I. Nach den rauchenden Schloten
Großformatige Gesellschaftsbegriffe sind ohne Zweifel attraktiv. Wie ein gelungenes Markenimage spielen sie mit dem Zeitgeist und prägen kollektive Befindlichkeit. Unter dem Signum der Wissensgesellschaft lassen sich Forschungsprogramme ansiedeln, Konferenzen organisieren und Kontroversen austragen. Wie zuvor die Dienstleistungsgesellschaft kann auch die Wissensgesellschaft gefördert, verschlafen oder in Abrede gestellt werden. Kurz, ein jedes "Gesellschaftsparadigma" versammelt ein Spektrum von Ideen, Trends und Experten, die versprechen, die augenblickliche Lage der Gesellschaft auf den Begriff zu bringen. Und wovon kündet die Wissensgesellschaft?
Der Terminus selbst ist nicht neu. Bei allen Veränderungen im Detail, welche die inzwischen rund 40 Jahre alte Vision der Wissenschaftsgesellschaft durchlaufen hat
Das Bestechende dieser Vision liegt nicht zuletzt in der Schlichtheit ihrer Annahmen. Je größer das allgemeine Aufheben um die Wissensgesellschaft, desto verschwommener mutet ihr eigentlicher Gegenstand an. Gleichgültig, welcher Definition von Wissen man sich anschließt, ob man dieses als Handlungskompetenz oder eher als geistige, auf wahre Aussagen zielende Größe auffasst, gemeinhin wird Wissen als universales, sozusagen allgegenwärtiges Phänomen verstanden. Wenn Wissen jedoch weder ein historisch neues noch ein knappes Gut ist, dann stellt sich die Frage, worin das Charakteristikum der Wissensgesellschaft besteht.
Je unbestimmter der Wissensbegriff, den die Wissensgesellschaft zugrunde legt, desto problematischer gestaltet sich ihre Abgrenzung von den Gesellschaftsformationen, die sie nun ablösen soll. Lässt sich denn im Ernst behaupten, Wissen habe bei der Industrialisierung, etwa der Entstehung der Elektro- oder Chemiebranche, keine oder eine untergeordnete Rolle gespielt? Und worin bestünde der kategoriale Unterschied zwischen den Kompetenzen eines Maschinenbauers und der Webdesignerin? Mehr noch, selbst der im 15. Jahrhundert entstandene Buchdruck ist bereits als Prototyp neuzeitlicher Wissensproduktion beschrieben worden.
Die Vorstellung einer Ablösung der Industrie - durch die Wissensgesellschaft verkennt, wie eng, ja symbiotisch die Beziehungen zwischen dem Industrie- und dem Wissensgewerbe seit jeher sind. Entsprechend könnte sich die Verkündung des bevorstehenden Paradigmenwandels als vorschnell erweisen. Der augenblickliche Strukturwandel lässt sich auch unter entgegengesetzten Vorzeichen interpretieren. Diese, zugegeben weniger populäre Sichtweise prophezeit eine durchgreifende Industrialisierung der Wissenserzeugung. Professionelles Wissen wäre demzufolge nicht länger primär Ressource, sondern selbst Gegenstand der Automatisierung. Anzeichen dafür sind die Standardisierung und Programmierung menschlicher Entscheidungsvorgänge in Form von Expertensystemen. Schenkt man den nanotechnologischen Visionen von Ray Kurzweil
Verantwortlich für die Industrialisierung des Wissens sind, so Matthias Wingens
Alles in allem kann das Modell einer nachindustriellen Wissensgesellschaft nicht wirklich überzeugen. Weil es mit paradigmatischen Gegensätzen spielt, verstellt es den Blick auf Veränderungen, die sich in der Konstitution, gewissermaßen im Inneren des Wissens, vollziehen. Diese aber lassen sich nur verstehen, wenn man den medialen Umbruch in der Formierung von Wissen berücksichtigt.
II. Erschütterung der Wissenschaftsordnung
An der Oberfläche äußern sich diese Veränderungen nicht zuletzt in semantischen Verschiebungen. Die inzwischen geläufige Gleichsetzung von Wissen mit Information ebnet allmählich den Unterschied ein zwischen dem Nachrichtenwert, der aus Daten gewonnen werden kann, und der Verstandes- bzw. Urteilskompetenz, die im Wissen ankert. Setzt der Erwerb von Wissen individuelle Erfahrung und reflexive Aneignung voraus, sind der Geltungsbereich und die Halbwertzeit von Informationen demgegenüber doch vergleichsweise gering. Eine Entdifferenzierung zwischen beiden Handlungskompetenzen liefe - entgegen den Grundannahmen der Wissensgesellschaft - faktisch auf eine Abwertung von Wissen in "vorläufige Endprodukt(e) umherliegender Erkenntnis- und Erfahrungsrohlinge"
Die semantischen Verschiebungen sind das ferne Echo eines Umbruchs im Inneren des Wissens, der medialen Ursprungs ist. Ausgelöst durch die Digitalisierung ändern sich die Bedingungen für die Erzeugung und Konservierung, die Verbreitung und Nutzung von Wissen in grundlegender Weise. Langfristig mögen sich die informationstechnischen Auswirkungen auf die Konstitution von Wissen als ähnlich weitreichend wie jene des Buchdrucks erweisen.
Die Digitalisierung entstofflicht den gesellschaftlichen Wissensfluss; sie löst ihn auf in elektrische Ladungen, einer in Nullen und Einsen ausgedrückten Folge von Rechenoperationen. Die Substanz des digitalen Werks unterscheidet sich folglich nicht länger von den Werkzeugen, mit denen es geschaffen, verbreitet und gelesen wird. Der Text, das Bild und der Ton bestehen aus dem gleichen Material wie die Software, die sie erzeugen. Die Kurzformel für diesen Sachverhalt lautet, dass in der digitalen Welt Lese- und Schreibrechte eine Einheit bilden: "Wo Werk und Werkzeug in eins fallen, ist jeder ,Nutzer' gleichzeitig Hörer, Bearbeiter und Komponist."
Im Unterschied zum klassischen Druckwerk ist sein digitales Pendant daher immer nur vorläufig fixiert. Die Unterscheidung zwischen Original und Kopie, zwischen Nachdruck und Nutzung wird obsolet. Und der im Buchdruck gründenden Institution der autorisierten Originalfassung kommen unversehens die technischen Voraussetzungen abhanden. Selbst die heute so verehrte Figur des Autors mag irgendwann wieder in dem amorphen Ideenfluss untergehen, aus dem sie vor rund 250 Jahren herausgetreten ist.
Auf den ersten Blick nehmen sich die neuen Lese- und Schreibfreiheiten, die uns die Informationstechnik beschert, wie ein Sakrileg aus. Erschüttern sie doch die ideellen und materiellen Grundfesten einer über Jahrhunderte gewachsenen Wissensarchitektur. Bei näherem Hinsehen wird man jedoch feststellen, dass der Konstitutionswandel des Wissens seit längerem in den gesellschaftlichen Alltag eindringt und dort Spuren in Form neuer Kommunikationsrituale, Kunststile, Konsum- und Produktionsweisen hinterlässt.
Digitale Wissensobjekte sind in Bewegung. Ihr flexibler, transitorischer Charakter zeigt sich in der Software durch laufende Updates, in der Musik im Samplen und Remixen von "Ohrwürmern", ja sogar im Schriftstück, das sich in Form des Hypertexts von der linearen Seitenordnung emanzipiert. Und doch ist es kein Zufall, dass das kreative Potenzial digitaler Wissensschöpfung in der Softwareentwicklung am deutlichsten zutage tritt. Weltweit verstreute Gemeinden von Programmierern demonstrieren die praktischen Möglichkeiten vereinter Lese- und Schreibrechte im Rahmen von Kooperationsprojekten. Jeder, der mag, kann sich beteiligen, indem er Programmcodes für Funktionen beisteuert, die er nützlich findet. Der veränderungsoffene, durch die "General Public Licence"
Auch in der Zirkulation von Wissen, der Voraussetzung gesellschaftlichen Erkenntnisgewinns, bewirkt die Digitalisierung radikale Veränderungen. Der Computer hat das Kopieren in einen gleichermaßen trivialen wie universalen Mechanismus zur Diffusion digitalen Gedankenguts verwandelt. Die Besichtigung von Websites, das Laden, Lesen und Drucken von Texten, jeder Mausklick löst potenziell einen Kopiervorgang aus.
Dank des Internet sinken die Transaktionskosten für die Verbreitung von Informationen gegen null. Jedes im Netz verfügbare Werk lässt sich beliebig oft und ohne Qualitätsverlust kopieren. Aus Sicht der Nutzer bewirkt das eine noch vor wenigen Jahren unvorstellbare Erweiterung des sachlichen wie geographischen Erfahrungshorizonts. Je stärker sich das Internet ausdehnt, desto umfangreicher wird der weltweit archivierte Wissensvorrat. Es findet sich kaum mehr ein Schlagwort, zu dem eine der besseren Suchmaschinen keine brauchbaren Resultate liefern kann.
III. Verteilungskonflikte um Wissen
Der Mehrwert geteilten Wissens veranlasst Optimisten zu der Hoffnung, das Internet werde den weltweiten Zugang zu Wissen demokratisieren. Wau Holland, der im Juli dieses Jahres verstorbene "Bitschmied", Mitgründer und Alterspräsident des Chaos Computer Clubs, gehörte hierzulande zu den Vordenkern dieser Idee: "Der Computer ist eine Maschine zum Kopieren und Verändern von Bits."
Die Unterscheidung zwischen freien Ideen und Fakten auf der einen und ihrer individuellen Form auf der anderen Seite entwickelte sich zum konzeptionellen Fundament eines zeitlich wie sachlich expandierenden Arsenals von Eigentumsrechten. Von chemischen Verbindungen wie dem Brustkrebsgen bis zu den "look and feel"-Komponenten einer Benutzeroberfläche reichen die heute durchsetzbaren Besitzansprüche.
Der englische Begriff des Copyrights markiert den Dreh- und Angelpunkt des Urheberprivilegs: die Kontrolle über die Vervielfältigung geistigen Eigentums. Vervielfältigungsbeschränkungen, die für analoge Wissensgüter vergleichsweise leicht durchsetzbar waren, verändern durch die Digitalisierung, welche die Unterscheidung zwischen Nutzung und Nachdruck aufhebt, ihre ursprüngliche Bedeutung. "In der digitalen Welt verlangt selbst der routineförmigste Zugriff auf Information unausweichlich die Herstellung einer Kopie"; so beschreibt der Amerikanische National Research Council das digitale Dilemma.
In der Grauzone zwischen legaler und illegaler Praxis der Wissenszirkulation breitet sich derweil ein neuer Typ des Verteilungskonflikts aus. Verlage und Verwertungsgesellschaften gehen inzwischen mit digitalen Plomben, Wasserzeichen und Nutzungslizenzen gegen die Routinehandlung des Kopierens vor. Gewiefte Praktiken des "reverse engineering"
Der Wandel im Inneren des Wissens wird sich irgendwann auch in einer erneuerten Wissensordnung niederschlagen müssen, wenn diese nicht als zu eng gewordenes Korsett verkümmern soll. Eine Wissensordnung, welche die digitalen Lese- und Schreibrechte als Quelle kollektiver Kreativität förmlich anerkennt, hätte im Übrigen zweifellos Rückwirkungen auf das Verhältnis zwischen Industrie- und Wissensgewerbe. Denn wenn uns der Planet Internet eines lehrt, dann ist es wohl der Autonomiegewinn in der Verfolgung eigener Ideen, der aus der lose vernetzten Vielfalt teils konkurrierender, teils kooperierender Anwendungs- und Verwertungskontexte entspringt.
Es bleibt die Frage, wie wohl ein Urheberrecht aussähe, das im digitalen Zeitalter entworfen worden ist und ausdrücklich darauf zielte, die Gemeinwohleffekte frei zirkulierenden Wissens mit individuellen Gratifikationsansprüchen neu auszubalancieren.
Internetverweise der Autorin:
Newsticker, auf denen sich täglich aktuelle Meldungen zu den einschlägigen Themen finden:
www.heise.de (deutsch)
http://www.fitug.de/news/horns/index.html (überwiegend deutsch)
www.wired.com (englisch)
Internetmagazine mit längeren Beiträgen:
Telepolis: http://www.heise.de/tp/ (überwiegend in deutsch)
http://www.firstmonday.dk/ (peer-reviewed internet journal, englisch)
Mailinglisten und moderierte Kommunikationsdienste:
Fitug e.V. (Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft)
Mailingliste von Fitug zu finden unter: www.fitug.de (in Deutsch)
Moderierter Kommunikationsdienst:
www.slashdot.org (in Englisch)
Wissenschaftliches Forschungsprojekt zu offenem Kode und offenen Inhalten:
Berkmann Center an der Harvard Law School:
http://cyber.law.harvard.edu/projects/opencode.html
Linux Sites für Entwickler:
www.suse.de