Städte leben vom Nimbus ihrer "Urbanität", ihrer verdichteten Vielfalt. Durch diese Vielfalt sind sie Schauplätze des Nebeneinanders ungleicher Entwicklungen und weisen infolge gesellschaftliche Fragmentierungen auf, die mit einer Hierarchisierung der Stadtstruktur in Ränder und Zentren einhergehen. Die Thematisierung von "Rand" und "Zentrum" kann auf einer metaphorischen Ebene angesiedelt sein oder sich auf reale, teilweise messbare sozialräumliche Differenzierungen beziehen. Diese Dopplung von Zuschreibung und städtischer Realität verschmilzt jeweils dann, wenn die Städte Objekte strategischer Interventionen und stadtpolitischer Projekte werden. Die Stadtpolitiken reagieren auf ganz verschiedene Facetten der Peripherisierung: auf die physische, ökonomische, soziale und kulturelle Distanzierung zum Zentrum beziehungsweise einer Abkoppelung vom Zentrum. Sie beziehen sich auf den Verschleiß, auf die Abwertung, Entleerung und Eigenständigkeit beziehungsweise entstehende Gegenwelten, kollektive Repräsentationen und Narrationen.
Vor gut einem Jahrzehnt identifizierten die Stadtsoziologen Hartmut Häußermann, Dieter Läpple und Walter Siebel drei zentrale Herausforderungen für die Stadtentwicklung des 21. Jahrhunderts:
Im Folgenden gehen wir der Produktion von Zentren und Rändern in Städten nach. Berlin bietet sich als Beispiel an, da sich hier die Prozesse von Auf- und Abwertung, Ausverkauf und Veränderung der Mischung in markanter Weise finden lassen.
Sozialräumliche Polarisierung und Gentrifizierung
Zwischen 1995 und 2015 nahm die Einkommensungleichheit in Deutschland zu; die Mitte ist geschrumpft, die Ränder gewachsen beziehungsweise davon bedroht, abgekoppelt zu werden.
In 59 der 77 Großstädte in Deutschland mit einer Einwohnerzahl über 100000 Menschen muss mit zunehmenden Spannungen auf dem Wohnungsmarkt gerechnet werden, so das Ergebnis einer kürzlich erschienenen Wohnungsmarktstudie.
Nach einer Stagnationsphase wächst die Bevölkerungszahl Berlins seit 2011 um etwa 40000 bis 60000 Menschen jährlich, darunter zeitweise viele Flüchtlinge. Zu diesem Zuwachs an Einwohnern gesellt sich eine wachsende Zahl an "temporären" Bewohnerinnen und Bewohnern, die für eine gewisse Zeitspanne ihre Zelte in der Stadt aufschlagen. Die wachsende Popularität Berlins als Reiseziel schlägt sich zudem in hohen Besucherzahlen nieder – 12,7 Millionen waren es 2016.
War Berlin nach der Wiedervereinigung durch Deindustrialisierung, wirtschaftliche Schwäche und hohe Arbeitslosigkeit geprägt, liegt die Stadt heute auf einem stabilen Wachstumskurs;
Erstens hat der Umzug der Bundesregierung zu einem enormen Wachstum an Arbeitsplätzen beigetragen. So arbeiten allein in den Bundesministerien in Berlin mittlerweile 12000 Beschäftigte. Hinzu kommen Tausende von Lobbyisten, Pressevertreterinnen, Beratern oder ausländischen Diplomatinnen. Diese Stellen sind mit hoch qualifizierten und häufig sehr spezialisierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besetzt, die von ihren Arbeitgebern "mitgebracht" werden und in der Regel sehr hohe Einkommen erzielen. An diese Arbeitsplätze gekoppelt ist ein Pool niedrig qualifizierter Dienstleistungstätigkeiten, etwa Sicherheitsdienste oder Gebäudereinigung.
Zweitens ist für Berlins Wirtschaft die Zunahme der temporären Besucher, vor allem der Touristen, wichtig. Offizielle Zahlen weisen mehr als 275000 Arbeitsplätze in diesem Sektor aus, mit wachsender Tendenz.
Drittens ist der Komplex der Kreativwirtschaft für Berlin von Bedeutung. In den Feldern Kulturwirtschaft und digitale Industrie entwickelte sich Berlin in der vergangenen Dekade zu einer "Start-up City".
Das wirtschaftliche Wachstum kommt also nicht allen gleichermaßen zugute, sondern geht mit einer stärkeren Spreizung der Einkommen einher.
Die Prozesse der Gentrifizierung, also der sozialen und baulichen Aufwertung von Wohnlagen durch sich wechselseitig verstärkende Prozesse wie den Zuzug neuer Bevölkerungsgruppen, der (Luxus-)Sanierung des alten Wohnungsbestands und der Verdrängung der alten Mieter, wandelten sich von einer Randerscheinung der Stadtentwicklung zum "Mainstream".
Spiegelbildlich zur Gentrifizierung der Innenstadtgebiete steht die Abwertung von bereits in hohem Maße von Armut geprägten Gebieten. Traditionell fanden sich diese in einer Reihe von Westberliner Innenstadtgebieten (Kreuzberg, Neukölln, Moabit, Wedding) und in den peripheren Großwohnsiedlungen am Stadtrand. Aktuelle Entwicklungen haben dieses Bild deutlich verändert und definieren die Ränder der Stadt neu. Nach Berichten des "Monitoring Soziale Stadtentwicklung Berlin"
Ein führender Senatsbeamter, Hanno Klein, sprach von den großen Plattenbaugebieten in Ost und West bereits 1991 als "Staubsauger" für diejenigen, die sich die Innenstadt nicht mehr leisten können.
Dynamiken der Finanzialisierung und Privatisierung
Die wachsende Nachfrage nach Wohnraum geht in Berlin mit einer Abnahme preisgünstiger Wohnungen einher. Dies entspricht einer Entwicklung in Richtung marktorientierter Wohnraumversorgungssysteme und spiegelt einen Wandel staatlicher Politiken in den vergangenen Jahrzehnten wider. In Berlin, der "Stadt des sozialen Wohnungsbaus par excellence",
Dieser Rückgang beruht zunächst auf dem deutschen Modell des Sozialwohnungsbaus, bei dem die soziale Bindung nach einer bestimmten Zeit abläuft. Ohne zusätzliche Subventionen geht die Zahl an Sozialwohnungen also automatisch zurück. Zusätzlich implizieren die teilweise in den 1970er Jahren festgelegten Förderkonditionen eine kontinuierliche Mietsteigerung, die im sozialen Wohnungsbau heute ein Niveau erreicht hat, das über dem Mittelwert des Mietspiegels liegt. In der Folge ist auch der soziale Wohnungsbau in vielen Fällen für Bezieher niedriger Einkommen und Transferempfänger unbezahlbar geworden.
Darüber hinaus wurden die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften im Zuge einer "Rollback-Neoliberalisierung"
Berlin verkaufte über die drei vergangenen Jahrzehnte – auch aufgrund von Schrumpfungsannahmen und der Haushaltsnotlage – in erheblichem Maße öffentliche Wohnungsbestände an private Investoren. Dies betraf etwa ein Sechstel des Bestands der kommunalen Wohnungsunternehmen Ostberlins, der im Rahmen des "Altschuldenhilfegesetzes" an "Zwischenerwerber" veräußert wurde. In einer zweiten Welle wurden in den 2000er Jahren umfangreiche Bestände an Private-Equity-Gesellschaften verkauft. Zwischen 2001 und 2005 trennte sich Berlin von einem Drittel der ehemals landeseigenen Bestände (121600 WE). Als Höhepunkt der Privatisierung gilt der Verkauf der kommunalen "Gemeinnützigen Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft" (GSW), die 2004 mit 65000 Wohnungen an ein Konsortium von US-amerikanischen Finanzinvestoren ging. Damit hat die Stadt Berlin in erheblichem Maße Interventionsmöglichkeiten auf dem angespannten Wohnungsmarkt verloren.
Der Verlust öffentlichen Einflusses ging mit einer "Finanzialisierung" der Immobilienwirtschaft einher, wodurch die lokale Versorgung mit Wohnraum zunehmend durch Finanzakteure, -mechanismen und -praktiken geprägt ist.
Ferner wächst die Bereitschaft privater Haushalte, sich zu verschulden, um Vermögen in Form von Wohneigentum zu bilden. Niedrigzinspolitik und das fehlende Angebot an erschwinglichen Mietwohnungen führen so zu einer wachsenden Zahl von Haushalten, die Eigentum erwerben – nicht nur für den Eigenbedarf, sondern auch als Form der Vermögensbildung. So bezeichnete Formen eines "asset-based welfare"
Dies hat zu tiefgreifenden Veränderungen in der Struktur des Berliner Wohnungsangebotes geführt. Die Anzahl der angebotenen Wohnungen mit Nettokaltmieten unterhalb der von den Jobcentern für Transferleistungsbezieherinnen und -bezieher angewandten Bemessungsgrenzen für die Kosten der Unterkunft (KdU) schrumpfte zwischen 2007 und 2015 von 103000 auf 9500 Einheiten. Noch 2007 war in fast allen Bezirken die Anzahl dieser Wohnungen höher als die der Eigentumswohnungen; 2015 dagegen konzentrieren sich KdU-fähige Wohnungen auf Marzahn-Hellersdorf (etwa 30 Prozent), Treptow-Köpenick, Lichtenberg und Spandau (je etwa 10 Prozent). Im selben Zeitraum stieg die Zahl der Kaufangebote für Eigentumswohnungen in Berlin bei Immobilienscout24 von 27 auf 62 Prozent.
Mit der wachsenden Nachfrage ging demnach nicht nur der Bestand an öffentlichen und Sozialwohnungen rapide zurück, sondern es setzten sich darüber hinaus im privaten Wohnungsmarkt zusehends Verwertungsmodelle mit hoher Renditeorientierung durch. Angesichts der im Vergleich traditionell niedrigen Einkommen wird die Miete damit zum "Armutsfaktor Nr. 1" in Berlin – und ist ursächlich für die Positionierung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen an den Rändern oder im Zentrum der Stadt.
Diversität und die "richtige Mischung"
In Berlin sind die immer wieder angekündigten "Ghettos" – bis auf punktuelle Ausnahmen – ausgeblieben. Dennoch sind einige Bevölkerungsgruppen überproportional oft an den "Rändern" der Stadtgesellschaft positioniert. Immer noch ist die Armutsquote der ausländischen Bevölkerung beziehungsweise der Bevölkerung mit Migrationshintergrund mehr als doppelt so hoch wie die der Bevölkerung mit deutschen Wurzeln.
Zugleich kann Berlin inzwischen, so wie andere große europäische Einwanderungsstädte auch, darauf zählen, dass es weitere Zuwanderer anzieht, die mit Ressourcen kommen. Die Vielfalt, auch gerade in den Nachbarschaften mit Armutsnischen und den teilweise noch niedrigen Mieten, zieht die kreativen Mittelschichtler an. Das "Migrantische" wird dort nicht mehr als "randständig" angesehen, sondern dient zunehmend als Distinktionsmerkmal, zur Abgrenzung der Mittelschichten mit ihrem kosmopolitischen Habitus. Das multikulturell geprägte Stadtumfeld wird Teil eines Lifestyles, das Diversität als Internationalität und Konsumversprechen interpretiert.
Schnell vergessen ist, dass diese besondere Mischung – der migrantische "Mehrwert" – durch langjährige Maßnahmen der Sozialpolitik, die mit besonderen Partizipationsansätzen operierten, vorbereitet wurde. In den in Mauerzeiten abgehängten Stadtteilen wie Kreuzberg und Neukölln musste man erfinderisch sein, wollte man gemeinsame Aktionen für alle Bewohnerinnen und Bewohner voranbringen. Diese Nachbarschaften verdankten ihre Bevölkerungsstruktur im Wesentlichen dem Zuzug von Migrantinnen und Migranten in die abrissreifen Altbauten der 1970er Jahre. In Kombination mit wohnungsbaulichen Experimenten wie der behutsamen Stadterneuerung und hochsubventionierten Sozialprogrammen entstand ein für die Bundesrepublik einmaliges Soziotop. Wie in anderen armutsgeprägten Stadtteilen auch konnten viele Bewohner durchgehend in Programme des Quartiersmanagements eingebunden und aktiviert werden. Stadtteilmanager wirkten als Koordinatoren von bereits initiierten Unternehmungen,
Hinzu kam, dass sich zahlreiche Migrantinnen und Migranten beruflich selbstständig machten – mangels Alternativen oder aus eigenem Wunsch – und so dafür sorgten, dass die Versorgungsinfrastruktur vor Ort erhalten blieb. Heute sind diese Stadteile häufig die Gebiete, in denen die Mieten so stark steigen, dass eine Verdrängung der einkommensschwachen, häufig migrantischen Haushalte, einsetzt. Widerstände gibt es immer wieder: In einer Nachbarschaft Kreuzbergs, dem Wrangelkiez, rückte jüngst ein von einem türkeistämmigen Inhaber geführter Supermarkt, Bizim Bakkal, ins Zentrum eines Protestbündnisses. Der Laden drohte aufgrund einer Mieterhöhung schließen zu müssen. Diese wurde nach Protesten von den Investoren zurückgenommen; der Geschäftsinhaber musste sein Geschäft dann jedoch aus gesundheitlichen Gründen schließen. Bizim Bakkal avancierte seitdem zu einem Symbol für die im Stadtteil omnipräsenten Verdrängungsprozesse der Gentrifizierung, das Protestbündnis fordert "den Erhalt der Nachbarschaft im Wrangelkiez".
Fazit
Auf- und Abwertung, Ausverkauf und Mischung sind weiterhin grundlegend für das Verständnis der Entstehung von Zentren und Rändern in Städten. Die Datenlagen zur Entwicklung der sozialen Ungleichheit, zum Wachstumsdruck und zur sozialräumlichen Ausdifferenzierung in den Städten sind eindeutig. Treiber dieser Dynamiken sind die Veränderungen auf den Wohnungsmärkten, die durch den Rückzug des Staats und durch eine stärkere Finanzialisierung durch (in- wie ausländische) Investoren unter Druck geraten sind. Die Frage nach der "richtigen Mischung" bleibt bestehen und wird insbesondere von den Mittelschichten gestellt. Migrantisch geprägte Stadtteile in Berlin, bekannt für ihre urbane Dichte, Vielfalt und zentrale Lage, zeigen ein Nebeneinander von gefeierter Diversität im Sinne des Lebensstils eines kreativ-prekären Mittelklassemilieus auf der einen Seite und handfester Armut und Verdrängung der dort ursprünglich lebenden marginalisierten Bevölkerungsgruppen auf der anderen Seite. Diese haben den "Mehrwert" im Zuge langjähriger Stadtpolitiken und beruflicher Selbstständigkeit erst mitaufgebaut. Wie in einem Vexierbild rückt der Prozess der sozialräumlichen Ausdifferenzierung vom Rand in den Mainstream und die Stadtbewohner, die dies betrifft, von der Mitte an den Rand. Die vor einer Dekade identifizierten Prozesse existieren in Berlin zunehmend weniger nebeneinander, sondern sind eng miteinander verschränkt. Im bundesdeutschen Vergleich artikulieren sie sich hier überdeutlich.