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Vom Charme neuer deutscher Gelassenheit Die Vereinigung Deutschlands - Glücksfall oder Danaergeschenk der Geschichte?

Johannes L. Kuppe

/ 9 Minuten zu lesen

Elf Jahre nach der Vereinigung beider deutscher Staaten zu einem wieder einheitlichen Nationalstaat gibt eine Zwischenbilanz Anlass zu Optimismus. Deutschland ist ein Stück "normaler" geworden.

Einleitung

Diese Frage werden einige Zeitgenossen als Zumutung empfinden. Ist nicht sonst immer von einer einmaligen "historischen Chance", von einer "Glückswende", vom "wehenden Mantelzipfel der deutschen Geschichte", den wir erwischen durften, die Rede? Inzwischen gibt es allerdings auch jene, die die Mauer wieder aufrichten wollen, weil die Ruhe ihres Mauergrundstücks dem Krach einer Durchgangsstraße gewichen ist. Und es gibt jene, die sich als Opfer der Vereinigung betrachten, weil durch ihre einst unfreie, aber sozial abgesicherte Nische jetzt die Kommerzstürme der Europäisierung und Globalisierung toben. An die Stelle der unterdrückenden, aber auch umfassend sorgenden Hand des DDR-Staates ist eine Ordnung getreten, die die Gestaltung sehr vieler Lebensbereiche weit gehend der privaten Verantwortung überlässt. Viele, allzu viele in den neuen Ländern sind bei dem schwierigen Prozess der Anpassung und Umgewöhnung allein gelassen worden. Sie praktizieren jetzt, bei Landtags- und Kommunalwahlen, eine Art Zuschauerdemokratie mit Wahlbeteiligungen um 50 Prozent. Und nicht zu vergessen jene, denen die Vereinigung längst zu teuer kommt. Wo also bleibt die Freude über eine Entwicklung, die zu einer Revitalisierung des deutschen Nationalstaates geführt hat, einer offenbar unschätzbar positiven und unverzichtbaren Organisationsform unseres Volkes? Sind wir Deutschen vielleicht zur patriotischen Begeisterung zum richtigen Zeitpunkt und aus gutem Anlass unfähig?

Markus Meckel, 1990 Außenminister der freien DDR, hat gerade verwundert festgestellt, wie gedankenlos wir im vergangenen Jahr unsere Gedenkfeiern zum 10. Jahrestag der Vereinigung begangen haben. Den Sturm auf die Bastille vor 210 Jahren verstehen die Franzosen würdiger zu feiern als wir unseren neuen Nationalfeiertag.

Ein Danaergeschenk ist eine Unglück bringende Gabe - wie jenes hölzerne Pferd voller griechischer Eroberer, das die Trojaner als Weihegeschenk annahmen und das ihre Niederlage herbeiführte. Hat also die Vereinigung uns Deutsche glücklicher oder unglücklicher gemacht?

Da wir von sehr lebendigen, demokratischen Nationalstaaten umgeben sind, die alle über ihre nationale Existenz nicht gerade unglücklich sind, wird man wohl prima vista auch für die Deutschen einen Glückszuwachs durch die Vereinigung annehmen dürfen. Eine unsinnige Frage also? Doch sie behält ein klein wenig Berechtigung, wenn man sie etwas anders stellt: Sind wir dabei oder wenigstens auf dem Wege dahin, die Folgen der Vereinigung gemeinsam zu bewältigen, und zwar gemeinsamer, als wir die Folgen der Spaltung 40 Jahre tragen mussten? Da hatten die Ostdeutschen eine größere Last zu tragen. Werden wir uns also der Vereinigung würdig erweisen?

Eine einfache Prognose gibt es nicht. In Abhängigkeit vom politischen Standort, vom optimistischen oder pessimistischen Blick auf die Situation, ist das Glas halb voll oder halb leer. Wenn denn die wieder erlangte staatliche Einheit Deutschlands ein so hoher Wert ist, müssten wir benennen können, was mit ihr zum Wohle der Menschen besser läuft als ohne sie.

Bevor ich eine Zwischenbilanz versuche, will ich eine Bemerkung vorausschicken: Wer die eingangs gestellten zwei Fragen mit dem Hinweis abtun möchte, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch das Recht auf Bildung einer Staatsnation umfasst und selbstverständlich auch die Deutschen als Kulturnation dieses axiomatische Recht für ihr Zusammenleben in Anspruch nehmen können, der springt zu kurz. Erstens gibt es noch Völker, denen dieses Recht dauerhaft verweigert wird, wie etwa die Kurden. Bis zur Bürgerrevolution in der DDR hatten sich alle bestimmenden politischen Kräfte, jedenfalls in der westlichen Republik, damit abgefunden, dass die Errichtung eines einheitlichen deutschen Nationalstaates nicht mehr Aufgabe operativer Politik sei.

Zweitens gehört zu diesem 1990 begonnenen zweiten deutschen "nation-building"-Prozess die Bereitschaft, gemeinsame Verantwortung für die deutsche Geschichte zu übernehmen. Aber sind schon alle Deutschen in Ost und West willens, z. B. alle Repräsentanten deutscher Politik, von Adolf Hitler über Walter Ulbricht und Konrad Adenauer bis Helmut Kohl und Gerhard Schröder als Teilhaber und Gestalter einer gemeinsamen, wenn auch zuletzt geteilten deutschen Nationalgeschichte zu akzeptieren? Wird die starke Verflechtung, das besondere "Aufeinanderbezogensein" der beiden deutschen Teilgesellschaften bis zum Abtritt der SED überhaupt gesehen und als Erklärungsinstrument für die historischen Prozesse in den Zeiten der Trennung eingesetzt?

Bei meinem Versuch, Bilanz zu ziehen, möchte ich zuerst die Aktivposten nennen: Ohne Zweifel ist die staatsrechtliche Vereinigung gelungen, wenn auch nur in der Form des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland (Art. 23 GG). Die freigewählten Vertreter der Ostdeutschen wollten das mehrheitlich so, und die freigewählten Vertreter der Westdeutschen wollten ebenfalls mehrheitlich nicht den schwierigen Weg über Artikel 146 GG gehen. Dies hätte die Ausarbeitung einer neuen, freilich am bewährten Grundgesetz orientierten Verfassung unter Beteiligung aller Deutschen erfordert. Trotzdem: Der Rechtsstaat ist jetzt in ganz Deutschland erfolgreich etabliert. Er hat Verantwortliche der SED-Diktatur mit Milde zur Rechenschaft gezogen. Doch das war besser, als eine neue Form von Siegerjustiz zu praktizieren. (Die besonders hart betroffenen Opfer sehen das freilich anders.)

Gescheitert ist damit allerdings eine Grundgesetzreform, die den nationalgeschichtlichen Neubeginn hätte spiegeln und vor allem den Ostdeutschen das Gefühl hätte geben können, die alte Bundesrepublik nicht nur territorial vergrößert zu haben. Gescheitert ist auch - schon bei der Wiedererrichtung der Länder in Ostdeutschland - eine Länderreform, welche die wirtschaftliche Substanz aller Länder im mittleren und nördlichen Gürtel hätte verbessern und die heutigen Probleme des Finanzausgleichs minimieren können. Aber auch dafür hat sich jüngst wieder ein Kompromiss finden lassen, mit dem alle leben können.

Und das weist schon auf die vielleicht überraschendste Folge der Vereinigung hin: Trotz aller schweren Umbrüche im Osten, der Skandale im Westen und trotz deutscher Neigung zum Zukunftspessimismus - Deutschland hat ein Stück Gleichgewicht gewonnen und zeigt demokratisches Selbstbewusstsein, gelegentlich sogar die Fähigkeit zur Selbstironie. Eine verbrauchte CDU wurde nach einem glatten Machtwechsel 1998 in die Regeneration geschickt, aber keineswegs wirklich hart bestraft. Ein paar Prozent Verlust bei Landtagswahlen mitten im größten Skandal der Republik - der Parteispendenaffäre -, das signalisiert Wut mit Augenmaß. Da mag mancher in dieses Desaster verstrickte westdeutsche Politiker den Ostdeutschen als eine Art Klon der untergegangenen Funktionärskaste der DDR erscheinen, zur gesamtdeutschen Wirklichkeit zwischen Elbe und Oder zählen sie jetzt auch.

Es ist ja noch viel mehr passiert, was dem Land hätte Unruhe bringen können: Führungswechsel in fast allen Parteien, nach 50 Jahren Frieden der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr (auf dem Balkan), nach dem nationalen Pathos der Vereinigungfeiern die europäische Bereitschaft zur Osterweiterung, der Durchbruch vom industriellen ins digitale Zeitalter, nach Ölschock und Ökologiedebatte nun die Bioethik- und Biotechnologiediskussion, nach der Einwanderungsland-Nein-Debatte die Zuwanderungsland-Ja-Entscheidung (für heißbegehrte Gutausgebildete). Hätte alles das nicht Zündstoff für typisch deutsche Gesinnungskämpfe liefern können? Stattdessen immer weniger Entweder-oder-Fragen und mehr Hinwendung zu Sowohl-als-auch-, zu Mehr-oder-weniger-Disputen - wie bei unseren Nachbarn auch. Die sinnlose Debatte um die so genannte Leitkultur war wohl doch nur ein Rückzugsgefecht jener ideologischen Abendlandsverteidiger, die auch in ausgewiesenen flachen Seegebieten noch Untiefen fürchten.

In Deutschland ist nach der Vereinigung überraschenderweise die Fähigkeit zum Kompromiss, die Abkehr vom einstmals geliebten Trennend-Grundsätzlichen festzustellen. Als im vergangenen Jahr in Berlin zwei Stadtbezirke - Kreuzberg und Friedrichshain - im Zuge der Verwaltungsreform zusammengelegt wurden, gab es zunächst heftigen Streit um den Amtssitz des Bezirksbürgermeisters. Eine rationale Einigung auf jenen Platz, an dem bereits ein schönes Rathaus steht, in Kreuzberg, war nicht in Sicht. Schließlich wurde - mitten in Preußen - durch Münzwurf über den Standort des Amtssitzes entschieden: Zahl oder Adler! Der Verlierer - Kreuzberg - fügte sich grollend. Deutschland lernt also pragmatisches Handeln, ohne jedesmal gleich die Hamlet-Frage zu stellen.

Zu den Aktivposten der letzten zehn Jahre gehört auch, dass das vereinigte Deutschland keine Rückkehr zu Nationalismus und Großmannssucht erlebt hat. Gegenüber der Großmacht USA ist Deutschland in einigen globalen Kernfragen auf freundschaftlich-kritische Distanz gegangen, jedenfalls seit 1998. Und die Europa-Debatte wird heute in Deutschland genauso geführt wie in den meisten unserer neun direkten Nachbarstaaten. Vorbei sind die Zeiten, in denen wir europäische Musterschüler mit einer europäischen Ersatzidentität sein wollten, die Begriffe wie Volk und Nation nur naserümpfend benutzten. Wir mussten - leider - wieder lernen, dass es eine nationalstaatliche Renaissance gibt, der wir uns nicht entziehen können, wenn wir unsere Interessen vertreten wollen. Ich finde es bemerkenswert: Deutschland ist ein ganzes Stück "normaler" geworden.

In dieser insgesamt positiven Bilanz stecken allerdings noch einige größere Probleme: Da ist zum einen ein neu aufbrechender Rechtsradikalismus, der in Ost und West unterschiedliche Wurzeln hat, aber überall ein gleichermaßen bestürzendes Erscheinungsbild aufweist. Die Deutschen werden gemeinsam lernen müssen, den Müll der Gegenwart nicht in die - jeweils unterschiedliche - Vergangenheit beider deutscher Staaten zu entsorgen. Es nützt wenig, für Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen die Schuld bei Margot Honecker zu suchen und für Lübeck und Düsseldorf den Kapitalismus verantwortlich zu machen. Dies behindert die Entwicklung einer Strategie für die Gegenwart ebenso wie der Spruch von der angeblich erforderlichen Äquidistanz zu rechten wie linken Extremismen. Rechte Glatzen, nicht linke Punks oder Autonome, schlagen Ausländer tot und bedrohen uns mit Sprengstoffanschlägen.

Hier bin ich an einem Punkt, der ein ungelöstes Problem der (Wieder-)Vereinigung der Nation markiert: Auch der alte, offene west- und der heimliche ostdeutsche Rechtsradikalismus haben sich vereint. Leider nicht der Antifaschismus, denn einstmals war sich ja eine Mehrheit aller Deutschen - auch in der SBZ/DDR - in ihrer Ablehnung des Nationalsozialismus und seiner Folgen einig. Diese Aussage bleibt auch dann richtig, wenn man die Einschränkung gelten lassen muss, dass die Einsichten über die Ursächlichkeit der Nazi-Verbrechen für die aktuelle Nachkriegslage und die deutsche Spaltung nirgendwo sehr tief reichten. Der Antifaschismus in der DDR war, wie ein populäres, aber falsches Urteil suggerieren will, nicht nur staatsverordnet und dann am Ende schließlich zum Diktaturalibi verkommen. Ließen sich nicht durch eine Revitalisierung seiner originären, humanen Wurzeln manche Bundesgenossen im Kampf gegen den rechten Extremismus mobilisieren? Die demokratische Mehrheit dieser Nation muss jetzt - und zwar ohne jedes West-Ost-Gefälle - zu erkennen geben, wie sie sich dieses Krebsgeschwüres erwehren will - um ihres inneren Friedens und äußeren Rufes willen. Es genügt einfach nicht mehr, den 3. Oktober 1990 in rückwärts gewandter Gefühlsschau zu zelebrieren, bei der man sich antikommunistisch gebärden, zum wiederholten Mal mit der PDS abrechnen und alte Vorwürfe an die sozialdemokratische Adresse ("Die haben die Einheit gar nicht gewollt") erneuern kann. Es genügt auch nicht, irgendetwas zur Chefsache zu erklären und darunter vor allem den ökonomischen Aufschwung zu verstehen. Dieser 3. Oktober markiert vielmehr einen Stichtag, von dem an eine neue Verpflichtung wirkt, eine humane Zukunft aller in Deutschland lebenden Menschen zu ermöglichen. Da reichen auch Verbotsanträge bei Gerichten, wie der Jüngste gegen die NPD beim Bundesverfassungsgericht, so hilfreich sie sein mögen, nicht mehr aus. Wenn schon Nation, dann müssen ihre Mitglieder hier und heute handeln - durch Nachweis von Zivilcourage, durch Widerstand gegen geistige Verwirrung an den Stammtischen, durch eingreifendes Handeln, wo immer sich Intoleranz und Inhumanität zeigen. Mit Massendemonstrationen sind die SED-Kommunisten weggefegt worden. Wo waren diese Willensbekundungen, als Antonio Amadeu (1990) und Alberto Adriano (2000) totgeschlagen wurden? Es gab leider keinen gesamtnationalen Aufschrei.

Ein Letztes: Wir brauchen kein neues, einheitliches (natürlich demokratisches) Geschichtsbild aller Deutschen. Was wir brauchen, sind viele plurale Geschichtsbilder, die allerdings in ihren Grundaxiomen und -werten übereinstimmen sollten. Unerträglich und für Deutschlands Zukunft gefährlich bleibt, wenn sich - wie gegenwärtig noch immer - viele Ostdeutsche mit dem "heutigen System nicht oder noch nicht identifizieren können", wenn Freiheit und Gleichheit weiterhin in Ost und West einen so unterschiedlichen Stellenwert besitzen, wenn die Westdeutschen wie gewohnt mit dem Konflikt leben, die Ostdeutschen dabei aber an verabscheuungswürdiges Parteiengezänk denken, wenn die Partizipationschancen des Parlamentarismus sehr unterschiedlich gesehen und - was noch gravierender ist - unterschiedlich genutzt werden.

Hinzu kommen weitere Probleme wie etwa die schwierige wirtschaftliche Lage und die besonders hohe Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland, die zu Perspektivlosigkeit und damit (wieder) zu einer Flucht in die innere Emigration führen. Auch gibt es trotz vielfältiger und anerkennungswürdiger Bemühungen für viele Opfer der SED-Diktatur noch immer keine befriedigende Entschädigung (und es wird sie wohl auch nicht mehr geben). Mit der Vereinigung ist die Frauenerwerbsquote in den ostdeutschen Ländern um mehr als die Hälfte gesunken, ohne dass dies dem zu DDR-Zeiten großen Familienzusammenhalt zugute gekommen wäre. Wir haben mit der Vereinigung ein beträchtliches Forschungspotenzial in der DDR zerschlagen und müssen jetzt in Indien und Osteuropa um Fachkräfte werben.

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse sieht Ostdeutschland elf Jahre nach der Vereinigung noch "auf der Kippe". Das haben die "Aufbau-Ost-Pragmatiker" als Fehldiagnose zurückgewiesen. Thierses Worte waren jedoch als Mahnung an die ganze Nation gedacht, für eine noch fehlende, nachhaltige Stabilität auch zwischen Elbe und Oder zu sorgen. Das haben wir noch nicht geschafft. Die Vereinigung ist eben noch nicht ganz bewältigt.

Dr. rer. pol., geb. 1935; bis Dezember 2000 leitender Redakteur der Wochenzeitung "Das Parlament".

Anschrift: Am Himberger See 12 D, 53604 Bad Honnef.
E-Mail: Jkuppe@gmx.de

Veröffentlichungen u. a.: zahlreiche Beiträge in Sammelwerken, Handbüchern und Fachzeitschriften; zuletzt: Zur Parteienlandschaft im vereinigten Deutschland, in: Wolfgang Thierse u. a. (Hrsg.), Zehn Jahre deutsche Einheit, Opladen 2000.