I. Die Expansion der Verfassungsgerichtsbarkeit
Das 20. Jahrhundert hat in seiner zweiten Hälfte einen 1945 nicht vorhergesehenen globalen Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit erlebt. Das Bundesverfassungsgericht, im Grundgesetz des Jahres 1949 vorgesehen und 1951 errichtet, ist ein Teil dieses Prozesses und in bedeutendem Maße auch Impulsgeber dieser Entwicklung.
Vor 1945 hat es nur in vier Ländern eine Verfassungsgerichtsbarkeit unterschiedlichen Umfangs gegeben, so im klassischen Pionier- und Mutterland der Verfassungsgerichtsbarkeit, in den USA, in der Schweiz, in Österreich und in Irland. Erst nach 1945 beginnt die bis zur unmittelbaren Gegenwart andauernde Expansion der Verfassungsgerichtsbarkeit. Den Anfang machten Staaten mit Diktaturerfahrungen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts wie Italien (1948/1956) und die Bundesrepublik Deutschland (1949/1951). Diesem Muster folgten in den siebziger Jahren Spanien, Portugal und Griechenland nach ihrem Systemwechsel zur Demokratie und nach 1989 die "Transformationsstaaten" in Ost- und Südosteuropa. Längst aber hatte sich die Verfassungsgerichtsbarkeit als adäquater Ausdruck und Schlussstein des Verfassungsstaats so überzeugend be-währt, dass die Institution auch ohne Systemwechsel zum Normalbestandteil einer gewaltenbalancierenden Verfassung wurde, so in Belgien (1984), länger schon in den skandinavische Staaten, und verbreitet auch außerhalb Europas z. B. in den Commonwealth-Ländern (Australien, Canada, Indien), in Lateinamerika, in Afrika und Ostasien. Ganz fehlt eine Verfassungsgerichtsbarkeit z. B. in den Niederlanden.
Als neue Institution des deutschen Staatslebens hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) rasch den normativen Mantel des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes wirkungsvoll ausgefüllt, sich seinen Platz als oberster verbindlicher Interpret des Verfassungsrechts und der Verfassung gesichert und vor allem grundsätzliche Anerkennung gefunden.
Das Wort vom Gang nach Karlsruhe ist in Deutschland so sprichwörtlich geworden wie der Satz, dass Karlsruhe entschieden hat. Zu Recht hat vor zwei Jahren anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums des Grundgesetzes einer der besten ausländischen Kenner des deutschen Verfassungsrechts, der Franzose Michel Fromont, den Satz geprägt: "Das Bundesverfassungsgericht ist die einzige völlige Neuschöpfung des Grundgesetzes. Es ist auch die auf der ganzen Welt wohl bekannteste deutsche Einrichtung."
In der Tat bedeutete die Einführung einer umfassenden, eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit einen qualitativen Entwicklungsschub für das deutsche Staatsrecht. Das Bundesverfassungsgericht und seine Rechtsprechung haben wiederholt als Vorbild gewirkt, wie überhaupt ein beträchtlicher Einfluss des deutschen Verfassungsrechts in Spanien, Portugal, Südkorea und Südafrika zu verzeichnen ist. Ähnlich verhält es sich in den südosteuropäischen und osteuropäischen Staaten und ihren neuen Verfassungsgerichtsbarkeiten. Neben dem Supreme Court zählt das Bundesverfassungsgericht zu den Verfassungsgerichten mit der größten Ausstrahlung auf andere Gerichte.
II. Überblick über die Verfassungsgerichte der Welt
1. Die Typen der Verfassungsgerichtsbarkeit
Für einen ersten Überblick über die weite Landschaft der Verfassungsgerichte in der Welt empfiehlt sich die vielfach verwendete und schon klassisch gewordene Einteilung von zwei Typen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Der eine Typ ist das amerikanische, erstmals beim Supreme Court (S. C.) ausgebildete Modell, bei dem Verfassungsgerichtsbarkeit als Funktion, nicht als eigene Institution erscheint und sie deshalb vom obersten Gericht wahrgenommen wird. Der S. C. vereinigt die Funktionen des obersten Gerichts im normalen Instanzenzug mit der Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit in einem einheitlichen Gericht (Einheitsmodell). Zu diesem Typ gehören die meisten Staaten des Commonwealth wie Australien, Neuseeland, Canada, Indien auch Irland, die Schweiz und die skandinavischen Staaten sowie die Mehrzahl der südamerikanischen Länder. Demgegenüber hat erstmals der Verfassungsgerichtshof in Österreich und dann das BVerfG den Typ des eigenständigen und damit institutionell verselbstständigten Gerichts verwirklicht (österreichisch-deutsches Modell). In Europa hat in den letzten Jahren eindeutig dieses Trennungsmodell die Oberhand gewonnen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass im Einheitsmodell die Gerichte zum Teil deutlich geringere Kompetenzen haben, in neuerer Zeit aber kompetenzstarke Verfassungsgerichtsbarkeiten begründet werden sollen. Zu diesem Typ gehören etwa Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Liechtenstein, Spanien, Polen, Portugal, Türkei, Ungarn, Tschechien und Russland.
2. Die typusprägenden Merkmale der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit
Will man die Position des deutschen Bundesverfassungsgerichts in der weltweiten Landschaft der Verfassungsgerichte verorten, dann empfiehlt es sich zunächst die typusprägenden Merkmale aufzulisten.
1. An erster Stelle ist die institutionelle Selbstständigkeit des Bundesverfassungsgerichts neben - oder richtiger - über den obersten Fachgerichten zu nennen.
2. Wegen seiner institutionellen Verselbstständigung ist das Bundesverfassungsgericht aus dem Zusammenhang der Gerichtsbarkeiten in einem Maße herausgehoben und in eine Sonderrolle hineingestellt, dass eine Qualifikation als Verfassungsorgan erwägenswert wird, wie sie in § 1 BVerfGG - unter dem Beifall der Lehre - zum Ausdruck gebracht wird. Diese im internationalen Vergleich wohl wenige Parallelen findende Formel stellt das Gericht in eine dezidierte Nähe zu den politischen Verfassungsorganen. Sie ist deshalb problematischer, als es die ständige affirmative Zitierung vermuten lassen könnte.
3. Das Bundesverfassungsgericht hat sehr weite - man ist geneigt zu sagen, die denkbar weitesten - Zuständigkeiten; es hat eine international gesehen einzigartige Kompetenzfülle. Das BVerfG hat alle Zuständigkeiten der traditionell diskutierten (aber vorher selten verwirklichten) Staats-Gerichtsbarkeit als Entscheidung über Streitigkeiten zwischen den obersten Staatsorganen und zusätzlich mit der Verfassungsbeschwerde die breitflächige Kontrolle über das Staatshandeln gegenüber dem Bürger. Diese Kombination konstituiert das BVerfG als umfassendes Verfassungsgericht. Die Kurzcharakteristik der wichtigsten Verfahrensarten belegt dies:
- Der Organstreit ist eine Verfahrensart, die tief in die spezifischen politischen Konflikte zwischen den obersten Organen hineinführt. Er ist insoweit die "politischste Verfahrensart". Auslöser eines Verfahrens können der Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident, Parteien, Fraktionen und einzelne Abgeordnete sein.
- Der Bund-Länder-Streit macht das Bundesstaatsverhältnis der gerichtlichen Entscheidung zugänglich. Er hat in den fünfziger Jahren Schrittmacherdienste für die Etablierung der Verfassungsgerichtsbarkeit geleistet.
- Mit der Zuständigkeit für (abstrakte und konkrete) Normenkontrollen zur Überprüfung der Verfasssungsmäßigkeit hat das BVerfG eine Zuständigkeit, die zum Kern der Verfassungsgerichtsbarkeit gehört. Gleichwohl ist sie schwierig, weil sie das Gericht unmittelbar mit dem Gesetzgeber konfrontiert und das vom Parlament, dem demokratischen Hauptorgan, beschlossene Gesetz zum einzigen Entscheidungsgegenstand macht.
- Die Verfassungsbeschwerde ist eine in ho-hem Maße bürgerbezogene Verfahrensart: Jedermann kann sich mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in seinen Grundrechten verletzt zu sein, nach Erschöpfung des Rechtswegs an das BVerfG wenden. In der Regel richtet sich die Beschwerde gegen das letztinstanzliche Gerichtsurteil (sog. Urteilsverfassungsbeschwerde). In dieser Gestalt erreicht sie Zahlen von 4 500-5 000 Beschwerden pro Jahr. In diesen großen Zahlen und der Einschlägigkeit für nahezu alle Gebiete des Rechts führt die Verfassungsbeschwerde zur Veralltäglichung und der Verfassungsgerichtsbarkeit - ein Ergebnis, das in kaum einem anderen Land eine Entsprechung findet.
3. Rechtsvergleichung in Sachen Verfassungsgerichtsbarkeit: Notwendigkeit und Funktion
Bei der Rechtsvergleichung im Verfassungsrecht geht es nicht darum, die vielfältigen, auf der gesamten Welt verwirklichten Modelle als eine Art Warenhauskatalog zu verstehen, aus denen das beste ausgewählt wird. Rechtsvergleichung ist nicht immer oder primär auf der Suche nach besseren Varianten oder immer nur eine Vorstufe von Reformforderungen, sondern häufiger und tiefer verstanden eine wichtige Methode, das eigene Recht im Spiegel anderer Rechtsordnungen in seinen Vor- und Nachteilen besser zu verstehen. Insofern will das Vergleichen der weltweiten Verfassungsgerichtsbarkeiten einen Normalbaustein der Architektur gegenwärtiger Verfassungen in seiner Vielfalt und seinen Binnenvarianten verständlich machen. Die Verfassungsgerichtsbarkeit (als Funktion oder eigene Institution) ist geworden. Gerade deshalb darf man aber keine Einheitlichkeit im Umfang und Gewicht ihrer Zuständigkeiten, in der Kontrollintensität und generell in ihrer Rolle gegenüber den obersten Staatsorganen erwarten. Der notwendige Vergleich hat vielfache Themen, hier steht der Umfang der Zuständigkeiten im Vordergrund.
Konstitutiv für die heutige Verfassungsgerichtsbarkeit und Kern ihrer Zuständigkeiten ist ein Verfahren zum Zweck der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen. Der verbreitete Konsens über die Berechtigung, ja Notwendigkeit einer Normenkontrolle ist nicht selbstverständlich. In Ländern, in denen die Souveränität des volksgewählten Parlaments als Basis des Verfassungslebens angesehen wird, ist der gedankliche Weg zur Anerkennung einer Kontrolle eben dieses Parlaments sehr weit und voraussetzungsvoll. Frankreich, ein klassisches Land dieses Denkens, kennt die Normenkontrolle nur als präventive Kontrolle vor Inkrafttreten des Gesetzes auf Antrag hoher Verfassungsorgane. Für das Vereinigte Königreich mit seiner noch stärker ausgeprägten Tradition der Parlamentssouveränität ist die Normenkontrolle bis vor kurzem ganz fernliegend gewesen. In den letzten Jahren gab es einige bedeutende Schritte in Richtung Normenkontrollen (am Maßstab der europäischen Menschenrechtskonvention).
Aus dem gleichen Grund sehr voraussetzungsvoll und außerdem von der Verfassungstradition und -kultur der einzelnen Länder abhängig ist die Anerkennung des Organstreits, also des (gerichtsförmigen) Austragens von Streitigkeiten oberster politischer Organe nach Maßstäben des Rechts durch ein Gericht. Deshalb verwundert es nicht, dass die nach dem Grundgesetz selbstverständliche Verfahrensart des Organstreits in anderen Verfassungsstaaten häufig fehlt, so z. B. in USA, Frankreich und im Vereinigten Königreich. Damit sind die wichtigsten politischen Auseinandersetzungen zwischen den obersten Verfassungsorganen dem Gericht und der Gerichtsbarkeit entzogen. In der Frage der Judizialisierung der politischen Streitigkeiten der obersten Verfassungsorgane besteht also ein deutlicher Dissens innerhalb der Verfassungsstaaten. Insoweit sind die historischen Erfahrungen und die daraus folgende Grundhaltung darüber, ob diese Konflikte besser durch Gerichte oder durch den sich selbst überlassenen politischen Prozess entschieden werden, geteilt. In den USA, in Frankreich und sicherlich auch im Vereinigten Königreich hat man insofern ein politischeres Verständnis des Staatslebens und seiner Konflikte und geht stärker von einer gewissen Eigenständigkeit der politischen Sphäre im Verhältnis zum Bereich des Rechts und der Gerichte aus. Letztlich spiegeln sich in den verschiedenen Bestimmungen des Verhältnisses von Verfassungsgericht und Politik Unterschiede in dem, was man oft etwas pauschal, politische Kultur nennt, was aber im Kern doch richtig gekennzeichnet ist.
Ein weiterer Unterschied im Typ, den man als den zwischen Staatsgerichtshöfen und Verfassungsgerichtshöfen bezeichnen könnte, liegt darin, ob auch der einzelne über die Verfassungsbeschwerde Antragsberechtigter und damit Mitspieler im Streit um die Verfassung ist oder nicht. Im ersten Fall wird das Gericht als umfassendes Verfassungsgericht tätig und "verlebendigt" die Verfassung im Alltag der Bürgerinnen und Bürger; im zweiten Fall agiert es eher als klassischer Staatsgerichtshof und damit möglicherweise in einer gewissen Ferne zum Alltag. Ebenso wichtig und vor allem die praktische Bedeutung der einzelnen Verfassungsgerichte determinierend ist der Umstand, ob die Urteilsverfassungsbeschwerde zulässig ist; denn sie bringt die große Menge von Fällen an das betreffende Gericht heran.
4. Ausgewählte Länder
Im Folgenden sollen diese allgemeinen Bemerkungen an einigen Ländern und ihren Traditionen konkretisiert werden zunächst bei den Staaten mit einer integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit. In den USA ist der U.S. Supreme Court das oberste Instanzgericht, als solches unbestritten Revisionsinstanz. Zur Eingliederung in die ordentliche Gerichtsbarkeit kommt als weiteres systemprägendes Merkmal hinzu, dass der Supreme Court generell auf konkrete Rechtsstreitigkeiten konzentriert ist - deshalb gibt es keinen Ansatz zu abstrakten Normenkontrollen, sondern Gesetzesprüfungen finden nur aus konkretem Anlass statt (Erfordernis von case or controversy). Im Rahmen der appeals gibt es eine Art konkreter Normenkontrolle bei certified questions; der S. C. entscheidet aber nicht selbst, sondern gibt gegebenenfalls eine Instruktion an das vorlegende Gericht. Es kommen erstinstanzliche Zuständigkeiten für Streitigkeiten zwischen Bund und Gliedstaaten (und diesen untereinander) hinzu. Rang und Glanz des Supreme Courts entstammen seiner aus konkreten (Rechtsmittel)Fällen hervorgehenden Rechtsprechung zu Verfassungs- und insbesondere Grundrechtsfragen.
Eine lange, auf das Jahr 1874 zurückgehende Tradition der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit hat die Schweiz , die in ihrer am 1. Januar 2000 in Kraft gesetzten neuen Verfassung die bisherige Stellung des Bundesgerichts aufrechterhalten hat. Es handelt sich um eine eingeschränkte Verfassungsgerichtsbarkeit, weil die Normenkontrolle für Bundesgesetze fehlt. Die im Bundesstaat systemadäquate Verfahrensart der föderativen Streitigkeiten sind in der Schweiz seit langem vorgesehen, sie sind die einzige erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesgerichts. Im Übrigen ist der entscheidende Zugang zum Bundesgericht über die Berufung eröffnet und durch die in der Verfassung und im konkreten Gesetz ermöglichte Zuständigkeitsbegrenzung zugleich eingeschränkt. Eine Totalrevision der Gerichtsbarkeiten (nach der Totalrevision der Verfassung) ist im Februar 2001 eingeleitet worden; durch sie soll insbesondere das Bundesgericht von der Fehlentwicklung zur "Urteils-Fabrik" bewahrt werden. Im Lande der ausgebauten direkten Demokratie muss die Reform auch das hier auftauchende (Rang)Verhältnis zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und den direkten Abstimmungen des Volkes klären.
Zu den Staaten mit einer verselbstständigten Verfassungsgerichtsbarkeit gehören wie erwähnt Deutschland, Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Liechtenstein, Spanien, Polen, Portugal, Türkei, Ungarn, Tschechien und Rußland . Im europäischen Mutterland der verselbstständigten Verfassungsgerichtsbarkeit Österreich knüpft die Innovation der Verfassung der 1. Republik von 1920 funktional an die - ebenfalls sehr bedeutenden - Traditionen insbesondere des Österreichischen Reichsgerichtshofes an, der seit 1867/1868 Prüfung von Verwaltungsmaßnahmen an verfassungsmäßigen Rechten vornahm. Die eigentliche Neuerung besteht in der Erfindung eines verselbstständigten Verfassungsgerichtshofs. Er hat (insbesondere seit der Einführung der konkreten Normenkontrolle 1929) ein breites Spektrum an Zuständigkeiten , angefangen bei den naheliegenden Bund-Länder-Streitigkeiten über Kompetenzkonflikte bis zu den (präventiven, abstrakten sowie den konkreten) Normenkontrollen. Die Verfassungsbeschwerde umfasst nicht die Urteilsverfassungsbeschwerde.
In Frankreich gab es von 1789 bis 1958 keine Verfassungsgerichtsbarkeit: In der Verfassung der 5. Republik von 1958 wurde vor allem eine gerichtliche Klärung der Abgrenzung zwischen dem Parlament und seiner Gesetzgebungsgewalt und der Regierung und ihrer Verordnungsgestalt eingeführt mit der ursprünglichen Absicht, das Parlament in Grenzen zu halten. Die Judikatur hat sich indes anders und ausgreifender entwickelt. Dies betrifft vor allem die Normenkontrolle, die zwar nur als präventive Kontrolle auf Antrag oberster Organe vorgesehen aber inhaltlich wirkungsvoll ausgeweitete worden ist. Seit der bahnbrechenden Entscheidung des conseil constitutionnel vom 16. Juli 1971 sind der Verfassung von 1958 die umfassenden Grundrechte der Deklaration von 1789 und der Verfassung von 1946 hinzugefügt und damit ist der Kontrollmaßstab beträchtlich erweitert worden. Die praktische Relevanz der Normenkontrolle ist 1974 durch eine gewichtige Ausdehnung des Antragsrechtes (auch auf Minderheiten in beiden Kammern) stark erhöht worden. Generell ist der Organstreit nicht vorgesehen; der wichtige Spezialfall der Abgrenzung der rechtsetzenden Gewalt des Parlaments von der Verordnungsgewalt der Regierung ist aber anerkannt, er gehört zum Kern des Verfassungssystems. Verfassungsbeschwerden und konkrete Normenkontrollen gibt es nicht.
Ähnliche Kompetenzen wie das Bundesverfassungsgericht hat der spanische Tribunal Constitucional und annähernd die gleiche der italienische Corte Costituzionale (vorgesehen in Verfassung von 1948, errichtet 1956 ). Hingewiesen sei noch auf die Verfassungsgerichte in Südosteuropa, die mit recht umfassenden Zuständigkeiten als selbstständige Verfassungsgerichtshöfe errichtet worden sind. Der beste Kenner dieser Entwicklungen, Georg Brunner, betrachtet das Verfassungsgericht in Ungarn "gegenwärtig wohl als das mächtigste und aktivste Exemplar seiner Art in der ganzen Welt" . Eine kräftige Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit ist in Südkorea seit deren Errichtung 1987 zu verzeichnen und ein besonderer Fall der Rezeption ist Südafrika .
5. Die Besonderheit des BVerfG im Spiegel anderer Verfassungsgerichte
Unter dem Aspekt des Vergleichs erweist sich als maßgebliches Merkmal des BVerfGs nicht nur die Existenz der oben geschilderten Einzelelementen, sondern wichtiger und ausschlaggebend ist deren Kombination. Deshalb liegt die eigentliche Besonderheit der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit in der Verbindung von institutioneller Selbstständigkeit mit der Urteilsverfassungsbeschwerde und dem Organstreit. Die institutionelle Verselbstständigung des Verfassungsgerichts erhält mit der Urteilsverfassungsbeschwerde erst ihre eigentliche Krönung. Deshalb übersteigt das deutsche Modell das Vorbild des österreichischen Verfassungsgerichtshofs beträchtlich; man kann es auch als einen eigenen Typ verstehen. Das Bundesverfassungsgericht hat - als weiteres Kennzeichen - mit dem Organstreit und der Normenkontrolle alle relevanten Rechtsprechungsaufgaben im originär politischen Bereich.
Was in der Rechtsvergleichung noch zur Untersuchung aussteht, ist die Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Praxis der Rechtsprechung selbst. Zu fragen wäre nach dem je spezifischen Verständnis der Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit ausgedrückt in der Intensität der Überprüfung, in der Art und im Umfang der Anreicherung des Gehalts des Verfassungsrechts durch die Interpretation der einzelnen Gerichte. Die interessanteste Frage also ist die, was die einzelnen Gerichte in ihrer Rechtsprechung aus den Verfassungstexten "machen", wie die Normen, die oft stark übereinstimmen, in und durch die Interpretation unterschiedlichen Inhalt und Gewicht erhalten.
III. Das BVerfG im europäischen Kontext
1. Das BVerfG als Bestandteil einer europäischen Architektur der Verfassungsgerichte
Bisher war vom Siegeszug der (nationalen) Verfassungsgerichtsbarkeit und von der Erfolgsgeschichte des BVerfG die Rede. So richtig diese Urteile sind, so unvollständig sind sie inzwischen geworden. Nichts hat sich in den letzten Jahren an der Qualität der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte in den verschiedenen europäischen Ländern gemindert - und trotzdem hat sich ihre Bedeutung beträchtlich gewandelt. Die nationalen Verfassungsgerichte haben den Wandel vom Solitärgericht an der Spitze der Gerichts-Pyramide eines Landes hin zum Mitspieler in einem größeren Konzert von Höchstgerichten in Europa erlebt. Die nationalen Verfassungsgerichte sind Teil einer Gesamtarchitektur von Verfassungsgerichten in und für Europa geworden. In ihr prägt sich die horizontale Dimension des Verbundes und des Dialogs der nationalen Verfassungsgerichte untereinander stärker aus; hinzugetreten ist auch das in der Vertikalen angelegte Verhältnis zum EuGH (und dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte EMRG), das Züge einer Rang- und Überordnung jener europäischen Gerichte annimmt. Kraft dieser Veränderung des Umfelds (bzw. ihrer verstärkten Wahrnehmung) können zunehmend Bürger(innen) des eigenen Landes Rechtsschutz vor Gerichten außerhalb des Staates erlangen. Insoweit ist der vielberufene Himmel über Karlsruhe nicht mehr völlig frei, sondern teilweise besetzt.
Diesen Prozess kann man mit einer Abwandlung des bekannten Worts von Hegel über den Flug der Minerva erst in der Dämmerung veranschaulichen und erklären. Jürgen Habermas fasst Hegels Auffassung so zusammen: Hegel sei der Auffassung gewesen, dass jede historische Gestalt im Augenblick ihrer Reife zum Untergang verurteilt sei. Man muss sich Hegels voraussetzungsvolle Geschichtsphilosophie und schon gar nicht die Untergangsprophetie zu eigen machen , um zu erkennen, dass eine "historische Gestalt im Augenblick ihrer Reife" Veränderungen ausgesetzt ist und dass eine Institution, auf einem gewissen Höhepunkt angelangt, typischerweise von neuen Entwicklungen überformt werden kann. Die nationalen Verfassungsgerichte sind in den letzten Jahren nicht bewusst reformiert worden, sie haben sich jedoch durch die Veränderungen ihres Umfeldes und ihrer Umwelt nachdrücklicher verändert , als dies eine formelle Novellierung der einschlägigen Rechtsgrundlagen hätte tun können. Anlass für einen Abgesang auf die (nationale) Verfassungsgerichtsbarkeit besteht jedoch nicht, schließlich ist ihre Aufgabe nicht abgeschafft, sondern selbstverständlich beibehalten, verbreitert und ausgedehnt worden. Was in der Gesamtarchitektur der Verfassungsgerichte im Europa der Europäischen Union und des Europarats stattfindet, ist nicht der Abbau, sondern die Verdoppelung der Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit im Verbund der nationalen Verfassungsgerichte und des EuGH bzw. EGMR.
2. Zum Verhältnis des EuGH zum BVerfG
Die Entwicklung sei noch in einigen Einzelheiten nachgezeichnet. Das Grundgesetz hat von vornherein in einem europäischen Bezugsfeld und internationalen Kontext gestanden. Bereits in den fünfziger Jahren entstanden auf europäischer Ebene Gerichte, zu denen sich das Bundesverfassungsgericht in Beziehung setzen musste: der EGMR in Straßburg, der die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch die einzelnen Staaten prüft , und der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg als höchste Instanz für den Bereich des europäischen Gemeinschaftsrechts. Die gewachsene und hochentwickelte Grundrechtsjudikatur des EMRK ist längst zu einer gleichberechtigten und beachtenswerten Interpretation der Grundrechte geworden . Im Weiteren hat das BVerfG auch schon erkennen müssen, dass der EGMR das letzte Wort hat, gerade auch dann, wenn das Verhalten des BVerfG (überlange Prozessdauer) Anlass zur berechtigten Kritik gegeben hat. Im Ganzen gesehen kann das Ergänzungs-Verhältnis zweier auf hohem Niveau judizierender Gerichte dem Grundrechtsschutz in Europa nur förderlich sein. Seit ihren Anfängen ist die Bedeutung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, welche die verstärkte europäische Integration begleitete und vorantrieb, objektiv groß gewesen. Die deutsche Öffentlichkeit wie auch das Bundesverfassungsgericht haben die Bedeutung dieser Europäisierung freilich erst mit großer Verspätung zur Kenntnis genommen. Der entsprechende Wandel trat erst mit der Debatte um den Vertrag von Maastricht 1992/93 in das allgemeine Bewusstsein.
Die Bedeutung der europäischen Integration hat das Bundesverfassungsgericht denn auch zunächst nur am Rande beschäftigt, vor allem im Bereich der Grundrechte. Hier stand es früh vor dem Problem, ob es das so genannte Sekundärrecht der Europäischen Gemeinschaft - also EG-Richtlinien und Verordnungen - an den im Grundgesetz verbürgten Grundrechten messen durfte. Diese Frage war deswegen besonders drängend, weil die Europäischen Verträge keinen Grundrechtskatalog enthielten und der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung der fünfziger und sechziger Jahre keinen eigenen Grundrechtsstandard für das Sekundärrecht entwickelte. Das Bundesverfassungsgericht reagierte darauf 1974 mit seiner so genannten "Solange"-Rechtsprechung: Danach behielt es sich vor, das europäische Sekundärrecht an den Grundrechten des Grundgesetzes zu messen, solange auf europäischer Ebene kein adäquater Grundrechtsschutz gewährleistet war. Diese Judikatur war ursächlich dafür, dass der Europäische Gerichtshof nunmehr verstärkt eine eigene Grundrechtsrechtsprechung entwickelte. Infolge dieser Entwicklung geht das Bundesverfassungsgericht seit 1986 davon aus, dass auf europäischer Ebene ein den deutschen Standards im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz gewährleistet ist. Die Beziehung zwischen beiden Gerichten beschreibt es als ein "Kooperationsverhältnis", in dem "der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften garantiert, das Bundesverfassungsgericht sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards . . . beschränken kann" . In seiner Maastricht-Entscheidung hat das BVerfG 1993 überdies bekräftigt, dass es weiterhin prüfen wird, ob europäische Rechtsakte sich in den Grenzen jener der europäischen Ebene zugewiesenen Kompetenzen halten. Damit und mit dem Vorbehalt hinsichtlich der unabdingbaren Grundrechtsstandards behält es sich eine Art Notzuständigkeit vor, um in Ausnahmefällen sicherzustellen, dass die europäische Ebene ihre Kompetenzen nicht überdehnt bzw. grundrechtliche Mindeststandards garantiert bleiben. Obwohl das BVerfG in der Maastricht-Entscheidung im Gesamtduktus das so genannten Kooperationsverhältnis konfrontativ und assymetrisch zu seinen Gunsten formuliert hatte, hat es in der Folgezeit von den postulierten Vorbehalten keinen Gebrauch gemacht, sie also eher als virtuelle Vorbehalte im Raum stehen lassen, obwohl einige Autoren in der Literatur und Antragsteller in konkreten Verfahren dazu aufgefordert und dies angemahnt hatten. Es ist also Besonnenheit und Gelassenheit eingetreten, die dem Thema und dem Verhältnis zweier solcher Gerichte angemessen ist. Der Grundrechtsschutz in Europa, der in Arbeitsteilung zwischen den nationalen Verfassungsgerichten und den beiden europäischen Gerichten vorzunehmen ist und der darin nur gewinnen kann und wird, eignet sich nicht für zuspitzende Debatten über den Inhaber der Souveränität oder der so genannten Kompetenz-Kompetenz. Es ist stattdessen klug und vernünftig, diese Fragen in der Schwebe zu belassen und in der Praxis einen wirkungsvollen Grundrechtsschutz zu bewirken und dies geht nur in der beschriebenen Arbeitsteilung.
3. Bilanz
Mit der zunehmenden Europäisierung der Rechtsordnung verliert das BVerfG erkennbar die Exklusivität der Prüfung und Kontrolle des in Deutschland geltenden Rechts. Dem darin liegenden Be-deutungsverlust steht aber die bedeutsame Möglichkeit gegenüber, Einfluss auf der europäischen Ebene zu gewinnen und über den Europäischen Gerichtshof zum Beispiel die Grundrechtsstandards gemeinschaftsweit mitzugestalten. Es ist eine verkürzte Perspektive, wenn man die neue Situation nur oder vorwiegend in Begriffen wie Einbindung, Verlust der Exklusivität u. ä. interpretiert und nicht die Bedeutung der neuen Aufgabe und Herausforderung insgesamt sieht. Diese bestehen in der Ausbildung und Mitgestaltung der europäischen Verfassungsordnung auf den beiden Ebenen der Nationalstaaten und der Union, in der Ausgestaltung des europäischen Verfassungsraums insgesamt. Mit dieser Aufgabe weitet sich auch die Rolle des BVerfG und die der anderen Verfassungsgerichte. Diese Mitwirkung an dem weit über den nationalen Staat hinausreichenden Verfassungsraum Europas ist die - positive - Kehrseite der Europäisierung. Darin sind beträchtliche Entwicklungschancen für die nationalen Verfassungsgerichte enthalten.
Das große Thema der Europäisierung von Verfassungsrechtsprechung bzw. der Verfassungsgerichte in Europa kann hier nicht einmal ansatzweise behandelt werden, im vorliegenden Zusammenhang ist lediglich eine abschließende Bewertung vorzunehmen. Bei der Teilnahme an der geschilderten neuen Aufgabe, den Grundrechtsschutz, die Rechtsstaatlichkeit sowie andere Prinzipien des Verfassungsstaats im europäischen Rahmen auszubauen, haben Deutschland und das BVerfG schon große Erfolge gehabt - man denke an das Auslösen der Grundrechtsentwicklung oder an den "Export" des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Das deutsche Verfassungsrecht hat so große Erfolge gehabt, wie ein Teil des Ganzen, wie ein Staat und ein Gericht unter 15 Staaten nur haben können. Dass dabei auch Prinzipien und Denkweisen anderer Varianten des westlichen Verfassungsstaates und des gemeinsamen europäischen Rechtsbewusstsein in das werdende verbindliche gemeineuropäische Verfassungsrecht eingehen und als solches auch auf Deutschland einwirken, ist selbstverständlich und bei diesem Prozess mitgedacht. Wer solche Ein- und Rückwirkungen von außen beklagen will, verkennt die Gesetzmäßigkeiten des Integrationsprozesses. Er müsste zudem erst einmal von Fall zu Fall darlegen, warum die aus anderen westlichen Traditionen stammenden Prinzipien und Annahmen für das deutsche und europäische Verfassungsrecht schädlich sind, warum sie nicht stattdessen je zu erwägende und abzuwägende Binnenvarianten aus einem gemeinsamen Grundbestand des europäischen-westlichen Verfassungsdenkens sind. Der nationale Betrachter muss oder sollte jedoch so viel innere Souveränität haben, dass er die Möglichkeit einräumt, das eigene Recht könnte auch von Alternativen in den anderen Rechtsordnungen lernen und ihm könnte auch in einigen Punkten die Rezeption von Varianten gut bekommen. Der Gewinn ist die neue und zusätzliche Aufgabe des Mitwirkens am gesamteuropäischem Grundrechtsschutz und der Erstreckung der gefundenen Lösungen auf den gesamten Raum der Gemeinschaft. Gewinn entsteht auch aus dem intensiven Dialog mit andern Verfassungsgerichten, der für die neuen Phase unerlässlich ist und der einen ausgeweiteten Problemhorizont und das Denken in mehr Alternativen mit sich bringen wird. An diesem Ausbau einer verbindlichen gemeineuropäischen Verfassungsordnung gestaltend mitzuwirken, ist eine große und bleibende Aufgabe der nationalen Verfassungsgerichte. Die beiden europäischen Gerichte in Straßburg und Luxemburg sind dazu - schon aus Gründen ihrer sonstigen großen Belastung - nicht allein imstande. Dies ist eine Aufgabe zur gesamten Hand für die nationalen Verfassungsgerichte und die beiden europäischen Gerichte, oder genauer gesagt: dies kann zur Aufgabe zur gesamten Hand werden, wenn die nationalen Verfassungsgerichte ihre Aufmerksamkeit nicht nur nach innen auf die eigene Rechtsordnung, sondern auch nach außen auf den gesamten Verfassungsraum Europas wenden.