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"Auch wenn wir keines Holzes mehr bedürften, würden wir doch noch den Wald brauchen. Das deutsche Volk bedarf des Waldes wie der Mensch des Weines."
Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute (1854)
Dieses vielzitierte Bekenntnis des Kulturhistorikers und Volkskundlers Wilhelm Heinrich Riehl schreibt der deutschen Baumwelt unverblümt eine nationalpolitische Bedeutung zu. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen in diesem Sinne nicht ökologische, soziale oder wirtschaftliche Funktionen des tatsächlich existierenden Waldes. Vielmehr fokussieren sie auf den Wald als Projektionsfläche für kulturelle Vorstellungen und fragen insbesondere: Wie wollten Poeten, Philologen, Publizisten und Propagandisten kollektive Identität in einer imaginierten Waldnatur begründen? Dafür wird der ideenhistorische Werdegang des "deutschen Waldes" in drei Zeitabschnitten dargestellt: nach einem knappen Blick auf die Vorgeschichte die Romantik um 1800 als weltanschauliche Inkubationsperiode, das NS-Regime von 1933 bis 1945 als ideologische Kulminationsphase sowie die Entwicklungen von der Nachkriegszeit bis heute.
Romantische Wälder
Am Anfang standen ein lateinisch schreibender Historiker und scheinbar unendliche nordische Wälder. Tacitus (ca. 55–120 n. Chr.) schilderte um das Jahr 100 in seiner "Germania" das Gebiet östlich des Rheines wenig vorteilhaft als "durch seine Wälder grauenerregend"; die dort lebenden Stämme verehrten demnach ihre Götter im "heiligen Hain" statt in steinernen Tempeln.
Auf solche älteren Denkbilder konnten unter gänzlich anderen Zeitumständen prominente Poeten, Philologen und Publizisten zurückgreifen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Natur des Waldes mit Nation und Deutschtum verknüpften. Ihr politisches Bewusstsein war bestimmt von Nachwirkungen der Französischen Revolution wie dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806, der sich anschließenden Besatzungspolitik Napoleons sowie den Kriegen gegen Frankreich von 1813 bis 1815. Angesichts der erlebten Umwälzungen suchten sie in klarer Abgrenzung vom westlichen Nachbarland intensiv nach möglichen Bestandteilen einer historischen und kulturellen Identität. Dabei verstanden sie den "deutschen Wald" als geeignetes Symbol für Tradition und Kontinuität: Seine vorgeblichen Prinzipien von Unterordnung und Ungleichheit dienten als Gegenbild zur Gesellschaftsordnung der Französischen Revolution mit ihren Werten von liberté und égalité. Somit können die "Befreiungskriege" als weltanschaulicher Nährboden des deutschen Waldpatriotismus gelten, in dem sich die Denkmuster von Nationalnatur und Naturnation folgenreich verbanden.
Als eigentlicher "Sänger des deutschen Waldes" gilt bis heute der vielgelesene Poet Joseph von Eichendorff (1788–1857).
Explizit politisch waren insbesondere Eichendorffs "Zeitlieder" aus den Jahren 1806 bis 1815: Hier erschien der Wald unter anderem als "Deutsch Panier, das rauschend wallt" – mithin als symbolische Nationalfahne.
Ein wichtiges Symbol für Identität wie Kontinuität wurde die Baumnatur auch im Werk der bedeutenden Philologen Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859).
So erschienen 1812/15 in zwei Bänden die von den Brüdern Grimm edierten "Kinder- und Hausmärchen", deren Einleitung aus der Feder Wilhelms die "Wälder in ihrer Stille" als Herkunftsregion des gesammelten Kulturgutes pries.
Auch die wissenschaftlichen Veröffentlichungen wiesen zahlreiche Bezüge zur Baumwelt auf: Jacob verstand in seiner bald breit rezipierten "Deutschen Mythologie" heilige Eichen und Haine als Orte eines ursprünglichen "altdeutschen waldcultus".
Die Idee vom Wald als Garant der Tradition durchzieht ebenso die Schriften des einflussreichen Publizisten Ernst Moritz Arndt (1769–1860).
Ausgesprochen wirkmächtig war Arndts 1815/16 veröffentlichte Artikelfolge "Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten und der Bauern", die bereits in ihrem Titel zwei für ihn ähnlich naturnahe und potenziell stabilisierende Elemente verband. Er sah Waldgebiete gewissermaßen als nationalen Wurzelgrund, den es für den Erhalt des eigenen Volkes und zum Schutz vor gesellschaftlichen Veränderungen gegen Kahlschläge zu verteidigen gelte. Ferner verlangte er in detailreichen Ausführungen umfängliche Aufforstungen und bemühte dafür unter anderem Argumente des Bodenschutzes, aber die Sorge um die Naturumgebung war hier weit weniger relevant als die um das durchgängig verherrlichte nationale Kollektiv – denn seine wahre Befürchtung war, die Axt im Walde werde "häufig zu einer Axt, die an das ganze Volk gelegt wird".
Nach 1848 blieb der "deutsche Wald" angesichts des fortbestehenden Partikularismus ein wichtiges Symbol kollektiver Zugehörigkeit, etwa für den eingangs zitierten Arndt-Schüler Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897). Sein mehrbändiges Hauptwerk "Naturgeschichte des Volkes" erklärte die Baumwelt gegen den englischen Park und das französische Feld zur stereotypischen Nationalnatur: "Wir müssen den Wald erhalten, (…) damit Deutschland deutsch bleibe."
Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Ende des Kaiserreiches geriet der "deutsche Wald" für das radikalnationalistische Spektrum noch verstärkt zum Inbegriff organisch verstandener Identität. Außerordentlich aktiv war dabei der 1923 gegründete Deutscher Wald e.V. – Bund zur Wehr und Weihe des Waldes, dem es aber weniger um die Bäume selbst als um die Bedürfnisse der Menschen ging: "Kommt, Deutsche, in den Wald hinein und lasst uns alle, alle einig sein!"
Nationalsozialistische Waldanschauungen
In den Jahren der NS-Herrschaft von 1933 bis 1945 erreichte die politische Inanspruchnahme der Baumwelt ihren Kulminationspunkt, als das entsprechende Denkmuster unter anderem die Ideologien von "Lebensraum" und "Volksgemeinschaft" legitimieren sollte. Dabei bezog sich die nationalsozialistische Propaganda so durchgängig wie selektiv auf ältere Waldbilder, ohne jedoch im eigentlichen Sinne Neues hinzuzufügen. Somit konnte der "deutsche Wald" zur Projektionsfläche für eine Vielzahl modernitätskritischer, nationalistischer, rassistischer und biologistischer Vorstellungen werden: als Gegenbild zu Fortschritt und Großstadt, als germanischer Ursprung und deutsche Heimat, als heidnisches Heiligtum und rassischer Kraftquell sowie als Vorbild sozialer Ordnung und Erzieher zur Gemeinschaft.
Schon früh erkannte die NSDAP das agitatorische und propagandistische Potenzial der Waldimaginationen. Der Reichsforstmeister, Reichsjägermeister und Oberste Beauftragte für den Naturschutz Hermann Göring (1893–1946) verstand den Nationalsozialismus in seiner Rede "Ewiger Wald – Ewiges Volk" als neuen "weltanschaulichen Unterbau" des Forstwesens.
Ein solches Denken war dann ideologische Grundlage für das Projekt "Wiederbewaldung des Ostens": Als Bestandteil der nationalsozialistischen Besatzungspolitik sollten in den "eingegliederten Ostgebieten" Danzig-Westpreußen und Wartheland ungefähr eine Million Hektar Wald aufgeforstet werden, um den im "Altreich" ermittelten Bewaldungsgrad von etwa 30 Prozent zu erreichen.
Als elementare Bedingung dafür galt die vorherige Zwangsumsiedlung dort lebender Bevölkerungsgruppen in das besetzte "Generalgouvernement" beziehungsweise in Ghettos und Konzentrationslager. Diese Deportationen begründeten die Planer mit einer angeblich planmäßigen Waldzerstörung durch "Menschen, die nicht unseres Geistes und Blutes sind".
Ein zweiter wichtiger Propagandist der nationalsozialistischen Waldanschauung war Alfred Rosenberg (1893–1946), Chefredakteur der Parteizeitung "Völkischer Beobachter". Im Zentrum seiner Weltsicht stand ein konstruierter Konflikt zwischen "Ariern" und "überstaatlichen Mächten" wie Judentum und Bolschewismus. Spätestens mit dem Erscheinen des "Mythus des 20. Jahrhunderts" 1930 nahm er für sich in Anspruch, das maßgebliche theoretische Werk der NS-Bewegung vorgelegt zu haben. Dort rechnete Rosenberg das Judentum unter die nomadischen "Wüstenvölker", denen die Fähigkeit zur Verwurzelung wie zum Staatsaufbau abgehe; in der revolutionären sowjetischen Gesellschaftsordnung sah er einem ähnlichen landschaftsbasierten Nationalstereotyp folgend den politischen Ausdruck für das "Chaos der russischen Steppe".
Zentral in Rosenbergs Bemühungen um die Umsetzung seiner weltanschaulichen Positionen agierte die NS-Kulturgemeinde, deren 1936 veröffentlichter Film "Ewiger Wald" als ihre aufwändigste Produktion gilt.
Daneben kontrastierte die Begleitpropaganda in antisemitischer Manier seit Urzeiten waldverwurzelte Deutsche mit baum- wie volksfeindlichen Kollektiven "auf ewiger Wanderschaft".
Ein solches organisches Politikverständnis postulierten auch Veröffentlichungen jenseits des Wirkungsbereichs von Rosenbergs NS-Kulturgemeinde. So beschrieb ein Buch mit dem programmatischen Titel "Der Wald als Erzieher" den Mischwald als Idealstaat, der hierarchisch gegliedert und dem höheren Zweck der Erhaltung des Ganzen verpflichtet sei.
Nachhaltigkeit deutschen Walddenkens?
Während der ersten Nachkriegsjahrzehnte half der "deutsche Wald" als vorgeblich unpolitisch-romantisches Idyll, zuerst vor der Niederlage und später vor der Teilung eine Zuflucht im Schatten der Bäume zu suchen. Weil Vergangenheitsbewältigungen überwiegend ausblieben, konnten dadurch insbesondere weniger belastete weltanschauliche Motive über den politischen Systemwechsel hinaus fortwirken. Sie finden sich beispielsweise in frühen Publikationen der ansonsten sehr verdienstvollen Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, deren Gründung 1947 primär als Reaktion auf "Reparationshiebe" der Alliierten erfolgte – und nicht als Kritik an den vorhergehenden Waldzerstörungen durch die nationalsozialistische Autarkie- und Kriegspolitik.
Zu Kronzeugen ihrer Werbung für mehr "Waldgesinnung" erklärte die Schutzgemeinschaft deutsche Walddenker und Walddichter des 19. Jahrhunderts wie Joseph von Eichendorff, die Brüder Grimm, Ernst Moritz Arndt und Wilhelm Heinrich Riehl. Auch zeigte sich ein Weiterleben der Vorstellung einer besonderen Beziehung zwischen Volk und Wald, wenn etwa in der Einleitung der 1949 erschienenen Anthologie "Uns ruft der Wald" behauptet wurde: "Wir Deutschen sind von alters her ein Waldvolk gewesen und in unserem innersten Wesen bis heute geblieben."
Stark auf die romantischen Waldbilder von Gedichten und Märchen bezogen sich noch die bundesrepublikanischen Veröffentlichungen zum "Waldsterben" in den 1980er Jahren.
Bilanzierend betrachtet haben drastisch visualisierte Voraussagen einer fast vollständigen Entwaldung dazu beigetragen, wirksame Umweltschutzmaßnahmen schneller als sonst üblich durchzusetzen. Die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Helmut Kohl beschloss umfassende Reduktionsmaßnahmen für Industrie und Verkehr, die Forstwissenschaft profitierte von einem enormen Mittelzuwachs für Forschungsprojekte – darunter die jährlichen "Waldschadensberichte", die später semantisch zu "Waldzustandsberichten" optimiert wurden. Kontrastierend zu damaligen Schreckensvisionen eines baumlosen Deutschland ist inzwischen ein Bewaldungsgrad von fast einem Drittel zu vermelden, wobei Hessen und Rheinland-Pfalz mit je 42 Prozent die Spitzenreiter sind und Schleswig-Holstein mit lediglich elf Prozent das Schlusslicht ist.
Indes ist schon seit den 1970er Jahren ein zunehmender mentaler wie tatsächlicher Abstand zum Wald zu beobachten, vor allem unter Jüngeren und Stadtbewohnern.
Schlussbemerkungen
Ideengeschichtlich erscheint der "deutsche Wald" als ein wesentlich von der Romantik um 1800 begründetes Denkmuster, das sich bis 1945 zunehmend radikalisierte und danach einer entgegengesetzten Tendenz unterlag. Es erlaubte interessengeleitete Bezugnahmen und Adaptionen, die aber meist ohne viel Rücksicht auf die ursprünglichen historischen Kontexte erfolgten. Derartige Zuschreibungen liegen jedoch nicht in der Waldnatur selbst begründet: Bäume mögen zwar Vorlieben in puncto Boden- und Klimabedingungen haben, sie vertreten aber weder politische Meinungen noch äußern sie nationale Präferenzen.
Der vorgestellte "deutsche Wald" wies allerdings immer weniger Bezug zu dem auf breiter Fläche wachsenden monokulturellen Realwald auf. Schon während der Entstehung des waldromantischen Denkens zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich die imaginierte Laubwaldwildnis im Kontrast zur forstlichen Entwicklung befunden, in der ökonomische Effizienz und statistische Erfassbarkeit der Nadelholzpflanzungen vorherrschten. Indem dieser Widerspruch noch an Schärfe gewann, kam dem Denkbild eines deutschen "Waldvolkes" – und bezeichnenderweise nicht "Forstvolkes" – eine immer stärker nostalgische Kompensationsfunktion zu.
Damit schien das Wunschbild des "deutschen Waldes" gleichsam außerhalb der Geschichte gestellt, um gegen die tatsächliche historische Dynamik eine statische Harmonie bewahren zu können. Gleichwohl lassen sich die Entwicklungsphasen deutschen Walddenkens, deren Höhepunkte in Kriegs- und Krisenzeiten fielen, mit den breiteren nationalpolitischen Tendenzen korrelieren. Die weitgehende Realitätsenthobenheit des Denkmusters erlaubte dabei sowohl die poetische Beschwörung romantischer Sehnsuchtslandschaft als auch die politische Rechtfertigung der NS-Herrschaftspraxis.
Ungeachtet seines imaginierten Charakters konnte dem Naturideal des "deutschen Waldes" historische Relevanz zukommen, sobald einflussreiche Akteure es als Projektionsfläche für gesellschaftliche oder politische Ziele gebrauchten. Im Zeitverlauf traten an die Stelle patriotischer Waldemphase rassistische und antisemitische Denkmuster, die einen unaufhebbaren Gegensatz zwischen deutschem "Waldvolk" und jüdischem "Wüstenvolk" beziehungsweise slawischem "Steppenvolk" postulierten. Ferner geriet die Baumwelt gemäß der sozialdarwinistischen Parole vom "Wald als Erzieher" zum vermeintlichen Vorbild für die Gesellschaftsordnung.
Nach 1945 wurde die Weltanschauungsnatur des "deutschen Waldes" als explizites Nationalsymbol zunehmend irrelevant. An die Stelle der über Generationen vollzogenen Denkarbeit am politischen Waldideal traten die Freizeitgestaltung in oder die Naturerhaltung zugunsten der Baumwelt. Mittlerweile soll der Gedanke der Verwurzelung nicht mehr eine Widerstandsfähigkeit gegen behauptete Feindvölker stärken, sondern gegen reelle Sturmgefahren infolge des Klimawandels schützen. Erneute waldanschauliche Aufladungen könnte ein demokratisch-rational reflektierter Naturbezug verhindern, der vergangene Entwicklungen wie die beschriebenen kritisch hinterfragt.