I. Der Anlass: Die Landtagswahl 1998
Im April 1998 wurde in Sachsen-Anhalt ein neuer Landtag gewählt. Das Ergebnis der Wahl schockierte in einem Punkt nicht nur im Land, sondern bundesweit: Die Deutsche Volksunion (DVU) erhielt fast 13 Prozent der Wählerstimmen, zu denen die jüngeren und mittleren Altersgruppen stärker beitrugen als die Gruppe der Älteren (60 Jahre und älter). Die DVU erreichte in der jüngsten männlichen Wählergruppe (18 bis 24 Jahre) mit 32 Prozent der Stimmen fast ein Drittel der Wähler.
Das Ergebnis der Landtagswahl war für das Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt ein wichtiger Grund, 1999 eine Studie in Auftrag zu geben, die im Schnittpunkt von Jugend- und Schulforschung sowie sozialwissenschaftlicher Umfrageforschung den politischen Orientierungen der Schüler und Schülerinnen nachgehen und auch Empfehlungen für die politische Bildung erarbeiten soll.
Im Sommer 2000 wurden ca. 1 400 Schüler und Schülerinnen der Klassen 8, 9 und 11 (bzw. 1. Lehrjahr) an 16 Schulen des Landes befragt, die für die Schülerschaft des Landes stehen können.
Empirische Ergebnisse können nie für sich stehen - ihre Interpretation bedarf der Bezüge und im Falle unseres Gegenstandes eines Grundverständnisses von politischer Bildung.
II. Demokratie-Lernen als Erwerb von Konfliktkompetenz
Zwei gegensätzliche Strukturen für die Koordination menschlichen Zusammenlebens kommen in politischen Entscheidungen in einem demokratischen System zusammen: Gleichheit und Ungleichheit. Während Ungleichheit in einer pluralistischen und individualisierten Gesellschaft durch individuelle Lebensgestaltungen hervorgerufen wird, sind sich die Staatsbürger in ihrem Staatsbürgerstatus und in ihren Chancen auf Teilhabe prinzipiell gleich (dies konkretisiert sich etwa im gleichen Wahlrecht). Diese politische Gleichheit ist in ein Verhältnis zur gesellschaftlichen Ungleichheit zu setzen, was oft in vielfältige Kontroversen um die Regelung gemeinsamer Angelegenheiten mündet. Die Spannung kommt häufig darin zum Ausdruck, dass Gleichheit auch für das gesellschaftliche Leben gefordert wird - oder aber Individualität bzw. Vielfalt und Differenz. Die Positionen stehen zueinander im Konflikt, was sich aus unterschiedlichen materiellen Interessen, Lebensgeschichten, Loyalitäten und Werten (die sich auf der konkreten Ebene stark unterscheiden) ergibt.
Demokratie-Lernen kann als Erwerb von Konfliktfähigkeit zusammengefasst werden und meint:
- Zivilen Umgang mit Kontroversen;
- Erkenntnis, Beurteilung und Handhabung unterschiedlicher Koordinationsmodi für menschliches Handeln (sozial, ökonomisch, politisch);
- Vermittlung des Eigeninteresses mit den Interessen anderer Nah- oder Fernstehender;
- Reflexion und Entscheidung von Werten (für die individuelle Lebensführung, für politische Regelungen).
Diese so verstandene Konfliktkompetenz, die kognitive sowie emotionale und pragmatische Fähigkeiten enthält, kann einen Bezugspunkt für das Verständnis empirischer Daten abgeben, so dass die Daten nicht etwa zur Schelte irgendeiner Gruppe dienen, sondern Hinweise auf den Prozess des Demokratie-Lernens und seine Mühsal geben.
Vier Punkte werden im Folgenden nacheinander betrachtet, auch wenn sie sich inhaltlich verschränken: Geschlecht und Politik, Prosozialität und Politik, Vertrauen in Institutionen und Politik, Partizipation und Politik.
III. Geschlecht und Politik: Das Private ist nicht politisch
Als plausibler und oft verwendeter Indikator für die Verbindung des Subjekts mit dem politischen System kann das abgefragte politische Interesse gelten. Frageformulierungen und Antwortvorgaben sind in den Untersuchungen leicht unterschiedlich, für genaue Vergleiche muss also die Originalliteratur gesichtet werden.
Verblüffend groß ist der Unterschied im politischen Interesse nach dem Geschlecht - männliche Jugendliche erklären sich selbst fast dreimal so häufig für politisch interessiert wie weibliche Jugendliche! Verblüffend gering ist - jedenfalls gemessen an der Idee von gleicher Teilhabe an Demokratie durch alle Staatsbürger und Staatsbürgerinnen - das politische Interesse insgesamt, das wir nur bei 12 Prozent der Befragten finden.
Das geringere politische Interesse bei Frauen kann nicht mehr - wie das vor Jahrzehnten nahe gelegen hätte - durch ein geringeres Bildungsniveau erklärt werden, denn die Mädchen haben hier gleichgezogen bzw. haben die Jungen überholt (in Sachsen-Anhalt besuchen bemerkenswert mehr Mädchen als Jungen das Gymnasium). Auch eine "naturalistische" Erklärung, die auf das Geschlecht als biologische Tatsache abstellt, vermag die soziale Tatsache nicht zu erklären. Plausibler ist die Erklärung der sozialen Tatsache durch eine soziale Struktur, nämlich die vorhandene gesellschaftliche Arbeits- und Rollenteilung zwischen den Geschlechtern. Dann würde die Frage nach dem politischen Interesse bei Frauen wegen der Assoziation mit staatlichen Institutionen und Prozessen des Machterwerbs und der Machtausübung eher zu Distanz führen - auch wenn Frauen sich bekanntermaßen sehr stark in sozialen Bewegungen engagieren. Der dabei zutreffende Politikbegriff ist eher ein weiter Begriff, der lebensweltliche Formen und Inhalte betont.
Diese Erklärung des Geschlechtsunterschieds hinsichtlich des politischen Interesses ändert nichts an der Tatsache, dass die weiblichen Befragten sich viel weniger in der Politik "befinden" (inter-esse) als die männlichen. Der weite Politikbegriff mit dem Slogan "Das Private ist politisch" verfehlt dann die Strukturen politischer Entscheidungen, die im öffentlichen Raum der Auseinandersetzungen und durch komplizierte Verfahren der Willensbildung zustande kommen,
Die große Bedeutung der Dimension "Geschlecht" ergab sich in unserer Untersuchung auch, als wir dem relativ hohen politischen Interesse, wie es sich in den Daten der Berufsschulen zeigte, nachgingen. Eine Erklärung ist mit dem Faktor "Alter" gegeben, denn in die Daten von Sekundarschulen und Gymnasien gehen nur bzw. auch die Antworten aus 8. und 9. Klassen ein, während in den beiden Berufsschulen sowohl Klassen im 1. Lehrjahr als auch die 11. Klasse eines Fachgymnasiums befragt wurden. Die hohe Heterogenität des berufsbildenden Schulwesens bedeutet, dass in ein und derselben Schulform unterschiedliche Bildungsniveaus (gemessen durch den angestrebten Abschluss) vertreten sind, wobei der Faktor "Bildung" sich als bedeutsam für das politische Interesse erweist. Auffallender war, dass das politische Interesse in den 16 Klassen zwischen 0 Prozent und 35 Prozent streute (die beiden Extremklassen sind Klassen an derselben Schule).
Die Klasse 173 (nach unserem Untersuchungsschema) mit 35 Prozent politisch interessierten Schülern - die also weit über dem Gesamtwert von ca. 12 Prozent politisch Interessierten liegt - sticht durch folgende Besonderheiten hervor:
- Auf die Sonntagsfragen
- Etwa ein Drittel der 22 Schüler stuft sich selbst als politisch "rechts" ein.
- Die "Ausländerfeindlichkeit"
- Die "Gewaltaffinität"
- Die "Werte-Landschaft" ist einerseits der Gesamtgruppe sehr ähnlich (Verantwortung für andere, anderen Menschen helfen, Rücksicht auf andere nehmen, im Umgang mit anderen fair sein), aber "gerecht sein" und "soziale Unterschiede abbauen" wird deutlich weniger befürwortet - hier scheint Ungleichheit hochgeschätzt zu werden.
- Die Klasse 173 wird nur von Jungen besucht.
Die Klasse 173 - politisch hoch interessiert im Vergleich zur Gesamtgruppe; zu einem Drittel rechts in ihrer Selbsteinstufung; zu einem reichlichen Drittel potentielle Wähler rechter Parteien; ausländerfeindlicher als die Gesamtgruppe; gewaltaffiner, prosozial und zugleich Ungleichheit betonend und rein männlich - macht darauf aufmerksam, dass es anscheinend einen Zugang zu Politik gibt, der nicht in der Ausfaltung individueller Kompetenzen zum Demokratie-Lernen besteht. Die Einsicht in und die Loyalität für die normativen Grundlagen der Demokratie (gleiche Achtung und Selbstachtung aller
Die "Beobachtung" dieser einen Klasse warf die Frage auf, wie das politische Interesse mit den politischen Orientierungen zusammenhängt. Stimmt noch die Unterstellung, die sich auf Erfahrungen der sechziger Jahre in der "alten" Bundesrepublik stützt, dass politisches Interesse eher mit der Selbstzuordnung als "links" einhergeht? (vgl. Schaubild 2).
Die Aussage der Zahlen ist eindeutig: Zum einen gibt es insgesamt mehr Befragte, die sich der Kategorie "rechts" zuordnen
Die Gruppe derer, die sich als rechtsorientiert bezeichnen, ist im Vergleich zur Gesamtheit der Befragten von großer politischer Klarheit und Entschiedenheit! Auf die "Sonntagsfragen" zu Bundestags- und Landtagswahlen geben sie zu fast 60 Prozent an, eine der drei rechten Parteien zu wählen.
In der Zusammenschau auf die Daten zu Geschlecht und politischem Interesse ergibt sich die Vermutung, dass viele weibliche Befragte womöglich das Feld der Politik anderen überlassen, schon weil sie sich nicht für Politik interessieren. Natürlich sind es nicht nur weibliche Befragte, die sich vermutlich distanzieren, aber in dieser sozialen Gruppe ist mit der Betonung von Privatheit und Prosozialität ein Faktor besonders spürbar, der mit zur Distanz von Politik beiträgt oder ein Element dieser Distanz ist.
IV. Prosozialität und Politik: Prosoziale Werte und/oder Konfliktkompetenz?
In der Diskussion um politische Bildung ist es eine wichtige Frage, wie sich prosoziale Werte entwickeln und wie sie zur Konfliktkompetenz stehen. Eine Vermutung könnte sein, dass prosoziale Werte mehr oder weniger automatisch in politische Kompetenz übergehen. Aber bereits traditionelle und auch neuere theoretische Differenzierungen sprechen dagegen: Ferdinand Tönnies' Unterscheidung in "Gemeinschaft" und "Gesellschaft"
Die Sachsen-Anhalt-Studie liefert Daten, die den Zusammenhang ein wenig erhellen können, weil Aussagen sowohl zur Prosozialität möglich sind als auch zum Verständnis von Konflikten in der Demokratie. "Prosozialität" ist hier ein Index aus sechs Einzelangaben, die sich in der Faktorenanalyse als zusammengehörig gezeigt hatten. Zu einer großen Anzahl von Verhaltensweisen war gefragt worden: "Bitte geben Sie zu jeder Verhaltensweise auf der folgenden Liste an, wie wichtig es für Sie persönlich ist, so zu sein oder sich so zu verhalten" (überhaupt nicht wichtig = 1, nicht so wichtig, schwer zu sagen, wichtig, sehr wichtig = 5). Die sechs Aussagen, die den Index Prosozialität bilden, sind: Anderen Menschen helfen - Rücksicht auf andere nehmen - Im Streitfall einen Ausgleich suchen - Im Umgang mit anderen fair sein - Alle Menschen gleichberechtigt behandeln - Gerecht sein - Soziale Unterschiede zwischen Menschen abbauen.
Insgesamt zeigt sich bei unseren Befragten ein hohes Maß an beabsichtigter Prosozialität, denn die Verhaltensweisen werden für "wichtig" gehalten - bei sehr geringer Streuung der Werte, was auf eine große Homogenität hinweist. Offensichtlich sind die Jugendlichen sich weitgehend darin einig, dass ihnen diese prosozialen Verhaltensweisen viel bedeuten!
Der Umgang mit gesellschaftlichen und politischen Konflikten scheint aber ein qualitativ anderes Thema zu sein. Die Stellungnahmen zu Auseinandersetzungen zwischen Interessengruppen und ihren Forderungen an die Regierung, zur Aufgabe der politischen Opposition und zur Beziehung zwischen Interessen des ganzen Volkes und denen Einzelner zeigen, dass Konflikte offensichtlich eher (ver)stören (s. Schaubild 3).
Zwischen der Hälfte und drei Vierteln der Befragten bewerten Auseinandersetzungen, Kritik und Einzelinteressen negativ! Demokratische Systeme sind aber gekennzeichnet durch die Legitimität von Interessenkonflikten, durch ihren geregelten Austrag und - deshalb - durch die Konkurrenz von Parteien und Interessengruppen. Auch gilt das so genannte Allgemeinwohl nicht als fixe Größe, die mit gutem Willen auffindbar wäre, sondern es ist eine Art Chiffre sowohl für die regulative Idee der gemeinsamen Regelung gemeinsamer Angelegenheiten unter gleicher Achtung aller Beteiligten als auch für seine empirische Feststellung als Ergebnis konfliktreicher Prozesse.
Zeigt sich hier schon, dass eine Gleichsetzung von Prosozialität und Konfliktbewusstsein nicht gegeben sein kann, wird dieser Nicht-Zusammenhang noch klarer, wenn man die Größe der Prosozialität mit den drei Äußerungen in eine direkte Beziehung setzt. Der Aussage "Aufgabe der politischen Opposition ist es nicht, die Regierung zu kritisieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen", stimmen 70 Prozent der Befragten zu. Dabei zeigt die Gruppe derer, die diese konflikt"bereini-gende" Aussage ablehnen, sogar einen geringeren Wert der Prosozialität als diejenigen, die dieser Aussage zustimmen. (s. Schaubild 4).
Bestätigt wird dieser eher negative Zusammenhang von Prosozialität und Konfliktbewusstsein dadurch, dass bei den beiden anderen Aussagen der Zusammenhang so gut wie identisch ist.
Für politische Bildung als Demokratie-Lernen mit einem Schwerpunkt bei Konfliktkompetenz wäre es wichtig zu wissen, wie diese Konzepte sich in der Lerngeschichte von Individuen entwickeln und wie sie dabei zueinander stehen. Unter Heranziehung weiterer Informationen aus der Sachsen-Anhalt-Studie können wir eine immer noch recht spekulative Vermutung äußern. Für die Gruppe der weiblichen Befragten und für die Subgruppe der sich als "rechts" einstufenden Befragten ergeben sich Unterschiede vom Mittelwert für die Gesamtgruppe (der bei 4,0 liegt): Die weiblichen Befragten liegen signifikant höher mit ihrem Mittelwert der Prosozialität, nämlich bei 4,2; die sich selbst als "rechts" einstufenden Befragten liegen signifikant niedriger mit ihrem Mittelwert, nämlich bei 3,7. Die politisch lediglich "etwas" Interessierten weisen einen höheren Mittelwert auf (4,1) als die "sehr" Interessierten und auch als die "gar nicht" Interessierten (3,8).
Vielleicht ist die Entwicklung der sozialen bzw. politischen Kompetenz, wie sie durch Prosozialität (als subjektiv bewertete Verhaltensweisen) und Konfliktbewusstsein (als Aussagen zu Konflikten in Gesellschaft und Politik) erfasst wird, ein ganz bestimmter Aufbau dieser Konzepte: Die Ausfaltung von Prosozialität ist notwendig als Basis, die durch gesellschaftlich-politische Erfahrungen ab einem bestimmten Niveau beunruhigt oder gestört wird, wenn ein Konzept von Konflikt mit normativer und empirischer Relevanz entsteht bzw. entstehen soll. Anders formuliert: Wenn die prosozialen Werte "wichtig" geworden sind und gesichert sind, kann - nicht muss - die politisch-demokratische Vorstellung des Konflikts hinzutreten oder sie ablösen oder sie integrieren.
Dieser Vermutung - was den Ablauf und die Bedingungen betrifft - nachzugehen würde wichtige und lohnende Forschungsfragen hervorbringen.
V. Vertrauen in Institutionen und Politik - was bedeutet das Vertrauen?
Das Vertrauen in Institutionen, das Sachsen-Anhalts Schülerinnen und Schüler im Sommer 2000 äußern, zeigt Strukturen, wie sie auch in anderen Jugendstudien festgestellt wurden.
Die Erklärung dieser Daten (und ähnlicher in anderen Studien) kann auf die Glaubwürdigkeit der Institutionen hinweisen und wird dann auf Spendenskandale (im Frühjahr 2000, also kurz vor der Befragung, wurden Spendenskandale der CDU in Bund und im Land Hessen in der Öffentlichkeit mit Nachdruck diskutiert und kritisiert) und auf das Erscheinungsbild von Politikern im Parlament und außerhalb verweisen. Diese Erklärung des geringen Vertrauens als Konsequenz der Erscheinung dieser Institutionen kann sich in unseren Daten dadurch gestützt sehen, dass - auf eine Frage politischen Wissens - die Jugendlichen zu über einem Drittel angaben, in einer Demokratie sei die wichtigste Funktion von Wahlen, "das Interesse der Bürger/innen an der Regierung zu steigern". Demgegenüber sahen nur ca. 30 Prozent die Funktion von Wahlen darin, "einen gewaltfreien Wechsel der Regierung zu ermöglichen" (und jeweils etwa 15 Prozent kreuzten an, "im Land bestehende Gesetze beizubehalten" bzw. "den Armen mehr Macht zu geben"). Wahlen sind im Blick unserer Befragten eher gigantische Public-Relations-Veranstaltungen als demokratische Wege zur Politikbestimmung und Politikänderung!
Dieser Erklärung durch die Glaubwürdigkeit des politischen Personals und ihre Wahrnehmung durch die Befragten muss aber unseres Erachtens eine zweite oder auch konkurrierende Interpretation hinzugefügt werden, die die Mühsal des Demokratie-Lernens (als im Übrigen lebenslangen Bildungsprozesses) in den Vordergrund stellt. Das politische System der Demokratie setzt bei seinen Bürgerinnen und Bürgern eine Konfliktkompetenz voraus, die privaten Wünschen nach Eindeutigkeit, Harmonie und gemeinschaftlicher Solidarität widerspricht. Diese Wünsche und Sehnsüchte machen es schwer, Funktion und Arbeitsweise sowie Erscheinungsbild jener Institutionen einzuordnen, die im Kern des konflikthaften Prozesses agieren.
Viel Vertrauen erhalten Institutionen der dritten Gewalt, die aus dem Streit herausgehoben und in die Position eines neutralen Dritten gebracht und somit konfliktfern erscheinen, weil sie konfliktschlichtend und -entscheidend arbeiten. Sie werden wohl nicht als Teil des Konfliktsystems in Demokratie und Rechtsstaat gesehen und profitieren - so die These - in ihren Vertrauenswerten von diesem Missverständnis. Vergleichbar erklären sich möglicherweise die hohen Vertrauenswerte für Institutionen, die eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen haben, ohne dass sie in den konflikthaften Prozess der Aufgabenbestimmung eingebunden sind. Bürgerinitiativen schließlich haben den Vorteil, dass sie begrenzte einzelne Konfliktthemen verfolgen, die häufig eine auf den ersten Blick hohe moralische Überzeugungskraft haben. Bürgerinitiativen müssen nicht selbst unterschiedliche Interessen bündeln und irgendwie vermitteln (wie politische Parteien) und sie müssen auch nicht viele unterschiedliche Themen behandeln. Diese Eindeutigkeit ist ihre Stärke und verleiht ihnen häufig Glaubwürdigkeit, die durch die Basishaftung und unvermittelte Bürgernähe verstärkt wird. Das ihnen entgegengebrachte Vertrauen ist also gut zu verstehen. Genau so gut ist das geringere Vertrauen für die Kerninstitutionen des politischen Prozesses zu verstehen.
Es ergibt sich somit eine konkurrierende Interpretation zur Interpretation des geringen Vertrauens als (womöglich gerechte) Quittung für die Glaubwürdigkeit und Effektivität der Institutionen Bundesregierung, Bundestag und politische Parteien: Ein Verständnis dieser Institutionen setzt eine Konfliktkompetenz voraus, die faktisch eher seltener gegeben ist. Den Institutionen kann in ihrer grundsätzlichen Funktion und in ihrer konkreten Erscheinung nur schwer Vertrauen entgegengebracht werden, weil ihr Handeln notwendigerweise nach einer anderen "Logik" erfolgt als das private Leben.
Es ist also zu bedenken, worauf Bettina Westle hingewiesen hat, dass "Vertrauen" erst einmal eine Kategorie der sozialen Welt ist und nicht unhinterfragt auf den politischen Bereich übertragen werden darf.
In der Sachsen-Anhalt-Studie haben wir in die Liste der erfragten Institutionen (die im Übrigen weitere Institutionen als die oben genannten enthält) - unseres Wissens zum ersten Mal in einer solchen Studie - die Institution Schule aufgenommen. Wegen des Mangels an Vergleichswerten ist die Tatsache, dass zwei Drittel unserer Befragten der "Schule" einiges oder viel Vertrauen entgegenbringen, schwer einzuordnen. Jedenfalls hatten wir in der Projektgruppe geteilte Erwartungen: Die einen waren sicher, der Wert würde ganz schlecht sein (etwa wie bei den Parteien), die anderen rechneten mit einem eher positiven Ergebnis - wir alle waren jedenfalls von dem u. E. hohen Maß an geäußertem Vertrauen überrascht!
Die Institution Schule ist aus der Liste der oben angegebenen Institutionen die einzige, die den jungen Leuten aus eigener Erfahrung bekannt ist und also nicht (nur) medienvermittelt erscheint. Darüber hinaus ist die Schulpflicht die umfassendste (nach Dauer und Intensität) Bürgerpflicht, die auch über Sanktionen durchgesetzt wird. Das Maß an Beanspruchung - ohne dass wie bei sonstiger Berufstätigkeit eine unmittelbare Gratifikation über Bezahlung erfolgt - ist immens. Das geäußerte Vertrauen ist als erstaunlich hoch zu werten (auch wenn ein Drittel der Befragten wenig oder gar kein Vertrauen zum Ausdruck bringen) - ohne Vergleichswerte lässt sich aber nicht präzise feststellen, ob hierin ein Kompliment der Befragten für das Land Sachsen-Anhalt und seine Schulen zu sehen ist oder ob dies eher normal ist.
Hier sei ein Einzelergebnis hinzugefügt, das die Subgruppe der sich als "rechts" einstufenden Jugendlichen in unserer Befragung betrifft: Diese Gruppe ist nicht nur in der "Werte-Landschaft" von Prosozialität weniger verankert als der Durchschnitt, sie zeigt auch ein geringeres Maß an Vertrauen gegenüber den Institutionen - mit zwei Ausnahmen: Der Bundeswehr wird mehr Vertrauen entgegengebracht als vom Durchschnitt der Befragten und den politischen Parteien! Der Unterschied ist groß: Fast 40 Prozent der Subgruppe "rechts" bringen den Parteien einiges/viel Vertrauen entgegen, in der Gesamtgruppe sind es aber nur 23 Prozent. Natürlich ist auch hier das methodische Problem zu berücksichtigen, dass "Vertrauen" als soziale oder politische Kategorie unscharf bleibt und dass unklar bleibt, ob der systematische Sinn der Institution oder ihre aktuelle Performanz abgefragt wurde. Das beeinträchtigt aber nicht die Interpretation (vgl. oben), dass diese soziale Gruppe das demokratische System instrumentell zu nutzen versteht. Offensichtlich sind solche politischen Parteien vorhanden, die einen Kristallisationspunkt für gemeinsames politisches (nicht: demokratisches) Denken und eventuell auch Handeln abgeben - jedenfalls sprechen die höheren Vertrauenswerte für diese Interpretation.
VI. Partizipation in der Schule - und in der Politik?
Da die Sachsen-Anhalt-Studie auch eine Schulstudie ist, können wir auf die Ebenen von Einzelschulen (und auch Einzelklassen) schauen. Deshalb können Beziehungen von allgemeiner politischer Beteiligungs- und schulischer Partizipationsbereitschaft geprüft, und beides kann zu anderen Merkmalen verknüpft werden.
Die allgemeine politische Beteiligungsbereitschaft ist über eine Frage, welche Möglichkeiten zur Einflussnahme für die Befragten in Frage kommen oder nicht, mit der Vorgabe von 18 Wegen erhoben worden.
Natürlich sagt die erklärte Bereitschaft nicht unbedingt etwas darüber aus, ob der oder die positiv Antwortende die Tätigkeit auch tatsächlich ausführen würde. Die Struktur der Antworten erscheint erst einmal plausibel, weil weniger aufwändige Wege häufiger genannt werden als die anderen. Ähnliches lässt sich auch bei den Antworten zu politischen Beteiligungen feststellen.
Das erste festzuhaltende Ergebnis ist eine klare Beziehung zwischen politischen und schulischen Beteiligungen: Die Indizes der Mittelwerte korrelieren bemerkenswert deutlich. Den Einstellungen zu beiden Partizipationssphären liegt wohl eine gemeinsame Orientierungsbasis zugrunde. Schulische und politische Partizipation sind also nicht deckungsgleich, hängen aber miteinander zusammen. Das ist ein Indiz dafür, dass schulische Partizipation die Einstellung zur politischen Partizipation günstig beeinflussen kann. Im gegenteiligen Fall - wenn politische und schulische Partizipation als völlig unabhängige Sphären erschienen wären - wäre der Ansatz zur politischen Bildung bei schulischer Mitwirkung im luftleeren Raum erfolgt. So ist es aber nicht.
Im nächsten Analyseschritt wird danach gefragt, ob die Einzelschule einen Unterschied macht. Die Ergebnisse sind für die beiden Sphären unterschiedlich (was sich leicht interpretieren lässt): Die einzelnen Schulen der jeweils gleichen Schulform (wir haben Sekundarschulen und Gymnasien getrennt) unterscheiden sich nicht, wenn wir nach den Bereitschaften der Lernenden zur allgemeinen politischen Partizipation fragen, sie unterscheiden sich aber sehr wohl, wenn wir nach den Bereitschaften zur schulischen Partizipation fragen. (Verglichen worden sind in Schaubild 7 die Sekundarschulen unserer Stichprobe.)
Was sagt das alles? Da auf der Ebene der Einzelschulen die Bereitschaft zur schulischen Partizipation unterschiedlich stark ausgeprägt sind, kann man schließen, dass die einzelne Schule hier Möglichkeiten hat, diese Bereitschaft zu ermutigen bzw. zu beeinflussen. Dass keine Unterschiede bei der politischen Bereitschaft auf der Ebene der Einzelschulen zu sehen sind, braucht nicht zu verwundern, weil die allgemeine politische Beteiligungsbereitschaft nicht nur vom schulischen Geschehen abhängt. Da wiederum ein spürbarer Zusammenhang zwischen Bereitschaft zur schulischen und zur politischen Partizipation besteht, kann man annehmen, dass die positive Beeinflussung schulischer Partizipationsmöglichkeiten sich auf die Bereitschaft zu deren Wahrnehmung auswirkt - und auch auf die allgemeine politische Partizipationsbereitschaft. Über die Wege einer solchen Transformation wissen wir nichts, aber einen kleinen - Hypothesen generierenden - Hinweis mag die Tatsache geben, dass die politische Partizipationsbereitschaft unabhängig von "Prosozialität" (zur Messung vgl. oben) ist, dass aber die schulische Partizipationsbereitschaft mit zunehmender Prosozialität ansteigt: Bei einem Mittelwert von nur 3,7 (also etwas unter der Angabe "wichtig" bei der Frage nach der persönlichen Bedeutung von prosozialen Verhaltensweisen) stellen wir das Fehlen der Bereitschaft zu schulischer Partizipation fest, während ausgeprägte schulische Partizipationsbereitschaft mit einem Mittelwert von 4,3 zusammengeht (dazwischen kontinuierliche Entwicklung).
Es drängt sich die Vermutung auf, dass die Schule als Organisation mittlerer oder vermittelnder Qualität zwischen sozialem Nahraum und öffentlicher Institution auf prosoziale Impulse reagieren bzw. sie fördern kann und dass sie - letztlich - auch Impulse zu politisch-demokratischen Einstellungen ihrer Schüler geben kann.
VII. Fazit
Das Ergebnis der Betrachtungen zu Geschlecht, Prosozialität, Vertrauen in Institutionen und Partizipation in ihrer Beziehung zu Politik und Konfliktkompetenz lautet: Soziales Lernen ist wahrscheinlich notwendig, aber nicht hinreichend für Demokratie-Lernen.
Es gibt vermutlich einen instrumentellen Zugang zur Politik (hier der Subgruppe "rechts"), der eine geringere soziale Bindung aufweist und die Normen von Demokratie nicht teilt. Hier wäre soziale Integration und Verankerung das erste politische und pädagogische Ziel.
Eine gut gelungene soziale Einbindung ergibt nicht automatisch - als gleichbedeutend oder als Nebeneffekt - politisch-demokratisches Lernen. Soziale Qualifikationen des privaten Lebens bedürfen einer Transformation in Konfliktkompetenz, damit die Teilhabe am öffentlichen demokratischen Prozess möglich wird.
Die Schule kann diesen Prozess fördern, und zwar nicht nur durch Unterricht (mit dem strukturellen Vorteil handlungsentlasteten Lernens), sondern auch durch Möglichkeiten der Partizipation im Schulleben (mit dem strukturellen Vorteil des Lernens im und am Leben).