Einleitung
In der aktuellen Debatte über Deutschland als De-facto-Einwanderungsland gerät vielfach in Vergessenheit, dass für Teile der neuen Bundesländer eher die Abwanderung charakteristisch ist. Die Artikelüberschriften haben einen alarmistischen Unterton: "Warum gehst Du nicht rüber?", "Wer kann, geht nach drüben" und: "Ein Land blutet aus".
Ein Blick auf die Zahlen ergibt ein differenzierteres Bild, das für die neuen Bundesländer insgesamt jedoch von einem Rückgang der Bevölkerung ausgeht. Unklar und umstritten bleibt die Frage, ob und in welcher Form die Politik auf diese Entwicklung reagieren und eventuell gegensteuern kann.
I. Flucht und Übersiedlung
Das Ende des Zweiten Weltkrieges brachte mit Flüchtlingsströmen und Zwangsumsiedlungen einen ersten politisch verursachten und in diesem Umfang einmaligen Wanderungsschub in Deutschland. In der Folgezeit begann sich die Verteilung der Bevölkerung zugunsten Westdeutschlands zu verschieben. Der Anteil der DDR an der Gesamtbevölkerung beider deutscher Staaten lag 1950 bei etwa 27 Prozent, bis 1987 ging er auf etwa 21 Prozent zurück. Die Wanderungen stellten dabei den entscheidenden demographischen Faktor dar und verliefen gegensätzlich: In der Bundesrepublik war der positive Wanderungssaldo die Hauptursache des Bevölkerungswachstums, in der DDR ging der Bevölkerungsrückgang von 1950 bis 1987 zu über 80 Prozent auf den negativen Wanderungssaldo zurück.
Hauptsächlich als Folge des starken Abflusses von Flüchtlingen hatte Ostdeutschland 1950 mit 37,9 Jahren eine im Durchschnitt demographisch ältere Bevölkerung als Westdeutschland mit 35,2 Jahren. Nach dem Mauerbau änderte sich dies: Auf den erzwungenen Rückgang der Übersiedler 1961 folgte ab 1982 eine restriktive Phase, die die Ausreise nur in stark eingeschränktem Umfang mit dem Ziel der Familienzusammenführung zuließ. Vor allem Rentner und Nichtberufstätige zählten nun zu den Übersiedlern. Eine zweite Phase begrenzter Übersiedlungen setzte 1984 ein, als die DDR-Behörden eine Reihe von länger vorliegenden Anträgen bewilligten und u. a. missliebigen Personen die Ausreise gestatteten. Von 1984 bis Ende 1988 kamen immerhin 150 000 Menschen auf legalem Wege in die Bundesrepublik und damit genauso viele wie in den 15 Jahren davor. Die Einschränkung der Ausreise und die Folgen einer geburtenfreundlichen Bevölkerungspolitik - später auch als "Honecker-Buckel" bezeichnet - führten vorübergehend zur Verjüngung Ostdeutschlands. 1989 betrug das Durchschnittsalter in der DDR 35,6 Jahre und lag damit um 2,5 Jahre niedriger als in der alten Bundesrepublik.
Wer waren und woher kamen die Übersiedler und Flüchtlinge? Ergebnisse von Infratest, die sich hauptsächlich auf Übersiedlungen bis 1989 beziehen, können einen ersten Eindruck vermitteln: Demnach betrug der Anteil von Personen männlichen Geschlechts unter den Übersiedlern 60 Prozent, 78 Prozent hatten das vierzigste Lebensjahr noch nicht erreicht. Unter den Flüchtlingen war der Anteil jüngerer Menschen noch ausgeprägter, 90 Prozent waren unter 40 und 70 Prozent unter 30 Jahre alt.
II. Von der Ausreisewelle zur Binnenwanderung
Die Flüchtlingswelle spielte eine zentrale Rolle bei der friedlichen Revolution von 1989. Sie beschleunigte zum einen den Erosionsprozess des alten Regimes und ermunterte zum anderen die DDR-Bürger zur Teilnahme an den Montags- bzw. Donnerstagsdemonstrationen. Der Ruf "Wir bleiben hier" brachte sowohl ein Gefühl der Trauer über die in den Sommermonaten über die Grenze Gegangenen als auch Opposition gegenüber den bestehenden politischen Verhältnissen zum Ausdruck. Diese Ambivalenz zwischen Weggehen und Dableiben hat in der Folgezeit wenig an Bedeutung verloren.
Mit der Ausreisewelle 1989 wechselten erneut vor allem jüngere Leute in die Bundesrepublik, d. h. der berühmte "junge flexible, qualifizierte Facharbeiter", sowie Familien mit unter 18-jährigen Kindern und 30- bis 50-jährigen Eltern. Auffallend war ihr ausgeprägter Optimismus und der von den meisten geteilte Wunsch nach einer Wiedervereinigung.
Nicht erst mit der Ausreisewelle ab 1989 hatte sich die Bevölkerungszahl zugunsten Westdeutschlands verändert (vgl. Tabelle 1). De facto war die DDR ein Auswanderungsland und von 1950 bis 1980 einer der wenigen Staaten der Welt, dessen Einwohnerzahl sich verringerte. Nur 1987/1988 nahm sie zu, nachdem 80 000 Arbeiter aus der Dritten Welt auf der Grundlage von Regierungsabkommen einwanderten.
Nach dem Höhepunkt 1989/90 ließ die Abwanderung ab 1991 nach, gleichzeitig nahm die Zahl der Zuzüge vom früheren Bundesgebiet in die neuen Länder und nach Berlin-Ost zu. Während 1990 noch 395 343 Menschen von Ost nach West wechselten und weniger als 10 Prozent (36 217 Personen) den umgekehrten Weg einschlugen, schien sich die Lage in der Folgezeit langsam zu entspannen. Die Zahl der Fort- und Zuzüge näherte sich an (vgl. Abbildung 1), mittelfristig wurde eine Angleichung der Wanderungsströme vermutet. Die Binnenmobilität innerhalb Ostdeutschlands wuchs, sie blieb aber rund ein Drittel unter der des Westens.
Seit 1997/98 wird der negative Saldo vor allem durch die 18- bis unter 25-Jährigen verursacht und mit steigender Tendenz auch durch die 25- bis unter 30-Jährigen. Nach Alter und Geschlecht unterschieden bestehen bei den unter 18-Jährigen keine geschlechtsspezifischen Unterschiede. Bei den 18- bis unter 25-Jährigen haben allerdings immer mehr Frauen die neuen Länder verlassen als Männer. Bei beiden ging die Abwanderung zunächst zurück, um dann ab 1997 wieder zu steigen, wobei der Anstieg bei den Frauen etwas höher ausfällt. Bei den 25- bis unter 30-Jährigen gab es zunächst bei den Männern einen eindeutig positiven Saldo, während dieser bei den Frauen in etwa ausgeglichen war (vgl. Tabelle 2). Der negative Saldo seit 1998 geht auf steigende Abwanderungs- und gleichzeitig sinkende Zuwanderungszahlen zurück. Gleiches gilt für die 30- bis unter 50-Jährigen. Bei den über 50-Jährigen ist der Saldo hingegen positiv, was daran liegen könnte, dass sich Rentner und Pensionäre in einigen Regionen der neuen Länder niedergelassen haben. Dieser in einzelnen Gegenden mittlerweile statistisch nachweisbare Zuzug und entsprechende Anzeigen - etwa für die Ostseeküste - haben die Behauptung von einem entstehenden "Altersheim" Ost möglicherweise mit gefördert.
Bei den 50- bis unter 65-jährigen Frauen sind die Wanderungen inzwischen relativ ausgeglichen. Auch die Zuwanderung der Frauen ist konstant und deckt sich mit der Abwanderung. Der positive Saldo entsteht allein durch die gestiegene Zuwanderung der Männer. Bei den über 65-Jährigen sinkt die Abwanderung leicht, während bis 1997 die Zuwanderung stetig zugenommen hat, seitdem aber wieder leicht rückläufig ist. Hier gibt es sowohl bei den Frauen als auch den Männern einen positiven Saldo.
Insgesamt kann festgehalten werden: Der wieder zunehmend negative Saldo zwischen Ost- und Westdeutschland wird hauptsächlich durch abwandernde 18- bis unter 30-Jährige verursacht, wobei die Frauen in der Gruppe der 18- bis unter 25-Jährigen deutlich überproportional vertreten sind.
III. Ein Blick auf die neuen Länder
Unabhängig von den oben dargestellten Gesamtbefunden weisen die Länder regionale Besonderheiten auf.
Brandenburg hatte 1989 rund 2,66 Millionen Einwohner, Ende 1999 waren es 2,60 Millionen. Nach Mecklenburg-Vorpommern hat es die geringste Bevölkerungsdichte Deutschlands. Während sich die Einwohnerzahl bis einschließlich 1994 jährlich reduzierte, war in Brandenburg 1995 erstmals eine positive Entwicklung zu verzeichnen; seitdem ist es das einzige neue Bundesland mit Bevölkerungszuwachs. Brandenburg profitiert vom Berliner Raum, in der Peripherie des Landes ist dagegen ein Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen. Wanderungsgewinne konnte Brandenburg 1999 nur aus den Ländern Berlin (23 092), Niedersachsen (375) und Sachsen-Anhalt (58) erzielen, gegenüber allen anderen Bundesländern traten dagegen Wanderungsverluste auf. Der "Entwicklungsplan für den ländlichen Raum im Land Brandenburg. (Förderperiode 2000-2006)" sieht eine stärkere Ausrichtung der Förderung "auf die Hauptprobleme Abwanderung und Beschäftigungsmangel" vor. Die Stärken Brandenburgs werden in der günstigen Lage zur Metropole Berlin, der attraktiven Landschaft, der weit gehend naturbelassenen Umwelt, dem Naherholungspotenzial und den freien Flächen für Ansiedlungen gesehen.
Im Flächenstaat Mecklenburg-Vorpommern lebten 1989 noch 1,97 Millionen Menschen, 1999 waren es 1,79 Millionen. Die Region weist eine lange und unter demographischen Gesichtspunkten ebenso wechselhafte wie interessante Geschichte auf, für die in der Vergangenheit die Randlage und die politischen Umbrüche verantwortlich waren. Der reale Bevölkerungsverlust aufgrund von Migration liegt bei 90 000 Personen,
Auf dem Gebiet des heutigen Freistaates Sachsen lebten 1989 noch 5,03 Millionen Menschen, Ende 1999 hatte Sachsen nur noch 4,46 Millionen Einwohner. Es bleibt dennoch das bevölkerungsreichste und am dichtesten besiedelte der fünf neuen Länder. In zehn Jahren hat der Freistaat rund 570 000 Einwohner verloren, das sind 11,3 Prozent. Die Zahl der ausländischen Mitbürger erhöhte sich um rund 29 000 auf 105 000, was 1999 einem Bevölkerungsanteil von 2,4 Prozent entsprach. In dem genannten Zeitraum schritt die Alterung der Bevölkerung voran, und zwar als Folge der rapiden Abnahme der Zahl der Jüngeren durch niedrigere Geburtenzahlen und Wanderungsverluste. Der Anteil der Bevölkerung unter 20 Jahren sank von 24,6 Prozent 1988 auf 19,7 Prozent 1999.
Sachsen-Anhalt besaß 1989 noch 2,96 Millionen Einwohner, 1999 waren es 2,64 Millionen. Das Land weist eine lange Geschichte der Abwanderung auf; so lebten im heutigen Landesgebiet 1945 ca. 4,1 Millionen Menschen. Schon zu DDR-Zeiten gab es erhebliche Wanderungsverluste. Geburtenknick und Abwanderung beschäftigen auch die regionale Presse, immerhin habe das Land seit 1990 über 300 000 Einwohner verloren. Der Westen werbe die Jungen, gut Ausgebildeten ab. "Eine Situation wie in den 50er Jahren in der DDR," sagte Ministerpräsident Höppner.
Thüringen hatte 1989 noch 2,68 Millionen Einwohner; 1999 lag die Zahl bei 2,44 Millionen. Auch in Thüringen, einem relativ dicht besiedelten Bundesland, ist die Abwanderung weniger bedeutsam als das Absinken der Reproduktionsrate. Ministerpräsident Bernhard Vogel begründete sein Eintreten für ein Sonderprogramm Ost und für ein schnelleres Wirtschaftswachstum als im Westen u. a. damit, "die bedrohliche Abwanderung vor allem von Fachkräften und von jungen Leute zu stoppen". Eine Abgeordnete der PDS warnte in der gleichen Landtagsdebatte vor der Entstehung einer "Kultur der Abwanderung"
Ein Blick auf die Binnenwanderungssalden in den neuen Ländern von 1991 bis 1997 zeigt, dass Brandenburg bzw. der Raum um Berlin und - mit deutlichem Abstand - Thüringen eine Zuwanderung aus den neuen Ländern erzielten, alle Länder verzeichnen jedoch eine Abwanderung in die alten Bundesländer. Die Hauptabwanderung verläuft dabei jeweils in das angrenzende alte Bundesland.
IV. Schätzungen und Prognosen
Demographische Prognosen stellten die hohen Wanderungsverluste 1989/90 als ein einmaliges Phänomen dar. Ein optimistisches Szenario ging 1990 sogar davon aus, dass nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten eine Rückwanderung einsetzen werde, die bis 2000 eventuell 300 000 Menschen umfassen könne.
Zu den charakteristischen und vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) frühzeitig aufgezeigten Merkmalen gehören eine Westverlagerung der Bevölkerung, mit einem weiter sinkenden Anteil Ostdeutschlands an der Gesamtbevölkerung, sowie die Veränderungen in der Siedlungsstruktur. Während im Westen Dekonzentrationsprozesse zu erwarten sind, spielen sich im Osten großräumige Konzentrationsprozesse ab, die Dekonzentrationsprozesse auf kleinräumiger Ebene haben erst begonnen.
Die Bevölkerung Deutschlands wird nach den Ergebnissen der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung bis zum Jahr 2050 von 82 Millionen auf 65 bis 70 Millionen sinken.
Zwischen den Prognosen bestehen, u. a. als Folge verschiedener Berechnungsgrundlagen, Unterschiede. Nach einer Vorausschätzung von Herwig Birg nimmt die Bevölkerung, die zu Beginn des Vorausschätzungszeitraums (1.1.1998) die deutsche Staatsangehörigkeit hatte, "von 1998 bis 2030 von 74.6 Mio. auf 62.2 Mio., bis 2050 auf 49.0 Mio. und bis 2080 auf 30 Mio. ab. Der Rückgang ist in den neuen Bundesländern prozentual stärker als in den alten (bis 2050: -36.7 Prozent versus -33.7 Prozent)"
Arbeitsgrundlage der Landesregierungen - z. B. für die Planung im Bildungs- und Schulbereich - bildet die jeweilige Bevölkerungsvorausberechnung. Aufgrund des starken Einbruchs bei den Geburten im Zuge des politischen Umbruchs und der Transformation zeigen sich die Konsequenzen vorerst besonders im Schulbereich, ab 2005 ist mit erheblichen Engpässen bei jungen Arbeitskräften zu rechnen.
V. Auswirkungen und Schlussfolgerungen
Die Konsequenzen aus den oben dargestellten Zahlen sind kontrovers. Dabei gilt es, zwischen dem in der Öffentlichkeit und Teilen der Regionalpresse in den neuen Ländern vermittelten Eindruck einer Hypermobilität im Transformationsprozess seit 1990 und einer statistisch nüchternen Betrachtungsweise der vielschichtigen Thematik zu unterscheiden. Schwer einzuschätzen sind die Pendler und ihre eventuellen Umzugsabsichten. Nach dem Mikrozensus 2000 pendeln zwischen allen Bundesländern insgesamt 1,63 Millionen Menschen.
Im Bewusstsein vieler Bürger in den neuen Ländern ist man seit der "Wende" in einen Zustand beschleunigten Wandels eingetreten. Bei der publizistischen Darstellung wird nicht immer zwischen der Abwanderung in den Westen, dem rasanten Rückgang der Geburtenrate u. a. als Folge individueller Lebensgestaltung und den im Zuge der neuen Verhältnisse mit ihren Chancen nun möglichen nahräumlichen Umzug von den Städten ins Umland unterschieden. Die Wanderungsströme aus den Großstädten ins Umland verzeichneten bis Mitte der 1990er Jahre eine Boomphase, damals waren die Umzüge vorwiegend ins eigene "Heim im Grünen" doppelt so hoch wie in den alten Ländern.
Während der Geburtenrückgang in Einzelnen der neuen Länder - etwa in dem heutigen Flächenstaat Mecklenburg-Vorpommern, wo zu DDR-Zeiten deutliche Wanderungsgewinne zu verzeichnen waren - als säkulares Ereignis gilt, "wie es noch nie in einem Land zu Friedenszeiten"
Einige verweisen darauf, dass der Wechsel in Gegenden mit Arbeitskräftenachfrage ein allgemeiner und in gewisser Hinsicht normaler Vorgang sei:
- Die Nettoabwanderung von jungen Menschen in den Westen sei Ausdruck eines Anstiegs der Mobilität in den neuen Ländern nach der erzwungenen Immobilität in der DDR.
- Von 1992 bis 1997 fanden nennenswerte Wanderungen in beide Richtungen statt. Dabei sind auch die von West nach Ost umziehenden Personen (u. a. so genannte Leihbeamte, Manager, Akademiker, Studenten etc.) höher qualifiziert als der Durchschnitt der Bevölkerung. Die vorwiegend kinderlose Migration in die neuen Länder gilt als mitverantwortlich für die per Saldo starke Abwanderung von Kindern und Jugendlichen aus Ostdeutschland.
- Die im Sozialgesetzbuch III vorgesehenen Mobilitätshilfen für Auszubildende (§ 53 Abs. 3 sowie § 59 ff.), die im Verein mit der mehr oder weniger gezielten "Anwerbungspolitik" von einzelnen der alten Bundesländer den Wohnortwechsel beflügeln können, seien auch ein Beitrag zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit und zur Qualifizierung.
Dagegen wird kritisch angemerkt:
- Einige der alten Bundesländer, die derzeit eine positive nationale wie internationale Wanderungsbilanz aufweisen (wie Baden-Württemberg und Bayern), werben u. a. mit großflächigen Anzeigen für die Zuwanderung ins eigene Bundesland und würden dies nicht ohne entsprechende Absichten und Interessen tun.
- Die Abwanderung von jungen Leuten verkehrt die Altersstruktur zu ungunsten der neuen Länder, zumal das Pendeln von Auszubildenden häufig die Vorstufe für einen späteren Umzug darstellt und Formen neuartiger "Kettenwanderungen" oder gar eine Abwanderungsspirale fördern kann.
- Der Altersüberhang entzieht den neuen Ländern kreatives Potenzial und wirkt innovativer Existenzgründung entgegen. Untersuchungen verweisen darauf, dass gerade die "lebendigen Kräfte" gehen würden, die in den alten Ländern bessere Einkommensmöglichkeiten und Chancen sehen, als sie sie in den neuen Bundesländern haben.
In den vergangenen Jahren haben die westdeutschen Regionen sowohl von den innerdeutschen als auch von den ausländischen Wanderungen profitiert, während in den ostdeutschen Regionen der Alterungsprozess rasch voranschritt und die Zahl der erwerbsfähigen Bevölkerung sank. Die regionalen Disparitäten schlagen sich in den Wanderungen nieder, zu dem West-Ost-Gefälle tritt ein Nord-Süd-Gefälle innerhalb Deutschlands. Offenbar kann die Politik eher die Zuwanderung aus dem Ausland regeln, schwieriger scheint die gezielte Einflussnahme auf regionale Binnenwanderungsprozesse.
Mehr als zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung droht die Gefahr, dass sich Gewinner- und Verliererregionen verfestigen. Regionale Unterschiede bestehen zwar in ganz Deutschland, beim Wettbewerb um qualifizierte Fachkräfte und die "besten Köpfe"
Aus einer Fortschreibung bisherigen Migrationsverhaltens ist nicht zu erwarten, dass die neuen Länder in den kommenden Jahren zu einem wichtigen Zielgebiet von Aussiedlern und Ausländern werden könnten, um damit zumindest eine leichte "demographische Korrektur" einzuleiten. In den Modellrechnungen des Innenministeriums wird die für Deutschland insgesamt erwartete Zuwanderung von Deutschen (Aussiedlern) zu 80 Prozent dem früheren Bundesgebiet und nur zu 20 Prozent den neuen Ländern und Ost-Berlin zugerechnet.
Die seit 1989 erfolgte Abwanderung von qualifizierten Facharbeitern könnte sich für einzelne Bundesländer als Hemmschuh beim Wettbewerb um die erfolgreiche Ansiedlung von industriellen Großprojekten erweisen. Trotz einer hohen Arbeitslosigkeit fehlen mittlerweile vielerorts Facharbeiter, z.T. weil sie in den vergangenen zehn Jahren weggezogen sind.
Das Thema Abwanderung bleibt deshalb kompliziert, weil es mit offenen Fragen des deutschen Vereinigungsprozesses verbunden ist. Nach einer Phase des Aufbaus Ost erscheint vielen in den neuen Ländern der Wohnungsleerstand sowie bereits der öffentliche Hinweis auf "ein Sanierungsvorhaben: Abriss" als Beleg für Vernachlässigung, auch wenn Teile der neuen Länder mittlerweile eine modernere Infrastruktur vorweisen können als die alten Bundesländer.
Gerade das Weggehen von jungen und qualifizierten Zeitgenossen, wozu in den letzten Monaten auch Lehrer zählen, die am neuen Arbeitsort teilweise 20 Prozent mehr verdienen, könnte den Eindruck fördern, in einem Land an der Peripherie bzw. einem deutschen Mezzogiorno mit Regen und Wolken zu wohnen. Die Ergebnisse jüngster Umfragen deuten in diese Richtung. "Viele Ostdeutsche glauben nicht an die eigene Zukunft", lautet der Untertitel einer jüngst veröffentlichten Umfrage der Allensbacher Demoskopen. 72 Prozent der 16 bis 29-Jährigen und 61 Prozent der 30 bis 44-Jährigen meinen, dass sie in Westdeutschland mehr Chancen hätten als in Ostdeutschland. 56 Prozent der jungen Ostdeutschen hätten demnach bereits erwogen, in den Westen überzusiedeln und 24 Prozent sollen dazu tendieren, solche Überlegungen in den nächsten Jahren in die Tat umzusetzen.