I. Grundlagen
1. Verfassungsorgan und höchstes Gericht
Am 7. September 2001 feiert das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) seinen 50-jährigen Geburtstag - einen Geburtstag, der auf eine Erfolgsgeschichte fast unvergleichlichen Ausmaßes zurückblicken lässt. Das vom Gundgesetz (GG) vorgesehene und im Einzelnen durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) vom 12. März 1951 (BGBl. I S. 243) ausgestaltete BVerfG gehört zu den herausragenden Schöpfungen der grundgesetzlichen Verfassungsordnung. Ebenso historisch wie rechtsvergleichend verkörpert das BVerfG eine Institution, die ihresgleichen sucht und die zu den tragenden Grundlagen der ersten stabilen Demokratie und des ersten stabilen Rechtsstaates auf deutschem Boden geworden ist. Wenn man so will, kann man mit J. Isensee davon sprechen, dass "das Bundesverfassungsgericht der neue Praeceptor Germaniae geworden ist" . Die Judikatur des BVerfG gehört zu den großen geistigen Leistungen des Landes.
Das BVerfG ist zum wirklichen Hüter der Verfassung geworden. Es repräsentiert eine enorme Autorität, die im Übrigen weit über das rein Rechtliche hinausweist. Seiner Position und Struktur nach ist das BVerfG ein Gericht (vgl. Art. 92 GG). Darüber hinaus ist es jedoch auch ein originäres Verfassungsorgan, wie nicht nur der einfache Gesetzgeber in § 1 I BVerfGG, sondern auch das Gericht selbst stets und deutlich betont. Als Hüter der Verfassung hat das BVerfG naturgemäß und vor allem die Aufgabe, über die Einhaltung und Wahrung der grundgesetzlichen Verfassungsordnung durch die anderen Staatsgewalten, namentlich durch die Gesetzgebung, zu wachen. Tatsächlich reicht die Rolle des BVerfG jedoch längst über eine solche rein kontrollierende Tätigkeit hinaus. So sparsam das GG selbst seinerzeit gefasst war, so sehr sich der Verfassungsgeber von 1949 also auf die Festlegung der grundlegenden Verfassungsprinzipien konzentrierte und damit der weiteren Verfassungsentwicklung wie Verfassungsinterpretation wesentliche Entwicklungsspielräume eröffnete oder vorbehielt, so sehr hat das BVerfG gerade dieses Mandat der konkretisierenden Verfassungsinterpretation und eines auch vielfältig interpretativ verdichtenden Verfassungswandels aufgenommen bzw. übernommen. Rund 130 000 Verfahren und über 100 Bände der Amtlichen Sammlung der Rechtsprechung des BVerfG mit rund 40 000 Seiten spiegeln diese Bilanz des BVerfG in schon äußerlich eindrucksvoller Weise wider. Ohne den permanenten Rückgriff und die ebenso permanent notwendige Rückvergewisserung bei der Rechtsprechung des BVerfG lässt sich das gegebene deutsche Verfassungsrecht nicht mehr praktizieren und längst nicht mehr vollständig begreifen. Aber nicht nur dies: Das BVerfG ist kraft seiner herausragenden Autorität längst auch zu einem realen Teil der politischen Staatsleitung insgesamt geworden. Dass dies wiederum auch prinzipielle Zweifel aufwerfen kann, wird noch zu verdeutlichen sein.
2. Entstehungeschichte
So eindeutig das BVerfG eine grundlegend neue Institution im System des deutschen Verfassungsrechts darstellt, so eindeutig sind auf der anderen Seite die verfassungsgeschichtlichen Wurzeln und Vorläufer, die - durchaus konsequent - auf eine Einrichtung wie das heutige BVerfG hingewiesen haben bzw. seine Institutionalisierung als entwicklungsgeschichtlichen Abschluss einer stabilen rechtsstaatlichen Demokratie erscheinen lassen. Rechtsvergleichend wie rechtsgeschichtlich ist bei alledem zwischen einer formell wie institutionell eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie das BVerfG heute darstellt, und einer Verfassungsgerichtsbarkeit zu unterscheiden, die im Rahmen der allgemeinen bzw. sonstigen Gerichtsbarkeiten angesiedelt ist (implizite Verfassungsgerichtsbarkeit). In letzterer Hinsicht ist beispielsweise der Supreme Court der USA, aber auch etwa das Schweizerische Bundesgericht zu nennen. Die deutsche Rechtsentwicklung tendierte dagegen schon früh zu einer auch formell eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, deren erste Wurzeln man schon in der Rechtsprechung etwa des Reichskammergerichts entdecken kann.
Entscheidende Weichen stellte die Paulskirchenverfassung von 1849, die dem damals vorgesehenen "Reichsgericht" bereits formelle Verfassungsstreitigkeiten, wie den Organstreit, bundesstaat-liche Streitigkeiten und die Verfassungsbeschwerde zuwies. Im Deutschen Bund gab es nach 1815 verschiedene Ansätze für eine Staatsgerichtsbarkeit auf Länderebene. Das System der Reichsverfassung von 1871 kannte Vergleichbares dagegen nicht. Im Kaiserreich von 1871 wurde die Funktion der materiellen Verfassungsgerichtsbarkeit vornehmlich beim Bundesrat verortet. Die Weimarer Verfassung von 1919 schuf dagegen erstmals auf Reichsebene einen Staatsgerichtshof, der eine echte gerichtliche Instanz namentlich für föderale Verfassungsstreitigkeiten darstellte. Ein komplettes Verfassungsgericht verkörperte der Weimarer Staatsgerichtshof dagegen noch nicht. Dieser Schritt gelang erst mit dem BVerfG unter dem Grundgesetz von 1949. Hundert Jahre nach dem Reichsgericht im Sinne der Paulskirchenverfassung entschied sich der deutsche Verfassungsgeber nunmehr zu einem kompletten Verfassungsgericht, das nicht nur für die Entscheidung organisationsrechtlicher Streitigkeiten (Staatsgerichtsbarkeit im engeren Sinne), sondern auch und namentlich für den verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz des Bürgers (Verfassungsbeschwerde) zuständig ist. Gerade deshalb ist das BVerfG verfassungshistorisch auch als Vollendung dessen anzusehen, was mit der Paulskirchenverfassung von 1849 in Deutschland erstmals, aber und damals noch erfolglos, ins Werk gesetzt wurde.
3. Organisation und Verfahrensarten
Nach Art. 94 GG "besteht das BVerfG aus Bundesrichtern und anderen Mitgliedern". Diese "werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt", wobei das heutige Wahlverfahren auf Seiten des Bundestages eine indirekte Wahl über einen Wahlausschuss des Bundestages vorsieht (§ 6 BVerfGG). Der Bundesrat wählt dagegen die von ihm zu benennenden Richter im Plenum (§ 7 BVerfGG). Für beide Wahlverfahren ist jeweils eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich - eine Voraussetzung, die sich sehr bewährt hat. Selbst wenn es mitunter im politischen Meinungskampf schwierig ist, sich auf bestimmte Richterpersönlichkeiten für das BVerfG zu einigen, im Ergebnis hat es immer ebenso vernünftige wie in aller Regel auch überzeugende Kompromisslösungen gegeben, die zur Autorität wie Objektivität der Rechtsprechung des BVerfG in der Folgezeit maßgebend beigetragen haben.
Nach § 2 BVerfGG besteht das BVerfG aus zwei Senaten, in die jeweils acht Richter gewählt werden. Diese werden für zwölf Jahre gewählt, eine Wiederwahl ist nach der derzeitigen Fassung des BVerfGG nicht mehr möglich. Die beiden Senate des BVerfG stehen selbständig nebeneinander, das BVerfG stellt in diesem Sinne ein so genanntes "Zwillingsgericht" dar. Die Zuständigkeiten der beiden Senate sind - in der üblichen "Faustregel" gesprochen (vgl. § 14 BVerfGG) - auf der einen Seite die, die im Schwerpunkt Grundrechte und die Verfassungsbeschwerde umfassen (1. Senat), und auf der anderen Seite solche, die vor allem Streitigkeiten aus dem Bereich des Staatsorganisationsrechts betreffen (2. Senat). Das Gesamtgericht ist lediglich durch die (begrenzte) Möglichkeit von Plenarentscheidungen sowie durch das gemeinsame Präsidium verbunden, wobei die Position des jeweiligen Präsidenten zwischen den beiden Senaten periodisch wechselt. Das BVerfG ist in jeder Hinsicht von den übrigen Verfassungsorganen des Bundes geschieden, steht gleichberechtigt neben diesen und verfügt über die uneingeschränkte verfassungsrechtliche Unabhängigkeit. Seine Entscheidungen binden alle drei Staatsgewalten, wobei die Entscheidungen des BVerfG im Einzelfall auch objektive Gesetzeskraft besitzen (§ 31 BVerfGG).
Das BVerfG verfügt über die uneingeschränkte verfassungsrechtliche Kontrolle gegenüber allen drei anderen Staatsgewalten, d. h. ebenso gegenüber der Gesetzgebung wie gegenüber der Exekutive und der Judikative. Die Zuständigkeiten des BVerfG sind im Einzelnen enumerativ im GG und im BVerfGG festgelegt, eine Generalzuständigkeit für "Verfassungsstreitigkeiten" in toto gibt es nicht. Im Einzelnen ist das BVerfG für die (ab-strakte und konkrete) Normenkontrolle (Art. 93 I Nr. 1, 100 GG), für Organstreitigkeiten (Art. 93 I Nr. 2 GG), für Bund-Länder-Streitigkeiten (Art. 93 I Nr. 2 a, 3, 4 GG), für Verfassungsbeschwerden (Art. 93 I Nr. 4 a - 4 b GG), für die Bundespräsidentenanklage (Art. 61 GG), die "Anklage" gegen Richter (Art. 98 II GG), Wahlprüfungsbeschwerden (Art. 41 GG) sowie für die Verfahren der Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG) und des Parteienverbots (Art. 21 II GG) zuständig.
II. Grundlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
1. Allgemeines
Auf der Basis der vorgenannten Zuständigkeiten hat das BVerfG in den 50 Jahren seines Bestehens eine außerordentlich breite und ausholende Rechtsprechung entfaltet, die inzwischen alle Bereiche des materiellen Verfassungslebens durchdringt, prägt und bestimmt sowie zunehmend auch die einfach-gesetzliche bzw. unterverfassungsrechtliche Rechtsordnung prägt und mitbestimmt, zumindest mit einem wachsenden Maß an auch rechtspolitischen Direktiven ausstattet. Gerade die letztere Entwicklung führt zunehmend zu der noch gesondert zu behandelnden kritischen Fragestellung, ob das BVerfG sich (nur) als Hüter der Verfassung oder auch als (faktischer) Ersatzgesetzgeber versteht bzw. verstehen darf.
Das BVerfG hat das GG als "eine wertgebundene Ordnung" definiert, "die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt; sein (des GG) Menschenbild ist nicht das des selbstherrlichen Individuums, sondern das der in der Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeit" . Diese "wertgebundene Ordnung" begrenzt alle öffentliche Gewalt, wobei "das Grundgesetz nicht eine virtuell allumfassende Staatsgewalt verfasst hat, sondern den Zweck des Staates materialiter auf die Wahrung des Gemeinwohls beschränkt, in dessen Mitte Freiheit und soziale Gerechtigkeit stehen" . Mit dieser Maßgabe sind (auch) "die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet" . Auf der Grundlage dieses prinzipalen Verfassungsverständnisses entfaltet das BVerfG sein eigenes Selbstverständnis, dem zufolge "es Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung ist, die verschiedenen Funktionen einer Verfassungsnorm, insbesondere eines Grundrechts, zu erschließen. Dabei ist derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben, die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet." Substantiell wie methodisch aktualisiert sich dieses Verfassungs- wie Eigenverständnis des BVerfG in den gegebenen, ebenso breiten wie zum Teil außerordentlich detaillierten Aussagen, die das Gesamtsystem nicht nur unserer Verfassungs-, sondern unserer Rechtsordnung insgesamt inzwischen und längst in maßgebender Form prägen wie ausgestalten. Das BVerfG hat bei alledem stets besonderen Wert auf die Grundprinzipien der Verfassungsordnung, d. h. auf die Prinzipien von De-mokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie Bundesstaatlichkeit, gelegt. Bei alledem ist zu berücksichtigen, dass das GG sich in ganz entscheidender Weise als eine Verfassung versteht, die ein hohes Maß an gesellschaftspolitischer Offenheit einerseits und höchster normativer Stringenz bei der Wahrung jener maßgebenden Grundwerte andererseits konstituiert wie enthält.
Man kann feststellen, dass ein entscheidender Grund für den Erfolg dieser grundgesetzlichen Verfassungsordnung gerade in diesem Mit- und Nebeneinander von politischer Offenheit einerseits und verfassungsnormativer Stringenz andererseits liegt. Dass daraus auch für das BVerfG ein besonderes Maß an Verantwortung wie ggf. auch Selbstbeschränkung resultiert, liegt auf der Hand. Nimmt man den Aspekt der gesellschaftspolitischen Offenheit des GG, so ist das BVerfG dem zumeist gefolgt, beispielsweise und namentlich bei seiner Aussage, dass das GG über keine wirtschaftspolitische Festlegung im Sinne einer (ordnungspolitisch geschlossenen) "Wirtschaftsverfassung" verfüge, das GG vielmehr wirtschafts-politisch "neutral" oder offen sei. Auf der anderen Seite hat das BVerfG aus einzelnen, gerade sehr offenen Verfassungsbestimmungen ganze Komplexe mehr oder weniger eigenständiger Rechtsgestaltungen und rechtlicher Systematisierungen abgeleitet, wie z. B. im Bereich des Medien- und hier vor allem des Rundfunkrechts (vgl. Art. 5 I 2 GG). Andere Beispiele hierfür finden sich im Parteienfinanzierungsrecht (vgl. Art. 21 I 4 GG), zunehmend im Steuerrecht, im Asylrecht, im Recht des Länderfinanzausgleichs usw. Dass das BVerfG sich gerade bei solchen sehr ausholenden, teilweise schon massiv in das einfache Gesetzesrecht übergreifenden Gestaltungsdirektiven mitunter auch übernommen und damit auch berechtigter Kritik ausgesetzt hat, liegt auf der Hand. Noch wesentlicher und bedeutsamer ist auf der anderen Seite aber die Tatsache, dass das BVerfG sich in der Bewahrung und gelegentlich auch Verteidigung der grundgesetzlichen Grundwerte an Stringenz wie Konsequenz nie hat übertreffen lassen - eine Feststellung, die ebenso und vor allem für die grundrechtliche und rechtsstaatliche Ordnung wie beispielsweise auch für die Bewahrung der deutschen Einheit und des (seinerzeitigen) grundgesetzlichen Wiedervereinigungsgebots gilt. Mit Recht hat das BVerfG in seiner Entscheidung vom 31. Juli 1973 zum "Grund-lagenvertrag" zwischen der Bundesrepublik und der DDR auf dem Fortbestand der deutschen Einheit bestanden, eine volle völkerrechtliche Anerkennung der deutschen Teilung und damit der DDR ausgeschlossen und mit dieser Rechtsprechung auch und maßgebend das Tor für den Rückgewinn der deutschen Einheit im Jahre 1990 offen gehalten.
2. Grundrechte und soziale Rechtsstaatlichkeit
Der Schutz der Grundrechte stand und steht weitgehend im Mittelpunkt der Rechtsprechung des BVerfG. Dabei hat das BVerfG die Grundrechte nicht nur als bestimmte subjektive Abwehrrechte des Bürgers gegenüber der öffentlichen Gewalt, sondern - weit hierüber hinausgehend - als "objektive Wertordnung" verstanden und judiziell in dieser Richtung ausgestaltet. Vor allem seit der so genannten Lüth-Entscheidung vom 15. Januar 1958 figurieren die Grundrechte für das BVerfG in umfassendster Form als ein geschlossenes Wertesystem, das auch objektiv-rechtlich die gesamte Rechtsordnung zu durchdringen und im Einzelnen auszugestalten hat - eine Feststellung, die ebenso konsequent wie zwingend zu entsprechenden justiziellen Verantwortlichkeiten des Verfassungsgerichts selbst führt. Das BVerfG hat die einzelnen Grundrechte des GG nicht nur im Einzelnen interpretiert, ausgestaltet und gelegentlich fortentwickelt, sondern das BVerfG hat darüber hinaus auch das Gesamtsystem der Grundrechte zu einem entsprechend geschlossenen Wert- und Gewährleistungskomplex verfasst. Das wichtigste Datum in diesem Zusammenhang stellt die Elfes-Entscheidung vom 16. Januar 1957 dar, die das Freiheitsrecht der "freien Entfaltung der Persönlichkeit" aus Art. 2 I GG zum so genannten Hauptfreiheitsrecht bzw. Recht der "allgemeinen Handlungsfreiheit" erklärt und so dafür gesorgt hat, dass sämtliche Freiheiten, verfassungsrechtlich benannte wie unbenannte, unter dem prinzipiellen Schutz des Grundrechtskataloges des GG stehen bzw. diesem zu unterstellen sind. Der prinzipielle Unterschied zwischen verfassungsrechtlich und unterverfassungsrechtlich garantierten Freiheiten sieht sich durch diese Rechtsprechung nahezu völlig eingeebnet, was auch zu relativ kuriosen Entscheidungen des BVerfG geführt hat; z. B. zu jener Entscheidung, die das (ungehinderte) Reiten im Walde als prinzipiell verfassungsrechtlich garantiertes Freiheitsgut zu diskutieren hatte. Ob diese Rechtsprechung des BVerfG tatsächlich im Sinne des Verfassungsgebers gewesen ist, lässt sich mit einigem Recht bezweifeln.
Das verfassungsrechtliche wie verfassungspolitische Faktum dieser ebenso ständigen wie sich permanent weiter entwickelnden Judikatur ist indessen unabweisbares Datum heutiger Verfassungswirklichkeit. Es gibt vielleicht kein Land in der Welt, das über einen auch nur annäherungsweise vergleichbaren Grundrechtsstandard in seiner Verfassungsrealität verfügt, wie dies auf der Grundlage der vorbezeichneten Rechtsprechung des BVerfG für Deutschland festzustellen ist. Dabei sind ebenso Ausuferungen im Einzelnen wie wahrhaft wichtige Weiterentwicklungen zugunsten bestimmter freiheitspolitischer Notwendigkeiten zu nennen. In letzterer Hinsicht sei beispielsweise und namentlich auf das aus dem Kontext von Art. 1 I und Art. 2 I GG abgeleitete "allgemeine Persönlichkeitsrecht" und innerhalb diesen Zusammenhangs beispielsweise auf das Recht der informationellen Selbstbestimmung hingewiesen. Auch die vom BVerfG vertretene Lehre von der "mittelbaren" Drittwirkung der Grundrechte realisiert den prinzipiellen Wertgehalte der Grundrechte in durchaus folgerichtiger Manier, ohne dabei in die gefährlichen Untiefen einer Lehre wie der von der "unmittelbaren" Drittwirkung der Grundrechte, wie sie z. B. das Bundesarbeitsgericht (BAG) vertritt, zu geraten. Schließlich ist in diesem Kontext auch die so genannte "Wesentlichkeitstheorie" des BVerfG zu nennen, die gerade den Schutz der Grundrechte zu einer vorrangigen Pflicht des parlamentarischen Gesetzgebers erhoben hat, also diesem in besonderer Weise grundrechtlich relevante Entscheidungen - in Abgrenzung vor allem von der Exekutive - vorbehalten hat.
Gerade die vorbenannte Präzisierung des Gesetzesvorbehalts in Gestalt der "Wesentlichkeitstheorie" führt zur Rechtsstaatsjudikatur des BVerfG. Mit ebenso viel Stringenz wie Überzeugungskraft hat das BVerfG den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit als eines der herausragenden Konstitutionsprinzipien des GG erkannt und im Einzelnen ausgestaltet. Das Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland hat sich in jeder Hinsicht als ein rechtsstaatlich verfasstes Gemeinwesen zu begreifen, d. h. ein Gemeinwesen, das ebenso den Grundsätzen materialer Gerechtigkeit wie denen von Rechtssicherheit und bürgerlichem Rechtsschutz verpflichtet ist.
Im Unterschied hierzu ist das BVerfG sehr viel vorsichtiger und zurückhaltender mit jenem anderen grundlegenden Konstitutionsprinzip des GG umgegangen, das im unmittelbaren Kontext mit dem Rechtsstaatsprinzip ("sozialer Rechtstaat" - Art. 28 I 1 GG) ressortiert und das zur ebenso richtigen wie konsequenten Anerkennung eines eigenständigen "Sozialstaatsprinzips" geführt hat. Dieses grundgesetzliche Bekenntnis zur Sozialstaatlichkeit hat das BVerfG ebenso allgemein wie auch zutreffend als die grundsätzliche Verantwortung wie Ermächtigung des Staates zur Gewähr von sozialer Sicherheit, gerechter Sozialordnung und sozialer Gerechtigkeit im weiteren Sinne des Wortes verstanden. In dieser (letztendlich tautologischen) Definition des Sozialstaatsprinzips liegt aber alles das mit einbeschlossen, was unter dem Stichwort der prinzipiellen gesellschaftspolitischen Offenheit des GG referiert wurde. In der Tat, ein gesellschaftspolitisch prinzipiell offenes Verfassungssystem bedarf auf der einen Seite der grundsätzlichen Öffnung zum Sozialstaat, muss dessen Aktualisierung zum anderen aber und vorrangig auf der Ebene unterhalb der Verfassung, d. h. im Rahmen der einfach-gesetzlichen Sozialgestaltung, erwarten wie voraussetzen. Nichts ist der konkreten gesellschaftspolitischen Situation und konkreten Bedarfslage mehr verhaftet als ein Bekenntnis wie Auftrag zur Sozialstaatlichkeit. Niemals kann eine Verfassung selbst und unmittelbar "soziale Verhältnisse" im Einzelnen gestalten oder auf Dauer verfassen. In der Erkenntnis dessen liegt vermutlich eine der größten Weisheiten des GG; und ihr ist das BVerfG in seiner das Sozialstaatsprinzip konkretisierenden Rechtsprechung weitgehend gerecht geworden. Freilich könnte auch hier das eine oder andere Signal für einen möglichen (?) Trendwechsel in der neueren Rechtsprechung des BVerfG entdeckt werden, könnten die eine oder andere Entscheidung zum Sozialversicherungs- sowie auch zum Steuerrecht, namentlich aber die jüngsten Entscheidungen zur Pflegeversicherung vom 3. April 2001 auch als ein Einstieg in eine verfassungsgerichtlich "dynamisierte Sozialstaatsverfassung" gedeutet werden.
3. Demokratie und parlamentarisches Regierungssystem
Das GG verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland auf eine demokratische Struktur und verfasst diese zugleich nach den Grundregeln der repräsentativ-parlamentarischen sowie parteienstaatlichen Demokratie (Art. 20 I/21/38 GG). Diese Grundprinzipien, die teilweise durchaus nicht widerspruchsfrei zu operationalisieren sind, haben durch die Rechtsprechung des BVerfG ihre näheren und in der Regel ebenso gestaltungspolitisch offenen wie systemgerecht stringenten Konturen empfangen. "Die Willensentscheidung des Volkes muss die Grundlage jeder Staatsbildung sein." Dieser Satz ist ebenso selbstverständlich wie der, dass die "Willensbildung des Volkes und die Bildung des staatlichen Willens durch seine verfassten Organe unterschieden werden müssen" . Mit Recht konstatiert das BVerfG des Weiteren, dass "das Tätigwerden des Volkes als Staatsorgan - gleichgültig in welcher Form und mit welcher Wirkung es geschieht - im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat durch Kompetenznormen verfassungsrechtlich begrenzt ist" .
Das wichtigste Instrument demokratischer Willensbildung und Legitimation ist das Wahlrecht; dies hat das BVerfG in einer ganzen Reihe von Entscheidungen im Einzelnen bekräftigt und ausgeführt. So hat das BVerfG namentlich das Prinzip der Wahlrechtsgleichheit in nahezu sämtlichen Facetten ausgeleuchtet; es hat das Wahlrecht als zentrales Staatsbürgerrecht konkretisiert (kein Ausländerwahlrecht). Das BVerfG hat das gegebene System der "personalisierten Verhältniswahl" in dessen Verfassungskonformität bestätigt, wenngleich dies nicht für unabänderlich erklärt worden ist. Wesentlich zur Stabilität der grundgesetzlichen Demokratie hat das BVerfG auch mit der Bestätigung der Fünf-Prozent-Sperrklausel beigetragen, die seitdem wirksam jeder Form einer übermäßigen parteipolitischen Zersplitterung vorgebeugt hat.
Der Bundestag ist das zentrale demokratische Staatsorgan. "Ihm fällt als Legislative die verfassungsrechtliche Aufgabe der Normsetzung zu. Nur das Parlament besitzt hierfür die demokratische Legitimation." Im Übrigen ist der Bundestag "das politische Kreations-, Überwachungs- und Revokationsorgan", nicht aber das "umfassende ,Rechtsaufsichtsorgan' über die Bundesregierung" . Mit dieser Aussage verbindet das BVerfG ebenso sinnfällig wie verfassungsrechtlich abgewogen das Demokratieprinzip auf der einen mit dem Gewaltenteilungsprinzip auf der anderen Seite. Aus dem Kontext dieser beiden Grundprinzipien erwächst das parlamentarische Regierungssystem im Sinne des GG, das sich unbestritten außerordentlich bewährt hat, das zur entscheidenden Grundlage für die erste stabile Demokratie in der deutschen Geschichte geworden ist.
Die grundgesetzliche Demokratie ist aber nicht nur eine repräsentative, sondern auch eine parteienstaatliche (Art. 21 GG). Dies ist die definitive Konsequenz der modernen pluralistischen Gesellschaft und ihres ebenso definitiven Angewiesenseins auf Organisationen und Verfahren der politischen Willensbildung im genuinstaatlichen wie im vorstaatlichen Raum. Zum Status, zur Funktion und zum Begriff der politischen Partei hat die Rechtsprechung des BVerfG in entsprechender Konkretisierung des Art. 21 GG Entscheidendes beigetragen: Die politischen Parteien "gehören nicht zu den obersten Staatsorganen", sie sind "freigebildete, im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnde Gruppen" . Mit dieser Maßgabe sind sie aber in besonderer Weise zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung berufen und verfügen über den "Rang einer verfassungsrechtlichen Institution" . Mit der gleichen Maßgabe figurieren die Fraktionen als parteienstaatliche Organisationsformen im Parlament; auch das Recht der Opposition ist gewährleistet. Dass das Prinzip der parteienstaatlichen Demokratie durchaus mit dem der repräsentativen Demokratie in ein "Spannungsverhältnis" treten kann, setzt das GG in den Bestimmungen der Art. 21 und 38 bewusst voraus; und auch das BVerfG hat hierum stets gewusst und in konkreten Konfliktfällen auch für den nötigen Ausgleich gesorgt - angefangen von der Sicherung der Parlamentsrechte auch des fraktionslosen Abgeordneten bis hin zur Disziplinierung übermäßiger Fraktionsbindungen etc. (Sicherung des freien Mandats , Diätengewährleistung usw.) . Sehr eingehend hat sich das BVerfG mit der Parteienfinanzierung zu befassen gehabt, wobei das Gericht allerdings nicht immer sehr glücklich operiert hat. Zum einen sind seine Ableitungen aus Art. 21 I GG mitunter allzu konkret ausgefallen; und noch problematischer erscheinen gelegentliche Kehrtwendungen um buchstäblich 180 Grad, die die Rechtsprechung des BVerfG vorgenommen hat. Zum Vertrauen in die politischen Parteien und ihre dem Bürger wohl immer suspekten Finanzierungsmethoden haben solche Kurswechsel in der Rechtsprechung kaum beigetragen.
Die gesamte Struktur des parlamentarisch-demokratischen und parteienstaatlichen Regierungssystems der Bundesrepublik basiert in entscheidender Weise auf den Erfahrungen, die der Parlamentarische Rat aus dem Scheitern der Weimarer Demokratie gezogen hat. Im Verbund mit der Rechtsprechung des BVerfG kann dem Verfassungsgeber insoweit nur bestätigt werden, dass seine Zielsetzungen und Vorstellungen sich voll erfüllt haben. Dies gilt auch für die sehr klare Betonung der "streitbaren" oder "wehrhaften Demokratie", also die Absicherung der demokratischen Verfahren und Organisationsbildungen vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen. An erster Stelle ist hier die Verbotsregelung des Art. 21 II GG zu nennen, der zufolge Parteien, "die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, verfassungswidrig sind". Über diese Verfassungswidrigkeit entscheidet das BVerfG in ausschließlicher Kompetenz. Die beiden Verbotsentscheidungen zur SRP und zur KPD aus den fünfziger Jahren haben hier grundlegende und für Jahrzehnte tragende Maßstäbe gesetzt. Man darf gespannt sein, wie das BVerfG seine diesbezügliche Rechtsprechung im Falle des aktuellen Verbotsantrages gegenüber der NPD fortführen wird. In den gleichen Kontext fällt jene Rechtsprechung, die das BVerfG zur verfassungsrechtlichen Treuepflicht von Angehörigen sowie Bewerbern für den öffentlichen Dienst aus Art. 33 V GG abgeleitet hat.
4. Die Bundesstaatlichkeit
Auch das bundesstaatliche Verfassungsprinzip hat durch die Rechtsprechung des BVerfG seine wichtigsten Konkretisierungen wie Fundierungen erfahren. Insgesamt kann man davon sprechen, dass das heute wohl dominierende Bild vom "unitarischen" und "kooperativen Bundesstaat" wesentlich durch die Rechtsprechung des BVerfG bestimmt und aktualisiert worden ist. Dabei geht das BVerfG zunächst vom "Gepräge eines labilen Bundesstaates" aus, der zwar einerseits "die bundesstaatliche Struktur" als solche für unabänderlich erklärt, andererseits aber "die einzelnen Länder . . . weder in ihrer Existenz noch in ihrem Gebietsstand gegen Eingriffe und Veränderungen durch die Bundesgewalt verfassungsrechtlch schützt" . Ist dies indessen die definitive Konsequenz der Neugliederungskompetenz aus Art. 29 GG, so erweist sich das kompetenzrechtliche Gefüge unseres Bundesstaates - mit seiner prinzipiellen Kompetenzvermutung zugunsten der Länder (Art. 30, 70, 83 GG) - als ebenso sensibel wie gestaltungsbedürftig. Das BVerfG hat den prinzipiellen Kompetenzvorrang der Länder durchaus und ständig betont, hat auf der anderen Seite aber, jedenfalls bei den Gesetzgebungskompetenzen, doch entscheidend zum heutigen faktischen Kompetenzprimat des Bundes beigetragen. Dies ist vor allem über jene Rechtsprechung geschehen, die im Bereich der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung die so genannte Bedürfnisklausel des Art. 72 II GG zu einem schlichten Ermessenstatbestand zugunsten des Bundes herabgezont hat. Ganz folgerichtig ist in der politischen Realität diese Bedürfnisklausel zu einem schlichten Nullum verfallen, woran im Übrigen auch der verfassungsrechtliche Änderungsversuch im Zuge der Verfassungsreform nach der Wiedervereinigung mit seiner tatbestandlichen Schärfung des Art. 72 II GG bis auf den heutigen Tag nichts Definitives geändert hat. Es ist sicherlich so, dass eine mobile Massengesellschaft sich nur schwer mit wirklich substantiellen Gestaltungs- und Regulierungsunterschieden in den einzelnen Bundesländern abzufinden bereit wäre. Ungeachtet dessen fordert das bundesstaatliche Prinzip aber dennoch ein prinzipielles Maß an Vielfalt und Wettbewerb - nicht zuletzt auch zum Nutzen von Bürger und Gesellschaft.
Auf der anderen Seite hat das BVerfG die Position der Länder dort - vielleicht kompensatorisch - gestärkt, wo es um die Teilhabe der Länder an der Bundesgesetzgebung über den Bundesrat geht. Obwohl das rechtlich stärkste Mitwirkungsinstrument des Bundesrates, also das Zustimmungsgesetz, vom Verfassungstext her durchaus als Ausnahme zu sehen ist, dominiert dies in der gesetzespolitischen Verfassungswirklichkeit längst. Hierzu hat in entscheidender Weise jene Rechtsprechung des BVerfG beigetragen, die die Zustimmungsbefugnis des Bundesrates nicht auf jene Gesetzesteile beschränkt hat, die - wie namentlich verwaltungsorganisatorische oder verwaltungsverfahrens-rechtliche Regelungen (Art. 84, 85 GG) - den Zustimmungstatbestand begründen, sondern das BVerfG hat im Falle solcher Teilregelungen das Zustimmungserfordernis auf die gesamte, also auch auf die materiell-rechtliche Bundesregelung ausgedehnt. Ob dies im Sinne der Verfassung ist, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Diese Rechtsprechung hat aber maßgebend dazu beigetragen, dass der Bundesrat heute über ein Maß an gesetzespolitischer Macht verfügt, wie dies der Verfassungsgeber von 1949 sich vielleicht noch nicht vorzustellen vermocht hat. Auch aus der Sicht des Bundesstaatsprinzips selbst bleiben hier wichtige Fragen für die Zukunft; vor allem die, ob jene Stärkung der im Bundesrat vertretenen Ländergesamtheit und die gleichzeitige Stärkung der den Bundesrat besetzenden Länderexekutiven (Landesregierungen) dem Prinzip eines Bundesstaats gerecht wird, der auf der Vielfalt der einzelnen Länder (nicht der Ländergesamtheit) und deren jeweiliger demokratischer Binnenstruktur aufbaut.
Mag man gerade vor dem Hintergrund der vorstehend geschilderten Entwicklungen in der Rechtsprechung des BVerfG davon sprechen, dass das BVerfG im Bund-Länder-Verhältnis durchaus Gewichte gesetzt wie verteilt hat, dass das Gericht ganz offenkundig (auch) von der Vorstellung einer bundesstaatlich-vertikalen Gewaltenteilung im Gesamtstaat ausgegangen ist, so setzt sich dieser Trend in jener breiten Rechtsprechung fort, die das Bund-Länder-Verhältnis in besonderer Weise zu wechselseitiger Rücksichtnahme und Kooperation verpflichtet hat. Aus dem GG selbst folgt in dieser Hinsicht nichts. Mit Recht hat das BVerfG aber und vor allem den Grundsatz der Bundestreue zu einem ungeschriebenen (akzessorischen) Verfassungsgrundsatz erhoben, der im Bereich sämtlicher Zuständigkeiten des Bundes einerseits und der Länder andererseits wie auch der Länder untereinander von entsprechend verpflichtender und modifizierender Qualität ist.
III. Hüter der Verfassung oder Ersatzgesetzgeber?
Zieht man ein Fazit der vorstehend skizzierten Entwicklungen und Grundlinien der Rechtsprechung des BVerfG, so sieht sich die eingangs getroffene Feststellung vom so außerordentlich großen Erfolg der Verfassungsinstitution BVerfG mit Sicherheit und durchaus bestätigt. Das BVerfG ist zum wirklichen Hüter der Verfassung geworden. Es gehört zu den herausragenden Garanten der rechts- und sozialstaatlichen Demokratie, unseres Bundesstaates und unserer Verfassungsordnung insgesamt. Zu alledem kann das BVerfG, aber rückblickend auch der Verfassungsgeber von 1949, nur mit Nachdruck beglückwünscht werden. Auf der anderen Seite sind naturgemäß auch kritische Meinungen zu diskutieren, die dem BVerfG - vor allem in der jüngeren Entwicklung - zunehmend mehr die Tendenz zur faktischen "Ersatzgesetzgeberschaft" vorgeworfen haben, die dem BVerfG mit anderen Worten vorhalten, sich nicht (mehr) auf die ihm eigentlich zugedachte und zugewiesene Rolle eines Hüters der Verfassung zu beschränken. Obwohl die Grenzen zwischen verfassungsrechtlicher Kontrolle einerseits und verfassungsgerichtlicher Setzung von Richterrecht andererseits im Einzelnen durchaus fließend sein können, ist in der Tat nicht zu verkennen, dass das BVerfG verstärkt dazu neigt, die Legislative nicht nur auf die Verfassungskonformität ihrer eigenen Regelungen hin zu überprüfen, sondern dieser darüber hinaus durchaus auch Direktiven von einfach-gesetzlicher Rechtsqualität vorzugeben, mit anderen Worten - zumindest faktisch - auch in die Rolle eines "Ersatzgesetzgebers" zu schlüpfen. Der gleiche Prozess offenbart sich im Verhältnis zu den Fachgerichtsbarkeiten, deren Kompetenzen das GG sehr bewusst von den Zuständigkeiten des BVerfG geschieden hat; bei der justitiellen Kontrolle der Fachgerichtsbarkeiten erliegt das BVerfG aber doch gelegentlich, vielleicht sogar zunehmend, der Versuchung, zu einer Art von "Superrevisionsinstanz" zu werden. Folgerichtig sind die Kritiken am BVerfG in den letzten Jahren immer lauter geworden, und - wenngleich mit Sicherheit im Einzelnen überzeichnet - so müssen doch Äußerungen wie die folgenden zu Aufmerksamkeit, wenn nicht Besinnung mahnen: "Götterdämmerung? Wer schützt die Verfassung vor ihren Wächtern?" , "Bundesverfassungsgericht als Wohlfahrtsausschuss" , "BVerfG: Hüter oder Wandler der Verfassung?" , "Die Funktion des BVerfG - Oligarchie in der Demokratie?" , "Das Bundesverfassungsgericht: Hüter der Verfassung oder Ersatzgesetzgeber?" . Es ist mit Sicherheit auch kein Zufall, dass gerade besonders prominente ehemalige Richter des BVerfG zu besonders deutlichen Worten gefunden haben. So spricht beispielsweise K. Hesse davon, dass "Verfassungsrechtsprechung Rechtsprechung ist, nicht eine Art Supergesetzgebung oder ähnliches" . E.W. Böckenförde spricht davon, dass "dem BVerfG weder ein Initiativrecht noch eine Befugnis begleitender Verfassungskontrolle gesetzgeberischen Handels zusteht" und dass das BVerfG sich dem Gesetzgeber gegenüber nicht als "autoritativer Praeceptor", auch nicht als "fürsorglicher Praeceptor" aufspielen darf . In der gleichen Richtung spricht P. Kirchhof davon, dass Verfassungsgerichtsbarkeit "Rechtsprechen, nicht Gesetzsprechen" heißt ; und weiter: "Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen der Erstinterpret des Grundgesetzes, die Rechtsprechung (nur) ihr Zweitinterpret."
Die Entscheidungen, an denen sich solche Kritiken festmachen, sind breit gestreut und erfassen die unterschiedlichsten Rechtsgebiete. Dies gilt ebenso für das Zivilrecht wie für das Strafrecht, dies gilt ebenso für das Steuer- wie für das Sozialrecht. Bei alledem ist dem BVerfG aber auch zugute zu halten, dass die Grenzen zwischen verfassungsrechtlicher Kontrolle und rechtspolitischer Gestaltung nicht immer eindeutig sind und dass auch die Organe der Legislative mitunter durch eigenes Versagen oder eigene Säumnisse dem BVerfG - zumindest faktisch - die Rolle eines "Ersatzgesetzgebers" zugewiesen haben. Man denke nur an die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs nach der Wiedervereinigung - eine Regelung, die der Gesetzgeber selbst in verfassungsmäßiger Form nicht zu vollbringen in der Lage war. Erst das BVerfG konnte hier mit einer Rechtsprechung helfen, die - immanent gesehen - mit Sicherheit die Grenzen zur realen "Ersatzgesetzgeberschaft" überschritten hat, die für sich aber mit ebenso viel (verfassungspolitischer) Überzeugungskraft anführen kann, dass nur sie zur rechtspolitischen Hilfe und Befriedung imstande war. Ganz ähnliches gilt für jene Rechtsprechung des BVerfG, die die out of area-Einsätze der Bundeswehr aus dem tages- und verfassungspolitischen Streit herausgelöst und der Bundesrepublik Deutschland auch insoweit zu Bündnis- und Politikfähigkeit verholfen hat. Wenn das BVerfG in seiner grundlegenden Entscheidung vom 12. Juli 1994 hierzu verfügt hat, dass auch konkrete Einsätze der Bundeswehr out of area noch der jeweils gesonderten Zustimmung des Bundestages bedürfen, so findet sich hierfür im GG, wie mit Recht kritisch angemerkt worden ist, überhaupt keine Handhabe. Auf der anderen Seite hat gerade diese "verfassungsschöpferische" Festlegung des BVerfG in entscheidender Weise auch zur Befriedung und verfassungspolitischen Akzeptanz nicht nur seiner Rechtsprechung, sondern auch und namentlich solcher internationalen Einsätze der Bundeswehr geführt. In vergleichbarer Richtung ist z. B. das Urteil des BVerfG zum Vertrag von Maastricht vom 12. Oktober 1993 zu nennen, das die konkreten verfassungsrechtlichen Fundamente für den Prozess der europäischen Einigung in eindrucksvoller Form bestimmt hat und der deutschen Europapolitik damit prinzipale Wege gewiesen hat.
Das heutige Verhältnis von Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit ist gerade unter den Aspekten des gewaltenteiligen Rechtsstaates von ebenso großer rechtlicher wie politischer Sensibilität. Der demokratische und damit auch notwendig gewaltenteilige Rechtsstaat ist auf die Funktionstüchtigkeit beider Staatsgewalten existenziell angewiesen. Beide Staatsgewalten haben ihr Mandat, das demokratische Mandat der Legislative wie das justitielle Mandat der Verfassungsgerichtsbarkeit, in gegenseitiger wie wechselseitig gleichberechtigter Verantwortung wahrzunehmen. Beide Verfassungsorgane haben das jeweils andere Mandat zu achten und zu respektieren. Gesetzgebung heißt das ausschließliche Mandat der Legislative, Rechtsprechung heißt das ausschließliche Mandat der Judikative; und dies gilt auch und namentlich für das BVerfG. Wenn sich in der jüngeren Entwicklung manche Gewichte vor allem im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit etwas in die Richtung einer stärker politisch agierenden oder gestaltenden Gerichtsbarkeit verschoben haben, so sind hier rasche Umkehr oder Besinnung angesagt. Der grundgesetzliche Rechtsstaat ist kein Jurisdiktionsstaat, er ist vielmehr Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsstaat in gleichem Maße und in gleicher Verantwortlichkeit. Entstandene Ungleichgewichte sind ebenso von der Gesetzgebung wie von der Verfassungsgerichtsbarkeit wieder auszutarieren. Dass auch das BVerfG hierzu fähig und imstande ist, hat es in den zurückliegenden fünf Jahrzehnten seines so überaus erfolgreichen Wirkens immer wieder unter Beweis gestellt; und so fällt die Prophezeiung nicht schwer, dass das BVerfG auch in den kommenden Jahrzehnten nicht nur der unverzichtbare Hüter unserer Verfassung bleiben wird, sondern dass es auch sehr rasch dort Entwicklungslinien in seiner Judikatur korrigieren wird, wo dies punktuell notwendig geworden ist.