerinnen und Bürger in den vergangenen Jahren verstärkte staatliche Einschränkungen von privaten Freiheiten angesichts von Bedrohungen wie Terrorismus und Extremismus in Kauf nehmen.