I. Regionale Unterschiede oder Besonderheiten?
Elf Jahre nach der Vereinigung ist es keineswegs selbstverständlich, von Besonderheiten in Ostdeutschland auszugehen. Gleiche Institutionen haben zu Angleichungen in vielen Lebenslagen geführt. Täglich hören wir Meldungen über schwindende Differenzen. Für die nachwachsende Generation ist die DDR bereits ferne Geschichte.
In Befragungen zu ihren Motiven und zur Bereitschaft, sich "bürgerschaftlich"
1. Auch wer der häufig vordergründigen, polemisch-politischen Auseinandersetzungen über den Charakter der DDR überdrüssig ist, wird nicht umhin können, die Präge- und Folgewirkungen von 40 Jahren Systemdifferenz zu beachten. Politische Kulturen zeichnen sich durch Beharrungsvermögen aus. Mit dem Erbe der DDR ist vorerst - trotz aller historischen und aktuellen deutsch-deutschen Gemeinsamkeiten - positiv wie negativ zu rechnen. Dies gilt vor allem für die in der DDR aufgewachsenen Generationen. In wichtigen Dimensionen, wie Personal und Organisationskultur, in unveränderten Sozialisations- und Bildungseinrichtungen können entsprechende Mentalitäten noch auf Jahre gefördert werden.
2. Die DDR ist durch Bürgerprotest untergegangen. Es wäre zwar überzogen, von einer revolutionären Neugründung der Bundesrepublik zu sprechen, denn schließlich vollzog sich die Vereinigung als Beitritt zum Gebiet der Bundesrepublik. Aber das Zusammenspiel von oppositionellen Bürgerbewegungen, Massenprotesten, wie den Montagsdemonstrationen in Leipzig, und einer breiten Ausreisebewegung ermöglichte - unter günstigen internationalen Bedingungen - einen überraschend friedlichen Systemwechsel. Ihre Projekte und "Dritten Wege" hatten zumeist nur eine kurze Halbwertzeit, und prominente Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler verteilen sich heute auf fast alle Parteien, aber die Wende-Erfahrungen wirken bis in die Gegenwart nach.
3. Im letzten Jahrzehnt war Ostdeutschland, verglichen mit den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks, eine Transformationsgesellschaft besonderen Typs. Mit dem Beitritt wurden die Institutionen der alten Bundesrepublik als Blaupause übernommen, die durch personelle und finanzielle Transfers zur Wirklichkeit werden sollte. Der Zwang und die Chance, eigene Wege zu gehen, entfiel zunächst weitgehend, und die Transfers beschleunigten die Anpassung an die westlichen Zustände. Aber Institutionen lassen sich nicht klonen. Neben den langsamen Prozessen des Einholens, etwa in den Lohneinkommen, haben sich frühzeitig eigensinnige Entwicklungspfade herausgebildet, die sich einer Mischung aus DDR-Erbe, unvollständigen Transformationen und eigenen ostdeutschen Umwidmungen institutioneller Vorgaben verdanken.
4. Schließlich haben sich in den letzten Jahren zwischen Ost und West Ungleichheiten verfestigt, teilweise sogar verstärkt, die nicht ohne Wirkung auf das Bürgerengagement bleiben können. Dies gilt zuerst für den Zugang zur Erwerbsarbeit, der einem Drittel der Erwerbsbevölkerung verwehrt und für ein weiteres Drittel vor allem ungesichert ist, d. h. oft nur über einen ausgedehnten zweiten Arbeitsmarkt möglich ist.
Aus all diesen Gründen können wir davon ausgehen, dass in den neuen Bundesländern in Sachen Bürgerengagement nicht nur regionale Unterschiede ins Gewicht fallen. Die Debatte über diese strukturellen Besonderheiten Ostdeutschlands fällt allerdings schwer. Jede der vier Dimensionen löst heftige Kontroversen hinsichtlich der politischen Beurteilung aus. Die jeweiligen Bewertungen liegen nicht nur bei Ost- und Westdeutschen weit auseinander, sondern sind auch bei "gelernten" DDR-Bürgerinnen und -bürgern heftig umstritten. Einige Hinweise und Fragen sollen genügen:
Gab es überhaupt Bürgerengagement in der DDR? Fehlten hierfür unter der Kuratel eines "vormundschaftlichen Staats"
Zur Realität des unvollständigen Transfers westlicher Institutionen gehört, dass im Osten Parteien und Wohlfahrtsverbände (mit Ausnahme spezifischer Ostschöpfungen wie der PDS oder der "Volkssolidarität") keine bzw. weit geringere Milieubindungen aufweisen und weniger korporatistisch geschlossen sind. Sie sind "moderner", d. h., sie können weniger auf traditionelle Loyalitäten und Beteiligungsmotive setzen, haben aber gleichzeitig die Chance, unbelastet neue Formen des ehrenamtlichen Engagements zu ermöglichen.
Bürgerschaftliches Engagement weist in den neuen Bundesländern nicht nur strukturelle Besonderheiten auf, sondern deren Effekte sind ambivalent und werden kontrovers diskutiert. Ein prominenter ausländischer Beobachter, der nicht im Verdacht steht, die DDR absichtlich zu romantisieren, spitzt die Nach-Wende-Entwicklungen negativ zu: "Im Falle der ehemaligen DDR scheinen die traumatischen Ereignisse nach 1989 ausgesprochen negative Wirkungen auf die meisten messbaren Formen des sozialen Engagements gehabt zu haben."
Auch im bürgerschaftlichen Engagement, wie in vielen anderen Lebensbereichen, mehren sich die Stimmen derer, die heute von einer eigenständigen ostdeutschen "Identität" ausgehen und sie als Mischung von Tradition, Reaktion auf Transformationserfahrungen und Eigensinn beschreiben. Ob diese aktuelle Kultivierung der Differenz mehr als eine vorübergehende Reaktionsbildung auf Enttäuschungen und Fremdheitserfahrungen darstellt, wird sich erst in Zukunft zeigen.
II. Umfang und Profil des bürgerschaftlichen Engagements in Ostdeutschland
Die inzwischen in größerer Zahl vorliegenden empirischen Studien können diese Kontroversen nur bedingt entscheiden helfen. Meist handelt es sich um Ergebnisse aus der Umfrageforschung, die uneinheitlich, teilweise auch widersprüchlich sind. Während die vergleichende Eurovol-Studie 1996 in Ostdeutschland mit 24 Prozent um die Hälfte mehr Engagierte gefunden hat als im Westen (16 Prozent)
Wie kommt es zu solch eklatanten Unterschieden? Eine Quelle liegt in der unscharfen Begrifflichkeit. Für die gleiche Betätigung kursieren unterschiedlichste Selbstbezeichnungen. So favorisieren 48 Prozent der Befragten des "Freiwilligensurveys" den Begriff Freiwilligenarbeit, 32 Prozent Ehrenamt und nur 6 Prozent die Bezeichnung Bürgerengagement
Wenn schon die allgemeinen Aussagen zum bürgerschaftlichen Engagement mit Vorsicht zu behandeln sind, empfiehlt sich eine bereichs- und altersspezifische Betrachtung.
III. Potenziale des bürgerschaftlichen Engagements in Ostdeutschland
Wesentliche Besonderheiten und ihre Ambivalenzen erschließen sich erst unterhalb der Reichweite repräsentativer Befragungen. Gerade für den sensiblen Bereich des bürgerschaftlichen Engagements gilt es, neuere Einsichten der Transformationsforschung zu beherzigen. Danach sind weder die Angleichungs- noch die Kolonisierungsthese angemessen, um die heutigen Verhältnisse in den neuen Bundesländern zu erfassen. Auch Besonderes, Eigenes und Neues sind entstanden.
Dies gilt zunächst für die Ebene der Akteure, d. h. die Organisationen, Vereine und Verbände, die freiwilliges Engagement dauerhaft mobilisieren. Auch wenn das Gros der DDR-Massenorganisationen mit ihren zentralen politischen und ökonomischen Institutionen rasch zerfallen ist, gibt es ein beachtliches historisches Erbe. Einige DDR-Verbände und Massenorganisationen haben überlebt und organisieren bis heute in erheblichem Umfang freiwilliges Engagement in ihren Reihen. Dies gilt z. B. für die "Volkssolidarität", die noch heute der dominierende Verband in der Altenhilfe in den neuen Bundesländern ist. Aber auch im Sport- und Kulturbereich, bei den Kirchen (Diakonie) oder dem Deutschen Roten Kreuz sowie in Sozial- und Gesundheitseinrichtungen gibt es solche Traditionen. In diesem Kontext gibt es auch große personelle Kontinuitäten. Viele Engagierte waren schon in der DDR aktiv. In den ehrenamtlichen Gruppen der "Volkssolidarität" liegt das Durchschnittsalter bei deutlich über 70 Jahren. Gleichwohl hat sich dieser Verband, wie viele aus dieser Tradition, modernisiert und tritt heute auch als Dienstleister an, wie z. B. als Großveranstalter von Seniorenreisen nach Mallorca. In Sportvereinen sind die Kader ausgetreten, die dort gesellschaftspolitische Pflichtaufgaben zu verrichten hatten. Geblieben sind die an Geselligkeit und Sport Interessierten. In der DDR geprägte Milieus und Netzwerke, Mentalitäten und Einstellungen wirken weiter, sind aber auch vielerorts aufgebrochen und "durchlüftet" worden.
Durch ihre schnelle Marginalisierung in der Parteienkonkurrenz sind für viele Beobachter die Initiativen und Projekte der Bürgerbewegungen und des Umbruchs aus dem Blickfeld verschwunden. Wer erinnert sich noch an den Unabhängigen Frauenverband (UFV), das Neue Forum, die Grüne Liga? Dabei wird übersehen, dass sich viele der themenspezifischen Projekte der Bürgerbewegungen und neuen sozialen Bewegungen vor allem in den Groß- und Mittelstädten etablieren und stabilisieren konnten. Daran haben auch rückläufige Transferleistungen aus dem Westen oder Schwankungen der für viele Projekte bedeutsamen ABM- und SAM-Mittel wenig geändert.
In Ostdeutschland sind nach der Wende eigene Verbände entstanden, die erheblich zum ehrenamtlichen Engagement beitragen. Während im Westen gewerkschaftliche und unabhängige Zusammenschlüsse von Arbeitsloseninitiativen aktiv sind, hat sich in den neuen Bundesländern der "Arbeitslosenverband" (ALV) als dominierende Kraft etabliert, der nicht nur ehrenamtliches Engagement und Selbsthilfe organisiert, sondern auch - häufig ABM-gestützt - Beratung, Bildung und Weiterbildung.
Aber wir haben es in den neuen Bundesländern nicht nur mit eigenen Akteuren unterschiedlicher Herkunft zu tun, sondern treffen auch auf andere Organisationsmuster und Strukturprobleme. Traditionsbedingt und transformationsgefördert weisen viele Selbsthilfe- und Freiwilligeninitiativen in den neuen Bundesländern eine große Staatsnähe auf. Oft sind ihre Einrichtungen aus öffentlichen Förderprogrammen entstanden und von ihnen weiterhin abhängig. Zahlreiche Transfers und Programme - bis hin zur Europäischen Union - führten zur schnellen Ausbreitung von entsprechenden Einrichtungen (Werkhaus-Projekten, Selbsthilfekontaktstellen, Freiwilligenagenturen etc.).
Da es keine starke Tradition eigensinniger ziviler Selbstorganisation ohne, gelegentlich auch gegen den Staat gibt, ist die Mehrzahl der Akteure dieses Feldes ohne weiteres Zögern bereit, "Staatsknete" zu verlangen bzw. entgegenzunehmen. Dies gilt selbst für die politischen Bereiche, in denen zu DDR-Zeiten oppositionelle Orientierungen gediehen.
Große Arbeitsmarktnähe prägt das freiwillige Engagement in den neuen Bundesländern. Dieser Befund steht nur auf den ersten Blick im Widerspruch zur behaupteten Staatsnähe. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und andere Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik sind das erklärende Zwischenglied. Da mit ABM-Mitteln nicht dem ersten Arbeitsmarkt Konkurrenz gemacht werden darf, drängen solche Maßnahmen naturwüchsig in öffentliche Bereiche, die klassisch von ehrenamtlich Engagierten wahrgenommen werden oder in den Bereich der freiwilligen kommunalen Aufgaben fallen (etwa in der offenen Altenhilfe, der Ehrenamtsförderung etc.). Nach dem Verlust vieler Industriearbeitsplätze ist in den neuen Bundesländern eine eigene ABM-Landschaft entstanden - quantitativ erheblich bedeutsamer als im Westen, von dauernden Umbrüchen und "einstürzenden Neubauten" begleitet und oft wahlpolitisch überformt. Die Folgen für das bürgerschaftliche Engagement sind ambivalent:
- Oft beschrieben worden sind die direkten Verdrängungseffekte. Was zuvor ehrenamtlich betrieben wurde, ist nun Objekt einer Arbeitsamtsmaßnahme. Die Engagierten werden überflüssig gemacht - oft von weit weniger qualifizierten und motivierten Beschäftigten.
- Häufig kommt es zu einem Nebeneinander von ABM-Kräften, Festbeschäftigten und ehrenamtlichen Kräften in sozialen Einrichtungen. Über ABM werden Projekte und Einrichtungen stabilisiert, die sonst keine Bestandschance hätten, ebenso wenig das dort angelagerte Ehrenamt.
- Nicht selten kommt es zum "Phasing", d. h., in einem Projekt wechseln die dort Tätigen von einer Rolle in die andere.
Die Zentralität von Erwerbsarbeit hat auch eine "gender"-Dimension. In den geschlechtsspezifischen Zugängen und Ungleichheiten im ehrenamtlichen Engagement unterscheiden sich die beiden Landesteile kaum. Das soziale Ehrenamt ist hier wie dort überwiegend weiblich, während das öffentliche Ehrenamt und die Vorstandsarbeit weitgehend Männersache sind.
Fehlende Milieubindung kennzeichnet viele der nach der Vereinigung transferierten Institutionen, vor allem die neuen Parteien und Wohlfahrtsverbände. Die Folgen sind durchaus ambivalent. Einerseits können sie dadurch "moderner" agieren, d. h., ihre Dienstleistungs-, Kampagnen- bzw. Marktorientierung wird nicht durch eine traditionsverhaftete Mitgliedschaftslogik behindert. Andererseits können sie auch weniger aktive Beteiligung mobilisieren. Besonders dem bürgerschaftlichen Engagement droht dadurch eine Nischenexistenz. Zudem verschärft sich in vielen Dienstleistungsbereichen die Konkurrenz mit privaten Anbietern. Betriebswirtschaftliche Orientierungen und professionelle Lösungen drängen ehrenamtlich Engagierte an den Rand, wenn nicht die "Pflege" von Mitgliedern und freiwillig Engagierten als eigenständige Organisationsaufgabe begriffen wird.
Während die "moderneren" Dienstleistungsstrukturen eher in Richtung Verdrängung wirken, hat der "unvollständige Institutionentransfer" auch positive Rückwirkungen auf die Entfaltung von Bürgerengagement. Bei ostdeutschen Parteien und Verbänden lässt sich eine geringere korporatistische Schließung beobachten. Dies erleichtert experimentelle Konstellationen und überraschende Vernetzungen, die jenseits der westlichen Lager- und Milieulogik liegen. Konkret zeigt sich dies an einer erstaunlichen lokalen Vielfalt von "bunten" Projekten und Initiativen, die kreativ alle möglichen Formen von Beschäftigung und Ehrenamt, von Fördermitteln und Trägerarrangements, von Arbeitsfeldern und Organisationslogiken kombinieren. Unterstützt wird dieses lokale Experimentierfeld auch durch ein vergleichsweise starkes Engagement von Stiftungen - wie z. B. der Töpfer, Körber, Bosch oder Bertelsmann Stiftung - in den neuen Bundesländern.
In die gleiche Richtung wirken auch die stärker an Konsens und Gleichheit orientierten Elemente in der politischen Kultur der neuen Bundesländer, die vor allem auf der lokalen Ebene wirksam werden. In der Tradition der Wendezeit finden wir in vielen ostdeutschen Kommunen auch heute deliberative, an Sachproblemen orientierte Runde Tische und Foren zu solchen Themen wie Gewalt, Armut, Arbeitslosigkeit, Drogen etc., die repräsentative Strukturen der kommunalen Selbstverwaltung ergänzen.
IV. Gesellschaftliche Blockaden und politische Widerstände
Wer von den positiven und ambivalenten Besonderheiten des Bürgerengagements in den neuen Bundesländern berichtet, darf von den dunklen Seiten nicht schweigen. Teilweise bilden sie die Unterseite der bereits beschriebenen Entwicklungen.
Eine sozial extrem gleiche Gesellschaft sah sich nach der Wende einer rasanten sozialen Ungleichheitsentwicklung mit vielfältigen Ausgrenzungsprozessen ausgesetzt. Anhaltende Abwanderung, Ab- und Aufwertung einzelner Stadtteile, die Herausbildung sozialer Problemquartiere, von Speckgürteln um die Kernstädte, die Entvölkerung ländlicher Regionen und wachsende regionale Unterschiede sind einige der aktuellen Erscheinungsformen. Die Dynamik geht wesentlich von den Arbeitsmärkten aus, d. h. von dem anhaltend hohen Niveau dauerhafter Massenarbeitslosigkeit. Sie schlägt, nach allem, was wir über den positiven Zusammenhang von gesicherter Erwerbsarbeit und Ehrenamt wissen, auf die Chancen und die Bereitschaft zum Bürgerengagement durch.
Auf der Unterseite des konsensuellen Politikverständnisses lassen sich unschwer autoritäre, paternalistische, professionelle und elitäre Orientierungen aufspüren, die bürgerschaftlichem Engagement eher entgegenstehen. Antipluralistische Einstellungen sind in Ostdeutschland mehrheitsfähig
Hinzu kommt die Formierung antibürgerschaftlicher Einstellungen und Milieus. Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus sind zwar keine ostdeutsche Besonderheit, aber es gibt ein deutliches Ost-West-Gefälle. Regionale Erfahrungen verweisen auf einen Umschlag von Quantität in Qualität, von Ghettokultur in Mehrheitskultur. Rechtsextreme Jugendkulturen und sie duldende oder unterstützende Erwachsenenmilieus haben sich in zahlreichen Großsiedlungen und ländlichen Regionen des Ostens als dominierende Kultur etablieren können. Nicht selten werden ihre Cliquen und Kameradschaften als Ordnungskraft wahrgenommen und genutzt, solange sie nicht durch spektakuläre Gewalttaten für negative überregionale Aufmerksamkeit sorgen.
V. Mögliche Konsequenzen, nicht nur für Ostdeutschland
Schattenseiten, Ambivalenzen und Potenziale fordern politische Gestaltung heraus. Aktive Bürgerschaft lässt sich zwar nicht erzwingen oder verordnen, aber sie kann ermöglicht, anerkennend gepflegt, gefördert und unterstützt werden. Auch wenn wir davon ausgehen dürfen, dass sich Bürgerengagement immer wieder überraschend und selbsttätig Bahn brechen wird, können seine Gestaltungschancen dennoch politisch erweitert oder aber institutionell eingeschnürt und entmutigt werden. Nicht zuletzt ist Engagement zu erlernen. Dies geschieht meist früh im Lebenslauf entweder durch Vorbilder im Nahbereich oder weil es, wie vielerorts in den USA, selbstverständlicher Bestandteil eines schulischen Curriculums ist. Von dem vielen, was geschehen könnte, sollen wenigstens vier Gestaltungsaufgaben benannt werden:
1. Gerade wenn, wie so viele "soziologische Spatzen" auf dem "Theoriedach" pfeifen, immer neue Individualisierungsschübe zu erwarten sind und mit der Erneuerung naturwüchsiger, "mechanischer" Solidaritäten nicht gerechnet werden darf, sollte eine möglichst gleichheitsorientierte Engagementförderung als öffentliche Infrastrukturaufgabe begriffen werden. Es liegt inzwischen eine Fülle von Erfahrungen mit entsprechenden Einrichtungen, wie z. B. Bürgerhäusern, soziokulturellen Zentren, Selbsthilfekontaktstellen oder Freiwilligenagenturen, vor. Wir wissen, wie sie besetzt und ausgestattet sein sollten, damit sie ihre Aufgabe erfüllen können; und es gibt Beispiele einer klugen Förderpolitik der öffentlichen Hand, die den Eigensinn der freiwillig Aktiven achtet und zugleich die Vereinnahmung durch Partikularinteressen verhindert, die Offenheit zwischen den Generationen fördert und Vernetzungen wie Eigenaktivitäten stimuliert. In der Praxis haben wir es allerdings nur mit einigen wenigen "Leuchttürmen" zu tun. Halbherzig und schlecht ausgestattet, hat das Gros der Initiativen zur Zeit einen eher schweren Stand.
2. Die Klage vieler schon zu DDR-Zeiten freiwillig Engagierter, sie hätten es damals leichter gehabt und mehr Anerkennung gefunden, hat einen, der Nostalgie unverdächtigen, harten Kern. Das Ideal, d. h. gesicherte und einträgliche Erwerbsarbeit, einen flexiblen und porösen Arbeitstag, der dem gewünschten Engagement durch großzügige Freistellungen und unkomplizierte Aufwandsentschädigungen Raum gibt, kennen wir auch im Westen - allerdings als Mittelschichtprivileg. Wer ernsthaft an einer Erweiterung und Demokratisierung von Engagementchancen interessiert ist, muss auch die Fragen nach der sozialen Grundsicherung und den Zugangschancen zur Bürgerschaft über Erwerbsarbeit zulassen. Sonst gerät die neue aktive Bürgerschaft zum Privileg für diejenigen, die es sich leisten können - und sich über ihr Engagement weitere Privilegien verschaffen.
3. Bürgerschaftliches Engagement benötigt nicht nur öffentliche Unterstützung und möglichst gleiche individuelle Zugangschancen. Auch wenn die öffentliche Rhetorik die Illusion nährt, alle gesellschaftlichen Einrichtungen warteten sehnsüchtig und hoffnungsvoll auf die aktiven Bürgerinnen und Bürger, werden sie andere Erfahrungen machen, wenn sie sich auf den Weg in die Institutionen begeben. Sie werden ihre Handlungsspielräume vielfach erst erkämpfen müssen. Wo kämen wir da hin, wenn die Abläufe in Kindergärten und Hochschulen, in Krankenhäusern und Altenheimen, in Schulen, Sozialstationen und Kommunalverwaltungen nicht mehr in der ausschließlichen Verfügung von den dort professionell Tätigen und ihren Vorgesetzten (inklusive des rechtlichen Überbaus) lägen? Bürgerschaftliches Engagement stärken heißt deshalb, mehr Demokratie in gesellschaftlichen Institutionen zu wagen. Es geht um mehr Macht für die Bürgerinnen und Bürger. Dies erfordert neue institutionelle "Passungen" zwischen Hauptamtlichen einerseits und den Ehrenamtlichen, Nutzern, Patienten, Klienten, Kunden, Schulpflichtigen etc. andererseits. Erst unter diesen Bedingungen einer neuen Machtbalance kann bürgerschaftliches Engagement ein Weg zur Überwindung "politischer Armut" sein und bislang fehlende Artikulationsmöglichkeiten freilegen.
4. Die ostdeutschen Erfahrungen verweisen auf eine brisante Problematik, die gerne verdrängt wird: Freiwilliges Engagement, Ehrenamt, Vereinsmitgliedschaft, "soziales Kapital" sind nicht mit demokratischem und zivilgesellschaftlichem Engagement gleichzusetzen. Gerade die deutsche Geschichte bietet genügend Anlass, an dieser Gleichsetzung zu zweifeln. Erinnert sei nur an die bürgerliche Vereinskultur in der Kaiserzeit, der Heinrich Mann in "Der Untertan" ein literarisches Denkmal setzte. Kleingartenvereine brachten in der Nazizeit an Kolonieneingängen Tafeln an, auf denen zu lesen war: "Gartenluft verträgt keinen Judenduft." Im Begriff "bürgerschaftliches Engagement" steckt ein demokratischer Anspruch, der in den realen Engagementformen auch unterschritten werden kann. Ob es in der DDR überhaupt bürgerschaftliches Engagement anders als in Form von Dissidenz und Opposition geben konnte, ist heute nicht mehr die entscheidende Frage. Aber wie demokratisch sind die heute praktizierten Formen von Selbstorganisation, freiwilligem Engagement und Selbsthilfe wirklich, wie demokratisierend könnten sie wirken? Können sie die seit Alexis de Tocqueville immer wieder gefeierte freiheits- und demokratiebegründende Funktion freiwilliger Zusammenschlüsse tatsächlich unter den gegenwärtigen Bedingungen erfüllen? Gerade wer das demokratische Potenzial bürgerschaftlichen Engagements stärken möchte, sollte auch in diesem politischen Feld den Abstand zwischen Norm und Wirklichkeit als Herausforderung verstehen.