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Das Bundesverfassungs-Gericht zwischen Recht und Politik

Stephan Detjen

/ 6 Minuten zu lesen

Was repräsentiert das Bundesverfassungsgericht? Eine rheinische Kontinuität in einem politischen System, das nach dem Umzug von Parlament und Regierung schnell als "Berliner Republik" bezeichnet wurde.

Einleitung

Hier führt in Deutschland kein Weg weiter: Wer in Karlsruhe angekommen ist, hat den fernen Westen des Landes erreicht. Ein Katzensprung über den Rhein und man befindet sich in Frankreich. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ist das westlichste der fünf obersten Staatsorgane der Bundesrepublik. Seit dem Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin ist es das Einzige, das seinen Sitz noch am Rhein hat.

Einige der Karlsruher Richterinnen und Richter wären der Politik gerne in die neue Hauptstadt gefolgt. Nach Bonn waren es einst knappe drei Bahnstunden rheinabwärts. Nach einer Senatssitzung am Vormittag in Karlsruhe ließ sich da leicht noch ein Nachmittagstermin mit einem Bundesminister oder Abgeordneten in Bonn einplanen. Heute geht für ein Gespräch in Berlin ein ganzer Richtertag in Eisenbahn und Flugzeug verloren.

Dennoch gab es viele gute Gründe für die Entscheidung, den Sitz des Gerichtes in der Stadt zu belassen, in der es vor 50 Jahren gegründet wurde. Dazu zählt nicht nur die Unabhängigkeit von der Politik, die ihren symbolischen Ausdruck in der geographischen Distanz zwischen dem politischen und dem juristischen Machtzentrum des Landes findet. Es ist auch nicht allein die Sorge, die Richterinnen und Richter könnten in Berlin in dem hektischen Frontgeschehen zwischen Politik und Medien aufgerieben werden. Beide Argumente haben großes praktisches Gewicht. Der wichtigste Grund aber, das Bundesverfassungsgericht an seinem Entstehungsort zu behalten, ist historischer Art.

Der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof hat das Grundgesetz "das Gedächtnis der Demokratie" genannt. In diesem Sinne sind die mittlerweile mehr als hundert Bände der Karlsruher Verfassungsrechtsprechung ein Archiv demokratischen Bewusstseins in der Bundesrepublik Deutschland. Das Grundgesetz hat darin Wurzeln gefunden, aus denen es zugleich neue Triebe schlägt. Für eine Verfassung, die vor noch nicht allzu langer Zeit auf den Trümmern einer mörderischen Diktatur errichtet werden musste, ist diese Verwurzelung heute von existentieller Bedeutung.

Wenn die Bundesbürger heute selbstbewusst drohen, im Ernstfall "nach Karlsruhe" zu gehen, drückt das nicht nur das Mindestmaß an querulatorischer Energie aus, die nötig ist, um einen langen Rechtsweg bis zu seinem Ende zu gehen. Der Ort als Synonym für die Institution steht für das Vertrauen, das im Laufe der vergangenen 50 Jahre in die Verfassung gewachsen ist. So verkörpert das Bundesverfassungsgericht die rheinische Kontinuität der Republik, die von den Enthusiasten des Aufbruchs schnell zu einer "Berliner Republik" stilisiert wurde.

Dieser - das ist ohne Ironie gesagt - gute Geist der "Bonner Republik" ist in Karlsruhe sinnlich fassbar: In den Parkanlagen des Karlsruher Schlosses hat das Gericht seinen Sitz in einem Gebäude, dessen bauliche Gestaltung sich nahtlos in die ästhetische Programmatik der Bonner Parlaments- und Regierungsbauten einreiht - zwischen Sepp Rufs Kanzlerbungalow, Egon Eiermanns Abgeordnetenhochhaus und Günter Behnischs neuem Plenarsaal.

1969 zog das Bundesverfassungsgericht aus dem ehemaligen Palais des Prinzen Max von Baden in die pavillonartige Gebäudeanlage, die der Berliner Architekt Paul Baumgarten entworfen hatte. Fünf Baukörper sind in lockerer Ordnung in die Parkanlagen eingebettet. Im zentralen und höchsten Gebäudeteil ist der Verhandlungssaal untergebracht. Daneben, im Richterbau, arbeiten die Mitglieder des ersten Senats auf der ersten, die des zweiten Senats auf der zweiten Etage. Große Fensterfronten geben überall Ein- und Durchblicke frei. In seiner schlichten Eleganz ist dieses Gebäude ein Gegenentwurf zur repräsentativen Pracht des benachbarten Barockschlosses. Transparenz, abgeflachte Hierarchien, der weitestmögliche Verzicht auf Fassade sollten einer neuen republikanischen Kultur eine Gestalt geben. In Karlsruhe begaben sich die Richter damit in ein Glashaus, in einen Anti-Justizpalast.

Was sich aus der zurückhaltend eleganten Architektur des Karlsruher Gerichtsgebäudes nicht ablesen lässt, ist, dass dieses Gericht staatsrechtlich betrachtet auf einem geradezu abenteuerlich schmalen Grat zwischen Recht und Politik konstruiert wurde. Der französische Politologe Alfred Grosser bezeichnete das Bundesverfassungsgericht zu Recht als die "ohne Frage originellste Institution des deutschen Verfassungsgefüges". Welcher Wagemut vor 50 Jahren in der Entstehungsphase der Bundesrepublik mit der Erfindung dieses Gerichts verbunden war, erschließt sich nur aus dem historischen Rückblick. Er fällt zunächst auf die prägende Erfahrung der nationalsozialistischen Rechts- und Verfassungszerstörung und sodann auf die Weimarer Reichsverfassung. Das Grundgesetz muss dabei zugleich als Parallelverfassung wie auch als Gegenentwurf zu dem Text des Jahres 1919 gelesen werden. In der Gestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit wird beides deutlich.

In der Weimarer Reichsverfassung wurde mit dem Staatsgerichtshof zum ersten Mal in der deutschen Geschichte eine richterliche Entscheidungsbefugnis im Bereich von Auseinandersetzungen definiert, die bis dahin ausschliesslich der politischen Sphäre zugeordnet war. Hieran knüpften das Grundgesetz und das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht von 1951 an.

In unterschiedlichen Zusammensetzungen hatte der Staatgerichtshof der Weimarer Reichsverfassung unter anderem über Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern, zwischen einzelnen Ländern sowie über Anklagen gegen Reichspräsidenten, den Reichskanzler oder Minister zu entscheiden. Noch zehn Jahre nach dem Inkrafttreten der Verfassung aber drückte der Präsident des Reichsgerichts Simons, der Kraft dieses Amtes zugleich Präsident des Staatsgerichtshofs war, das Unbehagen aus, dass den Richter angesichts seines ungewohnt breiten Aufgabenspektrums befiel. Die Anrufung des Richters in hochpolitischen Fragen sei "nicht weniger eine Bankrotterklärung des Staatsmannes als die Anrufung des Feldherren", erklärte Simons. Die daraus resultierende Selbstbeschränkung des Richters fand ihren Ausdruck vor allem in der Normenkontrolle, die zwar gewohnheitsrechtlich anerkannt, aber auf eine zufällige Überprüfung von verfahrensrechtlichen Fragen beschränkt war. Konsequenterweise versäumte es der Staatsgerichtshof in dem politisch brisantesten Fall seiner kurzen Geschichte, dem sich anbahnenden Verfall der Weimarer Demokratie Einhalt zu gebieten. 1932 billigten die Richter, die Entmachtung der preußischen Regierung durch den Reichspräsidenten. Maßnahmen nach Artikel 48 Absatz 2 der Reichsverfassung, den Hitler später als diktatorischen Hebel an die gesamte Verfassungsordnung ansetzte, unterlägen allein dem pflichtgemäßen Ermessen des Reichspräsidenten und seien nicht justitiabel, hieß es in der Entscheidung über den Streit Preußens gegen das Reich.

Der Verfassungshistoriker Ernst Forsthoff befand 1972 rückblickend, das Problem der Staatsgerichtsbarkeit sei eine "im Jahr 1919 unlösbare Aufgabe" gewesen. Welche gedankliche Strapaze die Errichtung einer modernen Verfassungsgerichtsbarkeit selbst nach dem Krieg noch vielen, tief im positivistischen Rechtsverständnis verhafteten Staatsdenkern abverlangte, wurde während der Beratungen des Parlamentarischen Rates deutlich. Im Streit über Reichweite und Wirkung einer richterlichen Kontrolle der Gesetzgebung stand nicht weniger als das bis dahin vorherrschende Grundverständnis über das Verhältnis von Recht und Politik zur Disposition. Das "Problem der Verfügungsgewalt von Gerichten gegenüber staatlichen Organen" führe "in die Tiefe der Staatsauffassung, nämlich die Unterscheidung von Machtstaat und Rechtsstaat hinein", hatte Carlo Schmid bereits im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee vorhergesagt und skeptisch hinzugefügt, es handele sich dabei wohl um "ein außerordentlich schwieriges, ja unlösbares Problem".

Das nachhaltige Misstrauen gegen die Vermischung rechtlicher und politischer Wesenselemente in einer modernen Verfassungsgerichtsbarkeit fand seinen Ausdruck vor allem in einer Denkschrift, die der Christdemokrat Walther Strauss wenig später für den Parlamentarischen Rat verfasste. Strauss ging es in seinem Plädoyer um den Schutz und die Bewahrung einer "reinen Rechtssphäre", die er insbesondere durch nichtrichterliche Mitglieder eines Verfassungsgerichts sowie durch die Gesetzeskraft ihrer Entscheidungen in Normenkontrollverfahren bedroht sah.

Es gehört zu den großen Modernisierungsleistungen der Väter und Mütter des Grundgesetzes, diese Ängste zumindest im Grundsatz überwunden zu haben. Das Grundgesetz schrieb den besonderen, gegenüber allen anderen Gerichten herausgehobenen Status des Bundesverfassungsgerichts fest und weitete seine Rechtsprechungsgewalt auf Streitigkeiten zwischen allen obersten Staatsorganen aus. Vor allem aber erstreckte es die richterliche Kontrolle der Gesetzgebung auf den materiellen Normgehalt. In dieser Befreiung der Verfassungsgerichtsbarkeit aus den Beschränkungen der rein formellen Normenkontrolle manifestierte sich 1949 die Überwindung des Rechtspositivismus, die im Bundesverfassungsgericht ihren Ausgang nahm. Es gab von dort aus keinen Weg mehr zurück in eine von Werten und Menschenrechten entleerte Sphäre rechtlicher Reinheit.

Das Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit bis zum Ende zu lösen, hatte indes auch die Kräfte des Parlamentarischen Rates überfordert. Die Gestaltung der obersten Gerichtsbarkeit des Bundes war im Grundgesetz fragmentarisch und lückenhaft geblieben. Das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu dem 1949 noch vorgesehen Obersten Bundesgericht blieb ungeklärt, ebenso die Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts und die Auswahl seiner Richter. Die Entstehung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht wurde vor diesem Hintergrund zu einem der langwierigsten und kompliziertesten Gesetzgebungsverfahren in der ersten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages. In dem Gesetz wurde unter anderem die bis dahin strittige Frage der Zusammensetzung der beiden Senate und das Wahlverfahren für ihre Mitglieder geregelt. Vor allem aber legte erst der Bundestag die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidung über Verfassungsbeschwerden fest. Das Gericht wuchs dadurch noch einmal weit über die traditionelle Rolle eines klassischen Staatsgerichtshofs hinaus. Mit der Öffnung seiner Pforten für jedermann konnte das Bundesverfassungsgericht zu dem werden, was es heute ist: ein Gericht der Bürger, die in Karlsruhe selbst zu Akteuren der Verfassungsentwicklung wurden.

geb.1965; Rechtsanwalt und politischer Korrespondent im Hauptstadtstudio von Deutschlandfunk und DeutschlandRadio Berlin.

Anschrift: DeutschlandRadio Berlin, Hans-Rosenthal-Platz, 10825 Berlin.
E-mail: stephan.detjen@dradio.de

Veröffentlichungen u. a.: Redaktionshandbuch Justiz, München 1998; (Hrsg.) In bester Verfassung? 50 Jahre Grundgesetz, Köln 1999.