Was macht einen Ort aus? Wie lassen sich Essenz und Atmosphäre einer Stadt einfangen? Vor zwei Jahrzehnten war die Frage nach den lokalen Besonderheiten und der kulturellen Einzigartigkeit von Städten noch weitgehend eine Angelegenheit des Feuilletons und der Reiseliteratur. Nur wenige Vertreterinnen und Vertreter der Sozial- und Kulturwissenschaften interessierten sich systematisch für das, was der Soziologe René König Ende der 1960er Jahre als "idiografische Erfassung" der Großstadt bezeichnete. König hatte die um 1960 publizierten Studien von Richard Wohl, Anselm Strauss und Kevin Lynch zu Gestalt und Image US-amerikanischer Städte gelesen und daraus den Schluss gezogen, "daß […] jede Großstadt ein ungeheuer komplexes Gebilde bedeutet, das jeweils die einzigartige Lösung einer einzigartigen Aufgabe darstellt". Idiografische Forschung interessiere sich für die "Dauerzüge", die eine Stadt im Laufe ihrer Geschichte entwickelt und die "die Identifizierung der betreffenden Stadt über lange Zeiträume über Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende erlauben".
Vom "Habitus der Stadt" zur "Eigenlogik der Städte"
Seit der Jahrtausendwende ist das Feld idiografischer Stadtforschung auffallend in Bewegung geraten; das sozial- und kulturwissenschaftliche Interesse an dem spezifischen Charakter bestimmter Städte hat kontinuierlich zugenommen. Dabei wurde ein vielfältiges theoretisches Vokabular entwickelt, um Prozesse städtischer Singularitäts- und Identitätsbildung nachzeichnen und untersuchen zu können.
Unabhängig voneinander haben die Kulturwissenschaftler Martyn Lee und Rolf Lindner Ende der 1990er Jahre das Konzept eines "Habitus der Stadt" skizziert.
Neben dem Konzept des "Habitus der Stadt" sind aber noch viele andere theoretische Zugänge zur Eigenart der Stadt zur Diskussion gestellt worden. Die Idee der "kumulativen Textur" städtischer Kultur des US-amerikanischen Soziologen Gerald D. Suttles ist hier ebenso zu nennen wie die Forschungen zum "kulturellen Imaginären" der Stadt oder zur Stadt als Wissens- und Geschmackslandschaft.
Martina Löw und Helmuth Berking haben im Rahmen eines groß angelegten, vom Land Hessen geförderten Forschungsschwerpunktes an der Universität Darmstadt das Konzept der "Eigenlogik der Städte" entwickelt, das den vielleicht am weitesten reichenden Anspruch erhebt.
Nicht zuletzt aus solchen Anwendungsbezügen heraus lässt sich die anhaltende Zugkraft des Konzepts "Eigenlogik der Städte" verstehen. Von der Eigenlogik-Forschung geht implizit das Versprechen aus, das strukturierende Prinzip von Orten aufdecken zu können, herausfinden zu können, wie eine Stadt "tickt". In einer Zeit, in der Ökonomie und Planungswissenschaften schon längst die kulturelle Seite der Stadtentwicklung und die "weichen Standortfaktoren" entdeckt haben, in der Stadtmarketing und city branding so hoch gehandelt werden wie noch nie, muss ein solches Versprechen auch die Förderinstitutionen überzeugen. Die nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch in der anglophonen Stadtforschung verstärkt diskutierten Fragen nach der uniqueness und distinctiveness von Städten haben mit einer öffentlichen Nachfrage zu tun, die auf ökonomische Strategien ebenso zielt wie auf touristische Erlebnisqualitäten und die Inwertsetzung des Lokalen durch kulturelles Erbe; die Frage, wie sich Städte als kulturelle Räume voneinander unterscheiden, wird im Zeichen einer verschärften Städtekonkurrenz und einer hochkompetitiven kommunalen Attraktivitätsbilanzierung immer interessanter. Auch und gerade der Blick in die Geschichte gewinnt dabei neue diagnostische Potenziale: Wenn man verstanden hat, wie es kommen musste, kann man vielleicht auch abschätzen, wie es weitergeht.
Eigenlogik Anno 1910
Es passt bestens zur Hochkonjunktur der Eigenlogik in der Stadtforschung, dass der Kunsthändler und Publizist Florian Illies 2015 für den Suhrkamp-Verlag einen über hundert Jahre alten, bissig-brillanten Text über die damalige Reichshauptstadt neu herausgegeben hat: Karl Schefflers "Berlin – ein Stadtschicksal". Aus diesem erstmals 1910 erschienenen Buch ist vor allem der Schlusssatz berühmt geworden: Berlin sei "dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein".
In seinem Vorwort positioniert der Herausgeber Illies Schefflers Berlin-Klassiker nicht nur als historische Reminiszenz, sondern auch als einen Beitrag zur Frage nach aktuellen Besonderheiten der Berliner Stadtentwicklung und Kulturpolitik. Er unternimmt also gleichsam die Nagelprobe auf Schefflers Behauptung, die Entwicklungslogik Berlins durchschaut zu haben und aus der Vergangenheit auch die Zukunft erklären zu können. Dabei kommt Illies zu dem Schluss: Was Karl Scheffler 1910 schreibt, das gilt tatsächlich "hundert Jahre, zwei Weltkriege, vier deutsche Staatsgebilde später unverändert".
Worin also besteht die angebliche DNA Berlins? Wie "tickt" diese Stadt? Scheffler unternimmt gleich zu Beginn den Versuch, die damalige Reichshauptstadt mit einem Wort zu charakterisieren: Berlin ist eine "Kolonialstadt". Das ist Schefflers Leitmotiv, das über 200 Seiten ausführlich durchdekliniert wird: Berlin war nie natürliches Zentrum, vielmehr Grenzstadt im Übergang zur "östlichen Peripherie der deutschen Kulturzone", dort wo sich "in schwermütiger Einsamkeit […] das Acker- und Heideland dahin[dehnt]". Berlin, so Schefflers Diagnose, hat kaum gewachsene Strukturen, seine Bevölkerung rekrutiert sich zu großen Teilen aus Migrationsbewegungen seit den Kolonistenansiedlungen unter Friedrich II.; im ausgehenden 19. Jahrhundert kamen vor allem aus dem Osten des Deutschen Reiches Hunderttausende von Arbeitsmigranten in die Stadt, über die Scheffler schreibt, sie waren "im wesentlichen Proletarier, die den brennenden Ehrgeiz hatten, Bourgeois zu werden". Dieses Rasante und "Parvenühafte" des Lebens, mit aufstiegsorientierten Menschen, die "widerstandsfähig, praktisch, hart und zähe im Daseinskampfe" sind, hat sich Scheffler zufolge in das kulturelle Unbewusste Berlins eingeschrieben. Es hat auch den Stadtgrundriss und die Architektursprache der Stadt geprägt, in der Scheffler "innere Willkür", "Kleinlichkeit" und "Unübersichtlichkeit" sieht. Um dieser "städtischen Formlosigkeit willen" sei Berlin schon immer "Spielraum für unbegrenzte Möglichkeiten gewesen".
Zwischen Feuilleton und Wissenschaft?
Von Karl Scheffler 1910 begonnen und von Florian Illies fortgeschrieben, ist hier eine polemische Erzählung über die Stärken und vor allem die Schwächen der alten wie der neuen Berliner Hauptstadtkultur entstanden, eine flotte, feuilletonistische Stilkritik, die sich um die Ansprüche exakter Argumentation nicht weiter scheren muss. Deshalb darf Illies schließlich auch leichtfertig behaupten: "Man kann dieses ganze alte Buch lesen wie einen Führer durch das neue Berlin".
Selbstverständlich ist die Zeitdiagnose Schefflers ein bemerkenswertes und stellenweise hellsichtiges Stück Literatur, und der Wiedererkennungseffekt einiger Szenen und Szenerien ist durchaus frappierend. Beispielsweise entspricht die unter Klaus Wowereit 2008 lancierte Marketingkampagne "be berlin" erstaunlich genau der historischen Stadtdiagnose à la Scheffler: Diese Stadt lebt – so der Tenor der Kampagne – von der Veränderung, und sie lebt in der Zukunft; sie ist eine "Stadt der Chancen". Und der Arbeitstitel für die neue stadtgeschichtliche Dauerausstellung im Märkischen Museum lautet – fast als hätte Scheffler ihn den Verantwortlichen in die Feder diktiert – "Berlin ist eine Baustelle". Indizien dieser Art findet man zuhauf: Den permanenten Wandel hat man in Berlin längst als Markenzeichen gesetzt und als Daseinsprinzip verinnerlicht; "[d]ie einzige Tradition, die [hier] hochgehalten wird, ist die der Traditionslosigkeit",
Aber: Auf lange Sicht können solche Déja-Vus nicht darüber hinwegtäuschen, dass das heutige Berlin auch vollkommen anders ist als der von Scheffler beschriebene geschmacklos-hässliche, wilhelminische Moloch. Es gibt in den Villenvierteln von Lichterfelde West oder Friedenau, in den Kleingartenanlagen von Spandau oder Weißensee so viele gewachsene Strukturen und so viel biedere Sesshaftigkeit, dass die Baustelle Berlin, in der man sich ständig neu erfindet, weit weg zu sein scheint. Und selbst im Epizentrum dieser Baustelle gibt es vollkommen konträre Wahrnehmungen, wie ein Stadttext des österreichischen Journalisten JM Stim belegt, der nicht etwa das Tempo, sondern die "offenbare Gemächlichkeit" als Kennzeichen Berlins herausstellt.
Die stadtsoziologische Debatte
Um die "Eigenlogik der Städte" ist in den vergangenen Jahren eine intensive stadtsoziologische Debatte entbrannt, die an verschiedenen theoretischen Schwachpunkten dieses Konzepts ansetzt, aber auch von einigen Missverständnissen belastet ist.
Verwiesen wird weiter auf den unklaren Handlungsbegriff, der in unzulässiger Weise die Bewohnerinnen und Bewohner einer Stadt über ihre angeblichen "ortstypischen" Handlungsmuster zusammenfasst und deterministisch festschreibt; den Habitusbegriff auf ganze Städte zu übertragen, würde überdies bedeuten, die Stadt irreführenderweise als Körper zu denken. Durch die unkritische Orientierung der Eigenlogik-Forschung am Vorhandenen ergebe sich zudem ein Zirkel von Faktizität und Normativität, der durch die Anwendungsorientierung noch verstärkt werde.
Hinzu kommt ein methodologischer Einwand: Kann eine Stadtforschung, die sich für die kulturelle Einzigartigkeit bestimmter Orte interessiert, überhaupt etwas anderes finden als das, was sie ohnehin bereits im Blick hat? Ergibt sich nicht auch hier ein heuristischer Zirkel, wenn die Forschung die Stadt kulturalisiert, um sie im nächsten Schritt als kulturelles Gebilde zu entdecken?
Diese kritischen Einwände wiegen – einzeln und zusammengenommen – schwer. Eine Forschungsrichtung, die als fundamental unscharf, holistisch, essenzialistisch, deterministisch und kulturalistisch gescholten wird, muss zu ihrer Verteidigung gute Argumente bereithalten. Diese Argumente gibt es. Grundsätzlich ist das Erkenntnisinteresse, das hinter den Konzepten des "Habitus der Stadt" und der "Eigenlogik der Städte" steht, schon dadurch berechtigt, dass die holistische, auf das Ganze zielende Stadterfahrung in der Alltagspraxis eine Selbstverständlichkeit ist. Der Philosoph Gernot Böhme schreibt: "Wenn man in einer bestimmten Stadt wohnt oder dorthin als Tourist kommt, so hat man durchaus ein Gefühl dafür, was es heißt, in dieser Stadt zu sein. Eine Stadt ist heute ein Feld ungeheurer Komplexität, und es ist fraglich, ob man sagen kann, dass dieses Komplexe ein Ganzes ausmacht. Gleichwohl, es gibt offenbar diese integrative Erfahrung: Ich bin in dieser Stadt hier".
Weiter ist an die genuin kulturwissenschaftliche Herkunft dieses Forschungsansatzes zu erinnern, aus der sich seine Potenziale erklären lassen. Die herbe Kritik, die das Eigenlogik-Konzept innerhalb der deutschsprachigen Sozialwissenschaften einstecken musste, hat auch damit zu tun, dass hier ein kulturanalytisches Konzept in die Stadtsoziologie importiert und dort als alternatives soziologisches Theoriegebäude positioniert wurde. Mit ihrem implizit formulierten Anspruch, eine neue Stadtsoziologie zu begründen beziehungsweise einen grundlegenden Paradigmenwechsel einzuleiten, hat Martina Löw den Einspruch der Fachkolleginnen und Fachkollegen geradezu provoziert. Die Möglichkeiten des idiografischen Ansatzes liegen indessen nicht auf dem Gebiet der sozialstrukturellen oder mikrosoziologischen Analyse, sondern im Zugriff auf die kulturelle Gestalt der Stadt, die stilistische Einheit urbaner Repräsentationen und die feldübergreifenden Effekte zwischen unterschiedlichen Phänomenen in einer Stadt, die eine gemeinsame Prägung verraten.
So hat etwa Rolf Lindner den Versuch einer historischen Stadtanthropologie Berlins unternommen und dabei die Besonderheiten der "Berliner Moderne" herausgearbeitet.
Die Studie hat etwas von der suggestiven Stringenz, die schon Schefflers Berlin-Buch auszeichnet. Und doch: Dinge, die zuvor als simple Klischees erschienen, erweisen sich so als ein komplexes Ineinander lokalspezifischer Bilder, Repräsentationen und Praktiken, das sich der Analyse öffnet. Diese ist freilich nicht im Sinne einer empirischen Rekonstruktion eines Stadtganzen zu verstehen, sondern eher als gestalttheoretisch fundiertes Nachzeichnen dominanter und wirkmächtiger Entwicklungen und Stadterzählungen. Hier liegt die Crux der gesamten eigenlogischen Stadtforschung: Man muss ihr zunächst einmal verzeihen, dass sie gängige Bilder reproduziert, weil es ihr gerade darum geht, die kumulative Verfestigung von Stadtwahrnehmungen zur städtischen Eigenart nachzuvollziehen. Ohne eine Portion von heuristischem Essenzialismus kommt man an dieses Phänomen nicht heran.
Von Bedeutung ist auch, dass es sich bei den Überlegungen zum Stadthabitus um ein Konzept handelt, das eine historische Perspektive verlangt. Auch hier kommt es zu Verständigungsschwierigkeiten mit Fraktionen der etablierten Stadt- und Regionalsoziologie, die eine gewisse Distanz zu historisch-genealogischen Zugängen halten. Wer sich für die Idiografie der Städte interessiert, hat es unweigerlich mit der Kopräsenz des Vergangenen im Gegenwärtigen zu tun, wie sie Sigmund Freud einmal am Beispiel Roms hervorgehoben hat. In seinem "Unbehagen in der Kultur" formuliert er 1930 die "phantastische Annahme, Rom sei nicht eine menschliche Wohnstätte, sondern ein psychisches Wesen von ähnlich langer und reichhaltiger Vergangenheit, in dem also nichts, was einmal zustande gekommen war, untergegangen ist, in dem neben der letzten Entwicklungsphase auch alle früheren noch fortbestehen".
Solche literarischen Hinweise zur Hermeneutik der Städte klingen überzeugend – und dennoch ergeben sich hier noch einmal methodologische Einwände: Wie kann man der Gefahr entgehen, dass Stadtforschung zur impressionistischen Indizien- und Anekdotensammlung verkommt? An diesem Punkt ist die idiografische Forschung weiterzudenken. So muss die Eigenart der Städte immer auch als Schauplatz von Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Deutungsinstanzen verstanden werden: Wer bezieht sich in welcher Weise auf die Stadt? Welche Einsätze und Strategien sind dabei im Spiel? Wer hat die Diskurshoheit, um bestimmte Stadtbilder zu etablieren? Und wo werden herrschende Stadtbilder konterkariert oder gebrochen? Anstatt – wie es zuweilen geschieht – beliebige Untersuchungsausschnitte als Indizien für "die" Eigenlogik einer Stadt zu lesen, ohne die Auswahl dieser Ausschnitte genauer zu begründen, wären die Funktionsweisen eigenlogischer Strukturen und Argumentationen innerhalb gesellschaftlicher Teilfelder – etwa in Kunst, Sport, Kulinarik oder Städtebau – zu verfolgen und als Praktiken des placemaking sichtbar zu machen.
Der Begriff der "Eigenlogik" klingt dabei viel zu zwingend. Eine logische, folgerichtige Entwicklungsdiagnose einer Stadt aus ihren immanenten Gesetzen heraus ist letztlich – Scheffler zum Trotz – nur schwer vorstellbar. Was sich aber zu entdecken lohnt, ist eine Art von "kultureller Tiefengrammatik" der Städte, an der viele Akteurinnen und Akteure mitschreiben und die – weitab von allem Determinismus – verständlicher macht, warum Rio de Janeiro nicht São Paulo ist, Neapel nicht Mailand und Heidelberg nicht Mannheim, und wie es kommt, dass wir mit all diesen Städten ganz bestimmte Vorstellungen verbinden.
Normative Urbanität?
Ein weiteres – noch ungelöstes – Problem hat mit blinden Flecken der Forschung zu tun. Das normative Modell von Urbanität, das der hiesigen kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Städten vielfach noch zugrunde liegt, ist die klassische europäische oder europäisch geprägte Metropole mit reicher kultureller Tradition. Dass es einen "Mythos von Paris"
Auch im Hinblick darauf wäre eine Forschungsstrategie sinnvoll, die nicht nur die kulturelle Gesamtgestalt der Stadt im Blick hat, sondern auf die Ebenen der Aushandlung von Ort und Lokalität zielt. Vermutlich sind die begrifflichen Instrumente von Habitus und Eigenlogik hier zu grobmaschig, da sie auf langfristige ökonomische Prozesse der Stadtentwicklung und urbane Imageproduktionen zielen, wie sie in Großstädten der westlichen Welt vorzufinden sind. Ortsspezifische Prägungen sowie lokalistische Diskurse und Praktiken wären aber auch in Klein- und Mittelstädten sowie in den außereuropäischen Mega-Cities zu untersuchen – nicht nur, aber auch mit idiografischen Methoden. Die theoretische und methodologische Debatte über diesen neueren Zweig der Stadt- und Städteforschung ist sicherlich noch nicht beendet.