I. Bildung - Mittel zum einzigen Zweck?
Bildung - obwohl in aller Munde - ist kein großes Thema. Natürlich ist das paradox: Es vergeht kein Tag, an dem nicht von Wissen und Lernen, dem Aufbruch in die Informations- und Wissensgesellschaft die Rede ist. Zudem wird die Notwendigkeit lebenslangen Lernens, permanenter Weiterbildung, wird Wissen als wichtigster Rohstoff und Produktionsfaktor beschrieben. Bildung ist ein Lieblingsthema der veröffentlichten Meinung und sogar "kampagnefähig" - mit Bildung kann (wieder) Politik gemacht, können Wahlkämpfe bestritten werden. In der Tat: Nie waren in den letzten Jahren Fragen von Schule und Hochschule - den institutionellen Fixpunkten von Bildung - in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung präsenter. Und der vormalige Bundespräsident Herzog hat mit seinem Diktum vom "Megathema Bildung" (1997) ganz augenscheinlich den Nerv getroffen bzw. einen allgemeinen Trend bestätigt. Wieso kann dann das Gegenteil behauptet werden: Bildung - kein Megathema?
Bildung ist kein Thema, weil es - jenseits rituell-feiertäglicher Beschwörungen - im öffentlichen Disput und in der Praxis ausschließlich um das "Fitmachen", den raschen Erwerb verwertbaren Wissens, um (berufliche) Ausbildung und Qualifizierung, geht. Wollte man ein Megathema benennen, dann hieße es Ökonomie. Die "kollektive Konversion zur neoliberalen Sichtweise" hat längst den Bildungsbereich erreicht und beschreibt eine Perspektive, die auch hier lediglich den Markt als Legitimationsinstanz anerkennt. Schließlich ist kaum zu übersehen, dass wir es mit einer "neue(n) Begeisterung für die Ökonomie" zu tun haben. Bildung ist dabei zum semantischen Beiwerk geschrumpft; über sie wird zwar fortwährend geredet, nur wird sie nirgendwo mehr gemeint.
Nun mag das wenig aufregend und nur ein Reflex des Zeitgeistes sein. Ich plädiere dennoch dafür, einen Moment innezuhalten und eine Vergewisserung dieses Zustandes, mithin eine (auf)klärende bildungspolitische Debatte einzufordern. Denn es geht um eine, nicht nur semantische, Differenz: In der Tat bräuchte es heute einen Diskurs, eine lebhafte Erörterung, über Bildung - geführt werden aber nur Effizienzdebatten. Das ist ein Unterschied, und das Interesse gälte dann einer durchaus prinzipiellen Nachfrage: Ist bereits das letzte Wort gesprochen, reicht jene ökonomische Begeisterung, der Paradigmawechsel zur Effizienz, als ausschließliches Zukunftsprogramm? Anders formuliert: Sollen wir uns noch einen Begriff von Bildung machen? Brauchen wir eine "Besinnung auf den Sinn von Bildung" ? Die Antwort lautet: Ja! Aber dann muss das Thema zu Wort kommen, und zwar zur Gänze.
Wenn von Bildung die Rede sein soll, muss mehr als Ausbildung und Qualifizierung in den Blick genommen werden. Bildung besitzt einen "Mehr-Wert", der allerdings immer wieder grundsätzlicher Vergewisserung bedarf. An dieser Stelle geht es aber nicht um eine Untersuchung des Bildungsbegriffs, vielmehr um einige Beobachtungen, welche die ökonomische Verengung des Themas betreffen. Die Überlegungen nehmen hier ihren Ausgang: Bildung ist stets mehr gewesen, hat stets mehr als nur den funktionalen, ökonomischen (Ausbildungs-)Aspekt bedeutet. Auf eine knappe Formel gebracht: Der Begriff wird hier als Chiffre dafür gelesen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt "sich nicht auf Marktbeziehungen" reduzieren lässt. Bildung meint damit einen umfassenderen ökonomischen, soziokulturellen und politischen Zusammenhang, der nicht zuletzt mit Blick auf Fragen der Globalisierung Aufmerksamkeit verlangt. Zu Recht ist etwa darauf hingewiesen worden, dass den Bedingungen innergesellschaftlicher Integration - was hält die Gesellschaft zusammen? - in dieser Zeit besonderes Interesse gelten muss. Bildung ist ein solcher Integrationsfaktor, der allerdings bei einseitig ökonomischer Akzentsetzung ins Abseits gerät.
II. Fortschritt ins Private?
Es gibt mittlerweile auch im Bildungsbereich Anzeichen für den "Abbau der gemeinwohlorientierten öffentlichen Infrastruktur" . Angesichts notorisch knapper Kassen verabschiedet sich die öffentliche Hand in kleinen, aber stetigen Schritten aus der flächendeckenden Verantwortung für die Finanzierung des Bildungssystems bzw. lässt sich diese Verantwortung abnehmen. Die Erwartungen richten sich - fortwährend gesteigert - auf den privaten Sektor. Gängige Stichworte sind hier z. B. Sponsoring und Werbung oder - mit Blick auf die Hochschulen - Drittmittel und Stiftungslehrstühle. Die Überschrift lautet Public Private Partnership. In der Schule deutet sich inzwischen eine Entwicklung an, die sich mit der Bezeichnung Pflicht/Kür charakterisieren lässt. Der Rückzug beginnt mit dem mittlerweile offen ausgesprochenen Eingeständnis, dass in Zukunft von Seiten des Staates nicht mehr alles finanzierbar sein wird. Nun ist die inhaltliche und finanzielle Gewährleistung von Schulen und Hochschulen nach wie vor öffentlicher Auftrag - noch. Denn wenn die öffentliche "Pflicht" durch die private "Kür" ergänzt, abgerundet werden soll und muss, bleibt die Frage nach der perspektivischen Ausrichtung des Bildungssystems bzw. die nach den zu erwartenden "Systemeffekten". In der Tat ist nicht zu übersehen, dass "die Privatisierung von Bildung - über die Finanzen - Fortschritte (macht)" und eine darüber zu führende öffentliche Debatte drängend wird.
Die öffentliche Hand steht nun allerdings vor Finanzierungsfragen, die nicht problemlos, gleichwohl aber ausdrücklich politisch zu beantworten sind. Angesichts der allein im Schulbereich landauf-landab nicht enden wollenden Querelen um die Ausstattung der Etats bedarf es der Verständigung darüber, was denn - quantitativ wie qualitativ - zukünftig überhaupt noch unter öffentlich verantworteter Bildung - Ausbildung und Qualifizierung eingeschlossen - verstanden und wo dementsprechend investiert werden soll. Zudem ist die Vermutung nicht aus der Luft gegriffen, dass der (implizite) Auftrag der Schule, "Bildung und Erziehung" auch in ihrer sozialen Dimension zu gewährleisten, heute immer drängender wird. Hier formuliert sich m. E. eine Grundsatzfrage, die auch mit Blick auf die verfügbaren öffentlichen Ressourcen, zugleich aber mit Blick auf den überkommenen Auftrag von Schule, neu definiert und akzentuiert werden muss.
Aber zurück zum eingangs formulierten Problem: Wollen wir wirklich, dass die Unterscheidung zwischen dem öffentlichen Raum Schule und dem wirtschaftlichen Bereich qua Werbung/Sponsoring aufgehoben wird? Noch jedenfalls definiert sich Schule durch eine Innen-Außen-Differenz, auch gegenüber der Wirtschaft. Schließlich kann man nicht auf der einen Seite Werteabstinenz, Orientierungslosigkeit und Konsumorientierung ("Spaßgesellschaft") bei Schülerinnen und Schülern beklagen und sich auf der anderen Seite genau die dazu passende "Infrastruktur" in die Schule holen. Es sei denn, man formulierte ganz ausdrücklich, dass es auch in der Schule in erster Linie um eine Orientierung auf Märkte und die Erziehung von Konsumenten geht. Dann bestünde tatsächlich "die ganze Idee der Schulbildung . . . darin, die Jugendlichen für ihren Eintritt in das Wirtschaftsleben ihrer Gesellschaft kompetent zu machen" . Hier liegt im Übrigen ein Paradoxon, mit dem sich Schule heute ganz offensichtlich konfrontiert sieht: Sie soll ausbügeln, was zuvor (jenseits der Institution Schule) bewusst und sehr (markt)konform angelegt und eingeübt worden ist. Die gesamtgesellschaftlich in Gang gesetzte "Plünderung der Gemeinwesensubstanz" soll von der Schule sozusagen im Alleingang und auf Knopfdruck wettgemacht werden. Das Schlagwort von der "Werteerziehung" klingt in den Ohren!
Der Verfassungsrechtler Dieter Grimm spricht von einer "verbreiteten Tendenz in der Gesellschaft, gegen Geld Autonomie zu verkaufen", und demonstriert das ebenfalls am Thema Sponsoring. Dabei werde "viel zu wenig erkannt, dass der kurzfristige Nutzen, den solche Spenden erbringen, mit einer Langfristeinbuße an . . . Autonomie erkauft wird" . Der Hinweis ist interessant, weil sich mit ihm ein Phänomen ansprechen lässt, das sich in neuer Qualität präsentiert. Gesponsert wird längst nicht mehr nur vor dem Hintergrund begrenzter Image- und PR-Effekte sowie allgemeiner gesellschaftspolitischer "Landschaftspflege", sondern mit Blick auf strategisch orientierte und unmittelbare Mitgestaltung. Damit verflüchtigt sich der politische Gestaltungsauftrag bzw. droht ein Verlust konzeptioneller Autonomie: Politik und Staat verabschieden sich in kleinen, aber stetigen Schritten aus der gestaltenden Verantwortung für Bildung.
Während Politik und Administration unter den tagespolitischen Anforderungen stöhnen und das System, den "Tanker", in schwierigem Fahrwasser, bei finanzieller Ebbe und hohem (medialem) Außendruck, irgendwie flottmachen bzw. flotthalten müssen, wird die konzeptionelle Arbeit - wie sollen Schule und Hochschule, Ziele und Prozesse des Lernens und Lehrens zukünftig aussehen und ausgerichtet sein? - zunehmend mit der Unterstützung privater Dritter organisiert. Hier spielt sich eine freundliche Übernahme eigener Art ab: Die Tage klassischer Lobbyarbeit scheinen gezählt - man macht es gleich selbst. Rolf Wernstedt, ehemaliger Kultusminister in Niedersachsen, hat das mit Blick auf die von Bertelsmann und dem ehemaligen Bundespräsidenten Herzog gemeinsam organisierten Bildungsforen beschrieben und hinzugefügt: "Die Bildungsdebatten finden, was ihre Wirksamkeit und Kraft angeht, kaum mehr in den Schulen und Hochschulen (mithin: den politisch-parlamentarischen Institutionen; D. J.) statt. Was Bildung ist und zu sein hat, bestimmen die Bedürfnisse der New Economy." Ob New oder Old Economy - das Thema Wirtschaft ist mit einer Heftigkeit in Schule und Hochschule angekommen, die noch vor wenigen Jahren zumindest Nachfragen herausgefordert hätte. Zwar ist der praxisorientierte Kontakt von Wirtschaft und Schule zu begrüßen, zu fragen bleibt aber, ob die Ökonomie der eigentliche, gar ausschließliche Takt- und Ratgeber von Schule und Hochschule sein soll. Man muss Public-Private-Partnership nicht als "Anfang vom Ende öffentlicher allgemeiner Schulen und Universitäten" charakterisieren, sollte sich aber Rechenschaft darüber geben, wohin die Reise gehen soll.
III. Wissensgesellschaft - Abschied von der Schule
Es gibt weitere Indizien dafür, dass "die Grenzen zwischen Öffentlich und Privat, Staatsaufgaben und gesellschaftlicher Sphäre immer stärker verschwimmen" und auch die Organisation und Gewährleistung von Prozessen formalisierter Bildung von einer öffentlichen zur Privatsache werden könnte. So ist es kein Zufall, dass sich der Rückzug öffentlichen Engagements mit einem über die Informations- und Kommunikationstechnologien induzierten Strukturwandel verbindet. Die technologisch-wirtschaftlichen Akteure der angekündigten Informations- und Wissensgesellschaft springen in die bestehenden finanziellen und konzeptionellen Breschen. Hier verschränkt sich der "neue Glaube" an Bildung mit der Heilsgewissheit und dem Mythos der neuen Medien. Dabei ist die Prämisse bereits anerkannt bzw. vorausgesetzt, dass die neuen Medien, einschließlich Internet, (auch) in Bildungsfragen den maßgebenden Dreh- und Angelpunkt darstellen. Der Einsatz und die Gewichtung von Computern, Multimedia, Internet in Schule und Unterricht wird kaum hinterfragt, vielmehr bildungspolitisch als Universalantwort vorgestellt: "So offen wie heute ist noch nie die Misere des Bildungs- und Ausbildungssystems als Ruf nach technischen Lösungen verstanden worden."
Hier schließt sich der Kreis: Es ist nur folgerichtig, wenn diejenigen, welche die Schule (und andere Bildungseinrichtungen) materiell-technisch an die Erfordernisse der Informations- und Wissensgesellschaft anschließen - also dementsprechend ausstatten -, sich zugleich inhaltlich-konzeptionell einmischen. Jedenfalls ist die These nicht von der Hand zu weisen, privates Sponsoring (etwa) von Schulen sei das wirtschafts-, finanz- und bildungspolitische Instrument für die gesellschaftliche und ökonomische Durchsetzung der Informationsgesellschaft im Bildungsbereich . Im Kontext der Digitalisierung deuten sich weitere Fragen an. Der Abschied von der neuzeitlichen Schule mit ihren inhaltlichen Vorgaben und Curricula wird nach Kräften betrieben, aber nicht reflektiert. Die Schule gerät zusätzlich zu den ohnehin drückenden Problemen in weitere Zielkonflikte und Dilemmata. Marianne Gronemeyer hat das auf eine knappe Formel gebracht: "Wenn die Schule den Modernisierungsforderungen nicht nachkommt, wird sie abgehängt, wenn sie ihnen nachkommt, macht sie sich überflüssig." Die Schule, die wir kennen, ist auf diesem Weg, es gibt bereits einen stillen Strukturwandel der Schule. Der Digitalisierungsschub, der z. Zt. (nicht nur) die Schule und ihr gesellschaftliches Umfeld erfasst, führt langsam aber stetig zu einer Neustrukturierung der Voraussetzungen und Bedingungen, auf deren Grundlage unsere Bildungsinstitutionen ruhen. Im Vollzug technologischer Anpassungsprozesse und in Reaktion auf die "informatische Revolution" wird auch die Schule als Veranstaltung im öffentlichen Raum schrittweise zur Disposition gestellt . Es ist nicht ohne Ironie, dass sich damit die radikale Schulkritik der sechziger und siebziger Jahre wieder in Erinnerung bringt: Die "Entschulung der Gesellschaft" wird jetzt möglicherweise im technologisch-soziokulturellen Wandel erreichen, was den Vordenkern eines "demokratischen Bildungssystems" (Ivan Illich) nicht gelungen ist - wenn auch mit durchaus anderen Vorzeichen.
IV. Bildung - Lückenbüßer der Gerechtigkeitsdebatte
Trotz allem macht Bildung derzeit eine handfeste Karriere: Sie mausert sich zu einem strategischen Bezugspunkt der Gerechtigkeitsdebatte und füllt in den Auseinandersetzungen um die Zukunft und Modernisierung des Sozialstaats und der Arbeitsgesellschaft zunehmend eine theoretisch-programmatische Lücke. "Bildung" wird als Referenzbegriff für die ungeklärten Problemlagen der Republik etabliert. Die traditionelle Diskussion um Solidarität und Gerechtigkeit, Teilhabe und Chancengleichheit wird dabei Zug um Zug auf Perspektiven öffentlicher Gewährleistung einer individuellen Grundausstattung reduziert. Man spricht von Bildung, um über anderes nicht (mehr) reden zu müssen; man packt ihr wenn nicht alles, so doch vieles von dem auf, was Politik nicht mehr zu tragen, zu begründen und zu vertreten bereit ist. Bildung ist so zum Beispiel zu einem Zentralbegriff in der Diskussion um den "Dritten Weg" und zum "neuen Mantra" geworden. Auch das weist in Richtung verstärkter Privatisierung: Über Ausbildung/Qualifizierung wird dem Einzelnen eine Basis, eine "Anschubfinanzierung", gegeben ; sodann sind Staat, Gesellschaft, Politik gegenüber einem Individuum, das jetzt für sich selbst zu sorgen hat, "aus dem Schneider". Erinnert sei hier an die Thesen der sächsisch-bayrischen Zukunftskommission, die das Ziel definiert, "die Bevölkerung . . . gemäß den Lebens- und Wirtschaftsbedingungen (der) unternehmerischen Wissensgesellschaft" zu qualifizieren. Dabei wird der Schule explizit die Rolle zugedacht, über "Persönlichkeitsformierung"(!) eine "gründliche Allgemeinbildung und die Vorbereitung auf die Arbeitswelt" zu erreichen. Die Frage, "wie . . . wir Sicherheit und Gerechtigkeit in der ,Wissensgesellschaft' (organisieren)" , ist dann zur öffentlichen Entlastung und mit Blick auf das "Einstiegskapital" (Bildung als Ausbildung/Qualifizierung) im Wesentlichen geklärt. Bildung erscheint als programmatischer Fluchtpunkt eines Weltbildes, das nur den Markt bzw. die Menschen als "Kuratoren ihres Humankapitals" zur Kenntnis nimmt. Andererseits läge das "übergreifende Ziel der Politik des dritten Weges" in der Tat darin, "den Menschen dabei zu helfen, ihren eigenen Weg innerhalb der großen Transformationen unserer Zeit zu finden" - nämlich hier mit Blick auf Bildung und Bildungspolitik für eine "Ausstattung" zu sorgen, die über den engen Horizont von Ausbildung/Qualifizierung (weit) hinausgeht. Bliebe die Frage, was sich Politik heute überhaupt noch zutrauen kann und zutrauen will, um gegenüber der Wirtschaft nicht noch weiter ins Hintertreffen zu geraten. Es mutet jedenfalls fast nostalgisch an, heute daran zu erinnern, dass mit Bildung "keine Angelegenheit des ökonomischen und technischen Bedarfs, sondern (ein) Bürgerrecht, eine einklagbare Verfassungsnorm des demokratischen und sozialen Rechtsstaates" angesprochen ist.
V. Ausblick auf ein Megathema
"Die Antwort auf unsere behauptete oder tatsächliche Orientierungslosigkeit ist Bildung - nicht Wissenschaft, nicht Information, nicht die Kommunikationsgesellschaft, nicht moralische Aufrüstung, nicht der Ordnungsstaat." Der Zustand unseres Gemeinwesens stimmt wenig optimistisch, denn mittlerweile brennt es nicht nur am Rand, sondern in der Mitte der Gesellschaft. Dass das auch etwas mit Fragen einer "ganzen" Bildung, dem viel zu lange vernachlässigten Nachdenken über Sinn, Ziele und Prioritäten institutionalisierter Bildungs- und Erziehungsbemühungen jenseits der Ausrichtung an der "Doktrin der Marktorthodoxie" zu tun haben könnte, wird, aller Aufregung um "Werteverfall" und Rechtsextremismus zum Trotz, noch immer kaum wahrgenommen . Eine zur "Ich-AG" mutierte Gesellschaft - die das Soziale, den gesellschaftlichen Zusammenhalt, zwar noch im Munde führt, aber nicht mehr im Alltag vorlebt und politisch-programmatisch umsetzt - verlangt von ihren Bildungsinstitutionen einen unmöglichen Spagat: nämlich das, was an sozialer, zivilgesellschaftlicher Substanz verloren gegangen ist und weiter verloren geht, kurzfristig auszugleichen, zugleich dem wachsenden Druck globalisierter ökonomischer Anpassungsprozesse (mit fortwährend gesteigerter "Exzellenz" und "Leistung") Paroli zu bieten. Auch hier stehen Bildung und Ausbildung in einem, letztlich unauflösbaren, Spannungsverhältnis. Denn "wie . . . können langfristige Ziele verfolgt werden - wenn man im Rahmen einer ganz auf das Kurzfristige ausgerichteten Ökonomie lebt?"
Wo bleibt das Positive? Der Vorschlag lautet: Dem Thema Bildung (und Erziehung) wieder mehr Sensibilität und Aufmerksamkeit entgegenbringen, das Thema Bildung "für voll" nehmen. Zugegeben - dafür bräuchte es eine Art Gestaltwandel in der Wahrnehmung gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Zusammenhänge, eine veränderte Haltung gegenüber den Herausforderungen dieser Zeit . Immerhin - es gibt öffentliche Stimmen, die sich zunehmend deutlicher artikulieren: Erinnert sei an den gemeinsamen Bildungskongress der evangelischen und katholischen Kirche, der - etwa mit Blick auf eine "verhängnisvolle Industrialisierung des Bildungswesens" (Kardinal Lehmann) - Zeichen gesetzt hat . Es gibt Nachdenklichkeit, Einspruch und Widerspruch, ein erneuter Diskurs zum Thema Bildung ist möglich. Was aber "ist" Bildung? Wie kann man sich ihr nähern? Man wird hier, am Rande bemerkt, keine nostalgische, gar pflichtgemäße Rückbesinnung auf Humboldt, schon gar keinen Kanon verpflichtender "Bildungsgüter" bemühen müssen. Die Dinge liegen, denke ich, einfacher - und schwieriger zugleich. Bildung bleibt eine auf die Aufgabe gesellschaftlicher Integration gerichtete, gemeinwohlorientierte politische Kategorie: Unter welchen Prämissen, mit welchen Zielen soll sich diese Gesellschaft - nicht nur, aber auch mit Blick auf nachwachsende Generationen - miteinander einrichten? Man mag das - oben ist von einer Chiffre die Rede gewesen - ebenfalls als "regulative Idee" bezeichnen, so, wie sie Ernst Fraenkel mit Blick auf den Begriff des Gemeinwohls als zentrale Kategorie pluralistischer Demokratie beschrieben hat. Damit käme jenes "Mehr" an Bildung zur Sprache und zur Entfaltung, das eingangs angedeutet worden ist. Ein (pragmatischer) Kern von Bildung ließe sich durchaus als Ausbildung und Qualifizierung bestimmen, wenn zugleich das, was darüber hinausreicht, ausdrücklich mit gedacht, mit thematisiert und mit diesem pragmatischen Kern in Beziehung gesetzt würde . Wie ließe sich das praktisch - im Ansatz - bestimmen? Ich schließe mich hier Hartmut von Hentig an, der auf sechs orientierende "mögliche Maßstäbe" hinweist, was als Ziel, Zweck und Ergebnis von Bildung "nicht fehlen" darf :
1. Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit;
2. die Wahrnehmung von Glück;
3. die Fähigkeit und den Willen, sich zu verständigen;
4. ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz;
5. Wachheit für letzte Fragen;
6. die Bereitschaft zu Selbstverantwortung und Verantwortung in der res publica.
Mir scheint das nach wie vor ein sehr konkreter Hinweis für eine überfällige, grundsätzliche Entscheidung zu sein. Wenn wir uns darauf verständigen, solche Maßstäbe und Fragen mit in den Blick zu nehmen und um deren Realisierung und Beantwortung ernsthaft zu ringen, beginnen wir, über Bildung zu reden. Das wäre dann in der Tat ein Megathema.