Einleitung
Der Autor bedankt sich bei Herrn Alejandro Garcia für die wertvolle Zuarbeit.
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I. Abschnitt
Über 1 300 Kilometer strömt der Narmada-Fluss quer durch den indischen Subkontinent. Sein Ufer ist die Heimat, sein Wasser die Lebensgrundlage von Millionen Menschen in vier verschiedenen Bundesstaaten. Und seit 15 Jahren ist der Narmada auch Schauplatz erbitterter Auseinandersetzungen um den Bau gewaltiger Staudämme. Neunmal hat die Bewegung "Rettet den Narmada" (NBA
Der Konflikt um die Staudämme im Narmada ist keineswegs eine rein lokale Angelegenheit. Mehrmals mussten sich die höchsten indischen Gerichte mit den Projekten befassen, und auch außerhalb des Subkontinents haben die Dammbauten für reichlich Konfliktstoff gesorgt. So zog die japanische Regierung bereits 1990 nach den ersten großen Widerstandsaktionen gegen einen Dammbau im Narmada ihre Kredite zurück. Im Jahr darauf erhielt Medha Patkar, Führerin der Bewegung "Rettet den Narmada", den alternativen Nobelpreis und gelangte dadurch zu internationaler Bekanntheit. Kurz danach begann auch die Weltbank an den Staudammprojekten zu zweifeln; 1993 verzichtete Indiens Regierung auf einen 170-Millionen-US-Dollar-Kredit der Weltbank. Und schließlich erreichte der Konflikt auch Deutschland. Im April 1999 zogen die Energiekonzerne Bayernwerk und VEW ihre geplante Beteiligung am Maheshwar-Damm zurück, und im August 2000 fühlte sich Siemens nach weiteren Protesten und der kritischen Einschätzung eines vom Ministerium für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) in Auftrag gegebenen Gutachtens veranlasst, seinen Antrag auf eine Hermes-Bürgschaft für die Maheshwar-Turbinen zu stornieren.
II. Abschnitt
So wie am Narmada wird seit einigen Jahren um fast jedes große Staudammprojekt gestritten. Denn Staudämme werden einerseits in vielen Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens zur Stromerzeugung und Bewässerung dringend benötigt, andererseits führt ihr Bau zu riesigen Stauseen, denen Tausende, im Fall des chinesischen Drei-Schluchten-Staudamms sogar weit über eine Million Menschen weichen müssen. Oft verlieren sie durch die Umsiedlung weg von den fruchtbaren Flusstälern ihre gesamte Lebensgrundlage in Ackerbau oder Fischerei. Manchmal entstehen durch die Wasserregulierung Brutstätten für Krankheitserreger, die zu einer sprunghaften Verbreitung von Erkrankungen wie zum Beispiel Malaria oder Bilharziose führen. Bei Erdbeben werden Staudämme zur Gefahr, und die ökologischen Folgen eines großen Staudamms sind kaum absehbar. Ein aufgestauter Fluss verändert sich völlig, unter anderem, weil an die Stelle eines periodischen Wechsels zwischen Hochwasser und Wasserarmut ein fast gleichmäßiger Abfluss tritt. Flora und Fauna können sich nicht immer anpassen, einigen Arten werden die Lebensgrundlagen entzogen, andere breiten sich aus. Und für Fische stellt ein Staudamm ein unüberwindbares Hindernis dar. Die Verteilung des aufgestauten Wassers kann erheblichen sozialen Sprengstoff bergen. Ein Staudamm kann zu Konflikten zwischen Regionen und Nationen beitragen, wenn den Unterliegern ein Teil des Wassers entzogen wird, um das Reservoir aufzufüllen oder um weiter flussaufwärts landwirtschaftliche Bewässerung betreiben zu können.
Doch nicht nur die Probleme, sondern auch die Vorteile eines großen Staudamms können enorm sein. Eine günstige und verlässliche Versorgung mit Trinkwasser und Strom ist für Millionen von Menschen in den Großstädten der Entwicklungsländer, die oft unterhalb der Armutsgrenze leben müssen, ein Segen. Wenn Wasserkraftwerke alte Kohlekraftwerke ersetzen, dient dies nicht nur dem Klimaschutz, sondern trägt vor allem wesentlich zur Verbesserung der Luftqualität in den Städten bei. Die Landwirtschaft profitiert von Bewässerungsmöglichkeiten selbst in Dürreperioden und kann so eine gleichmäßigere Versorgung mit Lebensmitteln sicherstellen. Und schließlich erwirtschaften Staudämme Staatseinnahmen, die zum Aufbau sozialer Infrastruktur genutzt werden können.
Die erwarteten Vorteile sind so verlockend, dass heute weltweit ungefähr die Hälfte aller Flüsse durch mindestens einen großen Damm gestaut wird. 45 000 Großstaudämme mit mehr als 15 Metern Höhe sind in Betrieb, weitere 1 700 befinden sich derzeit in Bau. Nach Schätzung der World Commission on Dams (WCD) sind zwischen 40 und 80 Millionen Menschen durch den Bau dieser Staudämme vertrieben oder umgesiedelt worden, die meisten ohne angemessene Entschädigung. Nicht nur ökologisch und sozial sind Staudämme oft Megaprojekte. Auch ökonomisch sind sie mit Investitionskosten von mehreren hundert Millionen Mark in vielen Ländern die mit Abstand größten Infrastrukturmaßnahmen. Weltweit werden rund 20 Prozent des Stroms aus Wasserkraft gewonnen; 24 Staaten, darunter Brasilien, Kongo, Sambia und Norwegen, decken über 90 Prozent ihres Strombedarfs aus Wasserkraft. Zwischen 12 und 16 Prozent der weltweiten Nahrungsmittelproduktion beruhen auf der Bewässerung aus Stauseen.
III. Abschnitt
Ist es möglich, diese teilweise lebenswichtigen Vorteile von Dämmen weiter zu erschließen, ohne die gravierenden Probleme in Kauf nehmen zu müssen? Nachdem in den neunziger Jahren aufgrund der aufflammenden Proteste Geberorganisationen wie die Weltbank mit der Finanzierung von Staudämmen immer zurückhaltender wurden, riefen Gegner und Befürworter von Dämmen im Jahr 1998 die WCD ins Leben. An der Gründung beteiligt waren Weltbank und IUCN (The World Conservation Union). Die WCD erhielt das Mandat, die Entscheidung über das Für und Wider solcher Großprojekte auf eine rationale Grundlage zu stellen. Damit sie nicht zwischen den Fronten aktueller Konflikte um Dammbauten zerrieben würde, sollte sie sich aus diesen möglichst heraushalten und stattdessen verbindliche Empfehlungen für künftige Planungen erarbeiten. Die Lebensdauer der WCD war von vornherein auf zweieinhalb Jahre befristet.
Die Vorgehensweise der WCD war ein Novum in der Geschichte internationaler Organisationen. Statt Hunderter von Delegierten saßen sich bei der WCD nur ein Dutzend Vertreter von Regierungen, Industrie, Nichtregierungsorganisationen und Verbänden gegenüber. Vorsitzender der WCD war Kader Asmal, Wasserminister in der Regierung von Nelson Mandela. Der 12-köpfigen Kommission gehörten so gegensätzliche Persönlichkeiten an wie der Schwede Göran Lindahl, Chef von ABB, bis vor kurzem einer der führenden Lieferanten für Wasserkraftkomponenten, und die indische Aktivistin des Kampfes gegen die Narmada-Dämme, Medha Patkar. Der Apparat war ungewöhnlich klein, dafür war das Arbeitspensum umso größer.
In Afrika, Asien und Lateinamerika wurden Anhörungen durchgeführt, die Auswirkungen von acht Großdämmen wurden umfassend untersucht, Länderstudien zu Indien und China und eine statistische Auswertung von 125 Großdämmen in allen Kontinenten lieferten zusätzliches Hintergrundmaterial. Jeder Schritt der Kommission wurde im Internet dokumentiert, Interessenvertreter konnten jederzeit Meinungen und Material beisteuern, eine Möglichkeit, von der 947mal Gebrauch gemacht wurde. Trotzdem war die WCD wegen ihres kleinen Apparates und befristeten Auftrags ein vergleichsweise billiges Unterfangen. Die Gesamtkosten in Höhe von 10 Millionen US-Dollar teilten sich 53 staatliche, private und zivilgesellschaftliche Institutionen. Die Bundesregierung steuerte zwei Millionen Mark bei, Siemens 100 000 DM. Mit diesen finanziellen Beiträgen war die Erwartung verbunden, dass künftig erheblich höhere Kosten, die auf allen Seiten durch den jahrelangen Kampf um Großdammprojekte entstehen, vermieden werden können.
IV. Abschnitt
Tatsächlich schafften es die 12 Kommissionsmitglieder, in der vorgegebenen Zeit einen einstimmigen, über 300 Seiten starken Abschlussbericht
Bei der Analyse bestehender Großdämme musste die WCD feststellen, dass viele von ihnen die selbst gesetzten Ziele der Stromerzeugung und Bewässerung nicht erreicht hatten. Ursache dafür waren nicht nur falsche Berechnungen, unerwartete technische Schwierigkeiten oder auch Verzögerungen durch massive Proteste. Bei einer durchschnittlichen Kostenüberschreitung der untersuchten Dämme von 56 Prozent drängte sich darüber hinaus der Verdacht auf, dass knappe Kalkulationen bewusst eingesetzt wurden, um die Akzeptanz der Projekte zu erhöhen. Doch nicht nur das Kosten-Nutzen-Verhältnis war häufig unbefriedigend. Bei den meisten Dammprojekten traten negative ökologische Folgen in unerwartet hohem Ausmaß auf. So wirken sich manche in den Tropen gelegene Großdämme zum Beispiel negativ auf das Klima aus, oder sie führen - wie am südafrikanischen Oranje - zu einer Schädlingsepidemie, die immense Schäden in der Viehwirtschaft verursacht. Es zeigte sich auch, dass mögliche Alternativen zu den Großdamm-Projekten in den Bereichen Energie, Wasser und Nahrungsmittelproduktion nicht ausreichend geprüft worden waren. In manchen Fällen hätte eine Kombination aus innovativen Stromerzeugungstechnologien, Einsparmaßnahmen oder Verbesserungen der landwirtschaftlichen Anbaumethoden zu besseren Ergebnissen geführt als ein neuer Staudamm.
Alle am gravierendsten erwiesen sich in der WCD-Analyse jedoch die Mängel bei der Entscheidungsfindung, Planung sowie der Beteiligung der Bevölkerung. So wurden die negativen Folgen eines Staudamms für die in den Flusstälern lebenden Menschen noch in den neunziger Jahren oft überhaupt nicht berücksichtigt. Und je größer das Ausmaß der Vertreibung, desto weniger wahrscheinlich war es, dass die Lebensgrundlagen selbst der unmittelbar betroffenen Gemeinschaften wiederhergestellt werden konnten. Bei Staudammprojekten werde die betroffene Bevölkerung "nicht als Partner mit eigenen Rechten bei der Planung wahrgenommen", heißt es im WCD-Bericht, "geschweige denn in die Lage versetzt, sich an diesen Prozessen zu beteiligen". Schon aus diesem Grund sei es kein Wunder, dass Staudamm-Planungen immer wieder zu schweren Konflikten führten.
V. Abschnitt
Und so stehen denn auch Empfehlungen für ein angemessenes Entscheidungsverfahren vor dem Bau neuer Staudämme im Mittelpunkt der Empfehlungen des WCD-Berichts. Gerechtigkeit, Effizienz, partizipative Entscheidungsfindung, Nachhaltigkeit und Rechenschaftspflicht sind die fünf Werte, die die WCD als Basis jedes Entscheidungsfindungsprozesses vorschlägt. "Die Opfer von Staudammprojekten haben einen legitimen Platz am Verhandlungstisch", heißt es im WCD-Bericht, der Empfehlungen zu einer Art Mediationsverfahren gibt. Schon vor einer Grundsatzentscheidung für den Bau eines Staudamms sollen alle denkbaren Alternativen sorgfältig geprüft werden. Dazu gehöre insbesondere auch eine Verbesserung bereits bestehender Staudämme, die in vielen Fällen sinnvoller sei als ein Neubau.
Ist die Grundsatzentscheidung für einen neuen Staudamm gefallen und öffentlich akzeptiert, sollen zunächst alle denkbaren Auswirkungen - ökologische und ökonomische ebenso wie soziale - geprüft werden. Parallel dazu müssen Konsultations- und Konfliktregelungsverfahren festgelegt werden. Der Erhalt des Flusses als Existenzgrundlage für die Bevölkerung soll bei der Konkretisierung des Projektes sichergestellt sein. Die Vermeidung negativer Folgen soll grundsätzlich Vorrang vor einer Kompensation haben. Für Schäden müssen Ausgleichsmaßnahmen festgelegt werden, und der Nutzen des Staudamms soll gerecht verteilt werden. Die vom Staudammbau direkt betroffenen Menschen sollen jedoch zu den bevorzugten Nutznießern gehören. Lizenzen und Konzessionen für den Betrieb des Staudamms sollen nur noch zeitlich befristet vergeben werden. Und schließlich soll die Einhaltung all dieser Vorgaben von unabhängiger Seite kontrolliert werden. Für all dies macht die WCD detaillierte Verfahrensvorschläge.
Trotz aller Kritik läuft der WCD-Bericht keineswegs auf eine allgemeine Aussage zu neuen Staudammprojekten hinaus. "Manche werden uns jetzt vorwerfen, dass der Bericht den Bau von Staudämmen erschwert", sagte der Kommissions-Vorsitzende Kader Asmal bei der Unterzeichnung, "aber wir überbringen nur die Botschaft. Der Neubau von Staudämmen nimmt bereits seit über einem Jahrzehnt ab." Doch auch gegen Kritik der anderen Seite nimmt Asmal die Kommission in Schutz: "Andere werden den Bericht vielleicht benutzen, um pauschal alle Staudammprojekte abzulehnen und ein Moratorium zu fordern. Aber auch das wäre falsch. Wir bestätigen unmissverständlich, dass Staudämme eine wichtige Option bleiben, um auf wachsenden Entwicklungsbedarf zu reagieren." Die Ergebnisse der WCD sollten weder in die eine noch in die andere Richtung für ideologische Zwecke missbraucht werden. Ihr Ziel sei vielmehr eine Versachlichung der Entscheidungsfindung.
Eine Entideologisierung und Versachlichung der Entscheidung über Großdämme - diese Hoffnung war auch aus den meisten Stellungnahmen herauszuhören, die nach der Veröffentlichung des WCD-Berichtes abgegeben wurden. "Dieser Bericht wird uns dabei helfen, unsere zukünftigen Entscheidungen in die richtige Richtung zu lenken", sagte zum Beispiel James Wolfensohn, Präsident der Weltbank, die einen großen Teil des Kapitals für Staudammbauten in Entwicklungsländern bereitstellt. Allerdings schränkte er sogleich ein: "Die kritische Frage bleibt, ob unsere Nehmerländer und Staudamm-Investoren die Empfehlungen der WCD akzeptieren." Obwohl die Weltbank zu den Initiatoren der WCD gehörte, will sie deren Ergebnisse nicht als Richtlinien für die Kreditvergabe übernehmen, sondern bezeichnet sie lediglich als "valuable reference", also als hilfreichen Bezugspunkt bei der Entscheidungsfindung.
Ähnlich auch die Reaktion der International Commission on Large Dams (ICOLD), dem weltweiten Zusammenschluss von Ingenieuren, Baufirmen, Regierungen und Wissenschaftlern, der die Interessenvertretung der Staudammbauer übernommen hat. Sie erhoffen sich von der Anwendung der WCD-Kriterien eine Verringerung der Planungsunsicherheiten, die immer häufiger mit den Konflikten um Staudammbauten verbunden sind. Andererseits kritisierten sie, dass die von der WCD untersuchten Staudämme über 30 Jahre alt sind, neuere Projekte jedoch viele der damals noch unbekannten negativen Folgen von vornherein vermeiden würden. "Die WCD-Empfehlungen basieren zumeist auf den Erfahrungen entwickelter Länder, die die Zeit und das Geld haben, um alle möglichen Alternativen zu Staudämmen auszuloten", erklärte ICOLD-Präsident C.V.J. Varma. Trotzdem sollte jedes Land die WCD-Empfehlungen und die Richtlinien von ICOLD berücksichtigen, gleichzeitig aber auch "die jeweils herrschenden Bedingungen, Traditionen, Gesetze und Bedürfnisse" in Betracht ziehen. Sonst drohe ein vollständiger Stopp neuer Staudammprojekte mit entsprechend negativen Folgen für die Bevölkerung. Diese Sorge wurde auch in einigen Entwicklungsländern formuliert, die zu den wichtigsten Dammbauländern gehören. Vor allem China, Indien und die Türkei äußerten sich skeptisch zum WCD-Bericht. "Während einige führende Staaten ihre Wasserressourcen bereits vollständig ausschöpfen, könnten die vorurteilsbeladenen Ergebnisse der WCD die Nutzung von Wasserressourcen in Entwicklungsländern verhindern", hieß es aus dem zuständigen türkischen Ministerium. Deutliche Zustimmung war dagegen aus Regionen zu hören, in denen keine neuen Staudammprojekte geplant sind, wie Europa, Nordamerika, Japan, Brasilien und Zimbabwe.
Die an der WCD beteiligten Anti-Staudamm-Aktivistengruppen
VI. Abschnitt
Das BMZ sieht sich in seiner kritischen Haltung, die es bereits in der Vergangenheit gegenüber großen Staudammprojekten eingenommen hatte, bestätigt. Keinesfalls dürfe dies jedoch als grundsätzliche Ablehnung aller Staudamm-Projekte gewertet werden. "Dämme bleiben auch in der Zukunft eine Option für viele Länder", sagte die Ministerin für Entwicklung und Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Heidemarie Wieczorek-Zeul, nach der Vorstellung des WCD-Abschlussberichts, "sie können aber dank der Arbeit der Kommission jetzt sorgfältiger geplant werden, mögliche negative Auswirkungen können frühzeitig erkannt und angegangen werden - und manchmal werden Staudammprojekte schon im Ansatz überflüssig, weil bessere Alternativen schon im frühen Planungsstadium entdeckt und umgesetzt werden können." Der Bericht liefere deshalb einen "wichtigen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion über Staudamm-Großprojekte". Gleichzeitig wandte Wieczorek-Zeul sich sowohl gegen Euphorie als auch gegen eine pauschale Ablehnung von Staudämmen. "Es wird immer auf die Einzelfallprüfung ankommen, ob die zu erwartenden Vorteile es wert sind, die negativen Folgen in Kauf zu nehmen", sagte sie. Skeptisch bleibt das BMZ gegenüber der WCD-Forderung, auch bereits abgeschlossene Staudammprojekte anhand der aufgestellten Kriterien zu überprüfen und Mängel nachträglich zu korrigieren. Dies werfe gravierende Probleme von der Finanzierung bis hin zu Haftungsfragen auf und sei deshalb "schwer umsetzbar".
Grundsätzliche Zustimmung äußerte auch Bernd Eisenblätter, Geschäftsführer der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), zum Bericht und zu den Empfehlungen der WCD. "Ich hoffe, dass dieses Beispiel Schule macht", erklärte Eisenblätter, "ich möchte damit nicht sagen, dass überall und immer ein Konsens möglich ist. Aber ich meine doch, dass man ziemlich weit kommen kann, wenn man die ideologischen Prägungen und Vorurteile über Bord wirft und versucht, die Gegenseite wirklich zu verstehen." Allerdings bezweifelt Eisenblätter, dass eine vollständige Anwendung der WCD-Empfehlungen in jedem Fall realistisch sei. "Ein kritischer Aspekt ist hier sicherlich die Frage der Zeitdauer und Verlässlichkeit des von der WCD vorgeschlagenen Konsultationsprozesses und die Vielzahl und Legitimation der zu beteiligenden Akteure", sagte er. Insbesondere Staudamm-Investoren und -Betreiber würden auch weiterhin auf "Schnelligkeit und Verbindlichkeit des Mediationsprozesses" drängen. Die Rolle der GTZ sieht Eisenblätter dabei vor allem in der Unterstützung von Bedarfs- und Optionsprüfungen und bei der Sicherung ausreichender Partizipation der von Dammbauten betroffenen Bevölkerung. "Die GTZ bewegt sich mehr und mehr in Richtung Politikberatung und bietet somit eine gute Ergänzung zu technischer und finanzieller Zusammenarbeit."
VII. Abschnitt
Da deutsche Industrieunternehmen und Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit eine wichtige Rolle bei vielen großen Staudammprojekten spielen, hat es sich das BMZ zur Aufgabe gemacht, die Umsetzung der WCD-Empfehlungen durch eigene Maßnahmen zu begleiten. Als ersten Schritt hat es im Januar 2001 rund 140 Vertreter und Vertreterinnen deutscher Unternehmen, Ingenieurbüros, Bundesministerien, Medien, Entwicklungszusammenarbeits- und Umweltorganisationen zu einem Dialogforum
Auch auf internationaler Ebene wird weiter an der Umsetzung der WCD-Empfehlungen gearbeitet. Zwar hat die Kommission selbst sich wie geplant aufgelöst, doch unter der Schirmherrschaft des United Nations Environment Programme (UNEP) soll in den nächsten zwei Jahren eine Dams and Development Unit (DDU)
Neben der DDU wird vor allem die Weltbank eine wichtige Rolle bei der weiteren Umsetzung des WCD-Berichts auf internationaler Ebene spielen. In einer jüngst veröffentlichten Stellungnahme
VIII. Abschnitt
Wie eine Staudammplanung unter Berücksichtigung eines großen Teils der WCD-Empfehlungen aussehen könnte, ist derzeit im Süden von Laos zu beobachten. Zwischen Vietnam und Thailand soll dort an einem Nebenfluss des Mekong von einem europäisch-laotischen Jointventure der Staudamm Nam Theum 2 entstehen.
Die betroffenen Gemeinden am Mekong waren in die Planung des Gesamtvorhabens und der verschiedenen Projektphasen von Anfang an einbezogen, über 240 Workshops wurden vor Ort durchgeführt. Als Ziel der erforderlichen Umsiedlungen wurde eine Verbesserung der Lebensverhältnisse vereinbart und ein entsprechender Umsiedlungsplan gemeinsam mit den Betroffenen ausgearbeitet. Darin wurde festgelegt, dass der endgültige Beschluss über die Umsiedlung erst nach Zustimmung der Gemeinden und der Weltbank fallen darf. Die Anwohner sollen sich den Ort ihrer künftigen Siedlungen selber auswählen und ihre neuen Häuser selbst planen können. Außerdem wurde die Versorgung der neuen Siedlungen mit Wasser und Strom, Schulen, Kliniken und ganzjährig befahrbaren Straßen vereinbart. Umweltschäden sollen durch einen Zuschuss von einer Million Dollar im Jahr an einen benachbarten Naturpark ausgeglichen werden.
Von den 1,1 Milliarden US-Dollar Gesamtkosten des Staudammprojekts sollen 34 Millionen, also gute drei Prozent, für die Umsiedlung der betroffenen laotischen Bevölkerung ausgegeben werden. Dies entspricht ungefähr dem Anteil, der auch im deutschen Braunkohletagebau für Umsiedlungsmaßnahmen ausgegeben wird. Mit Aufwendungen in der Größenordnung von fünf Prozent der Gesamtkosten sind hierzulande bisher weitgehend einvernehmliche Entschädigungslösungen möglich gewesen. Aber auch zum Nam-Theum-2-Projekt gibt es kritische Stimmen. Zu Recht hat zum Beispiel das International Rivers Network an den Planungen für den Staudamm Nam Theum 2 kritisiert, dass der große Wissensunterschied zwischen Experten und lokaler Bevölkerung keine gleichberechtigten Entscheidungsprozesse ermöglicht. Außerdem seien die Auswirkungen des Staudamms flussabwärts größer als erwartet. Dort werde es weitere 40 000 Betroffene geben, die bisher in die Entscheidungsprozesse noch gar nicht eingebunden worden sind.
IX. Abschnitt
Der WCD-Bericht ist das Ergebnis eines einmaligen Experiments internationaler politischer Meinungsbildung. Er hat eine Bilanz bisheriger Staudammprojekte geliefert und Vorgaben für den Weg zu besseren Staudämmen gemacht. Im Gegensatz zu anderen internationalen Vereinbarungen - wie zum Beispiel beim Klimaschutz - besitzt der WCD-Bericht jedoch keinerlei rechtliche Verbindlichkeit. Deshalb beginnt ein wichtiger Teil der Arbeiten erst jetzt, nach Veröffentlichung des Abschlussberichts. Keine Institution wird die WCD-Regeln sofort umsetzen können. Für die Erfüllung vieler Forderungen fehlen heute auch noch praktikable Vorgehensweisen, einige Empfehlungen, wie das Vetorecht der Beteiligten in jeder Stufe der Projektentwicklung, werden sich in der Praxis als nicht machbar erweisen.
Eine wichtige offene Frage ist, wie denn eine weltweit anerkannte Bewertung von Alternativen für Staudammprojekte aussehen könnte. Wer muss an der Durchführung beteiligt werden, wer ist da-für verantwortlich, wie kann so etwas finanziert werden? Und wie kann man Auswirkungen in völlig unterschiedlichen Kategorien vergleichbar machen? Denn schließlich ist es nicht einfach, die Gesundheitsschäden, die durch Luftverschmutzung bei Kohlekraftwerken entstehen, gegen die Umsiedlung von Menschen abzuwägen, die Vernichtung von archäologischen Stätten gegen die Produktion von Nahrungsmitteln oder auch das Aussterben einer Tierart gegen die Bereitstellung von Trinkwasser.
Eine weitere Schlüsselfrage liegt in der Entwicklung partizipativer Entscheidungsprozesse. Sie sollen die Rechte der Menschen sichern, die wirklich von einem Staudammbau betroffenen sind, aber verhindern, dass Trittbrettfahrer angelockt werden. Wie kann die Entscheidungsfähigkeit der Betroffenen hergestellt werden, wenn viele Staudamm-Folgen selbst unter Experten strittig sind? Wie sieht eine faire Kompensation für Menschen aus, denen ihre Lebensgrundlagen durch einen Staudamm entzogen werden? Wie kann sichergestellt werden, dass vereinbarte Kompensationsmaßnahmen über Jahrzehnte hinweg wirklich geleistet werden und tatsächlich den Betroffenen zugute kommen? Wie kann ein faires Planungsverfahren aussehen, das sowohl die Rechte und Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigt als auch das Bedürfnis der Bauherren nach Planungssicherheit? Schließlich ist auch die kostengünstige Bereitstellung von Trinkwasser und Strom in Ballungsgebieten ein entwicklungspolitisches Anliegen.
Auch über globale Folgen großer Staudämme wird weiterhin kontrovers diskutiert. Einerseits sind sie wichtige Hoffnungsträger im Kampf gegen die Klimaveränderung. Andererseits gibt es sehr unterschiedliche Aussagen darüber, unter welchen Bedingungen Stauseen durch Faulprozesse im Reservoir und in dem völlig veränderten Unterlauf des gestauten Flusses einen beträchtlichen Ausstoß an Klimagasen mit sich bringen. Einfache und standardisierte Evaluierungs-Verfahren gibt es bisher nicht.
Manche Bausteine eines praxistauglichen Verfahrens zur Sicherstellung "guter" Staudämme müssen nun auf ihre Anwendbarkeit in Entwicklungsländern hin untersucht werden. Ist ein deutsches Planfeststellungsverfahren wirklich die richtige Vorgehensweise für ein Staudammprojekt im Amazonasgebiet? Welche Elemente daraus könnten den Bedingungen in Entwicklungsländern angepasst werden? Können bestehende Normen für Qualitätssicherung und Umweltschutz übertragen werden? Welche der unzähligen Umwelt- und Sozial-Richtlinien nationaler und internationaler Organisationen sollten verbindlich vorgeschrieben werden? Wie kann ein transparenter Nachweis geführt werden? Und wie kann verhindert werden, dass die Regeln nicht umgangen werden, wie es ja selbst bei rechtlich verbindlichen Vorschriften in der Praxis immer wieder vorkommt?
Diese Fragen müssen jetzt möglichst gemeinsam von all denjenigen geklärt werden, die nach wie vor der Ansicht sind, dass auch in Zukunft Staudämme in vielen Fällen die beste Option sind. Nur wenn die unerwünschten Nebenwirkungen so weit wie möglich reduziert werden können, werden sich Staudämme auch in Zukunft noch durchsetzen lassen. Viele Akteure haben sich zu dieser Einschätzung bekannt. Auch das GTZ-Projekt zur Umsetzung der WCD-Empfehlungen hat sich zum Ziel gesetzt, im Auftrag des BMZ in den kommenden zwei Jahren seinen Teil dazu beizutragen. Auf der Jahresversammlung von ICOLD im September 2001 in Dresden wurde "Benefits and Concerns about Dams" als Thema vorgegeben. Kader Asmal richtete sich an die WCD-Kritiker mit den Worten "You can walk away from the WCD Report, if you so choose, but you can't walk away from, or turn your backs on, the controversial situation which gave rise to the WCD in the first place, and which the WCD report can, if used, help resolve. . . . One only needs to see it not as another crisis but as a sudden opportunity." Der Weg zu besseren Dämmen ist gründlich markiert worden, jetzt muss er gebaut werden.