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Antipolitik und postmoderne Ringkampf-Unterhaltung - Essay | Wandel des Politischen? | bpb.de

Wandel des Politischen? Editorial Die Selbstgefälligkeit der Intelligenz im Zeitalter des Populismus. Plädoyer für mehr Lernbereitschaft in der Demokratie Liberaler Antipopulismus. Ein Ausdruck von Postpolitik Populismus in Echtzeit. Analyse des TV-Duells und des TV-Fünfkampfs im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 Antipolitik und postmoderne Ringkampf-Unterhaltung Die Wahrheit über Postfaktizität Mehr als Imitation. Auch Autokraten lassen wählen

Antipolitik und postmoderne Ringkampf-Unterhaltung - Essay

Paula Diehl

/ 15 Minuten zu lesen

Donald Trumps Tweets verschieben die Grenzen zwischen Politik und Entertainment, Privatem und Öffentlichem sowie Realität und Fiktion. Sie sind antipolitisch, und sie sind unterhaltsam. Was verrät ein solches Phänomen über die heutige politische Kultur?

Seit dem Beginn seiner Präsidentschaft hat Donald Trump viele Grenzen des Machbaren und Sagbaren in der US-amerikanischen Politik überschritten. Seine Attacken auf die Medien, seine Lügen und seine aggressive Rhetorik sowie seine Inszenierung als jemand, der sich nicht um die Politik schert, sind bekannt. Sie sind antipolitisch, und sie sind unterhaltsam.

Doch eine seiner Darbietungen ist besonders bemerkenswert: Im Juni 2017 twitterte Trump zunächst von seinem persönlichen Account, dann vom offiziellen Twitter-Account des US-Präsidenten, ein Video. Dabei handelte es sich um einen kurzen Wrestling-Clip, in dem Trump selbst gewalttätig wird, indem er einen Mann, der in Anzug und Krawatte neben einem Boxring steht, überwältigt und auf ihn einprügelt. Wer dieser Mann ist, erfährt man im Tweet nicht, sein Gesicht wird vom CNN-Logo überdeckt. Kommentiert wird der Tweet mit dem Hashtag "FraudNewsCNN". "Fraud" heißt übersetzt Betrug.

Drei Aspekte sind hervorzuheben: Erstens ist das Video vor allem wegen seiner physischen Gewalt für eine Botschaft eines Präsidenten außergewöhnlich; zweitens wird ein antipolitisches Narrativ verwendet, in dem die Medien und das Establishment die Betrüger sind; und drittens wird im Video eine Zwischenwelt inszeniert, bei der unsicher ist, ob sie Realität, Parodie oder Fiktion ist. In einer solchen Kombination ist der Tweet antipolitisch und zugleich politisches Statement gegen "die Medien". Inzwischen wurde der Tweet aus beiden Accounts entfernt – die Zäsur aber bleibt: Die Grenzen zwischen Politik und Unterhaltung, Realität und Fiktion, Privatem und Öffentlichem wurden verschoben. Was verrät ein solches Phänomen über die politische Kultur und was bedeutet es für die Demokratie?

Ringkampf und Realityshow

Solche Grenzverschiebungen sind nicht neu. Wir kennen sie von Silvio Berlusconi, Nicolas Sarkozy und Gerhard Schröder. Alle drei vermischten Unterhaltung mit Politik, inszenierten sich als Privatmenschen in der Öffentlichkeit und spielten mit dem Übergang von Realität zur Fiktion.

Der Auftritt Gerhard Schröders, der in der Fernsehserie "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" während des Bundestagswahlkampfs 1998 sich selbst spielte, ist legendär. Schröder machte es damit schwierig, zu unterscheiden, ob er als reale Person oder als fiktive Figur wahrgenommen werden sollte. Eine solche Verwischung von Realität und Fiktion ist auch das Markenzeichen von Donald Trump als massenmediale Celebrity. Doch das Neue an Trumps Tweet ist, dass der Unterhaltungswert aus einer spezifischen Mischung aus Gewalt, Aggressivität und Macht gezogen wird und dabei Antipolitik als eine entscheidende Komponente beigemischt wird. Gemeinsam bilden Unterhaltung und Antipolitik eine Welt, die sich nicht unbedingt als real darstellt, aber dafür in schrillen Farben erscheint. Politisch relevant ist, dass diese Welt die Politik insgesamt zu diskreditieren versucht.

Trumps Kommunikationsstil ist von Übertreibung, Verrohung der Sprache und vom Hang zum Irrealen geprägt. Ein solches Verhalten scheint nicht aus dem Weißen Haus, sondern aus einer postmodernen Gladiatorenarena zu kommen. Die Figuren, die in solchen Arenen antreten, sind wie die eines Comics: Sie sind überzeichnet, fiktional, ironisch, und sie passen in das Schema Gut und Böse, Oben und Unten. Entweder ist man der Sieger oder eben – wie es Trump zu sagen pflegt – der "Loser". Der Unterhaltungswert dieser Art Inszenierungen liegt in einer Kombination aus Erniedrigung, Aggressivität und Übertreibung.

Bei Trumps CNN-Tweet verhält es sich ähnlich. Das ursprüngliche Video stammt von einem Wrestling-Event von 2007, das in den USA stattfand. Wrestling-Shows etablierten sich als Fernsehunterhaltung in den 1990er Jahren. Wrestling ist eine Mischung aus Sport, Karneval und Realityshow. Dabei treten meist zwei Kämpfer gegeneinander an, vorwiegend in Kostümen, die an Superhelden erinnern. Es gibt kaum Regeln für den Kampf: Erlaubt ist alles, was dem anderen schadet. Die Kämpfe finden vorwiegend in einem Boxring statt und werden live im Fernsehen übertragen.

Die Anthropologin Annette Hill interviewte für eine Studie Zuschauer und Produzenten solcher Ringkämpfe. Die Anziehungskraft des Formats wird von einem Manager der Produktionsfirma zusammengefasst: "Die Welt hat für ein paar Stunden keine Bedeutung mehr. Du kannst sie vergessen. Das ist alles, was im Moment zählt: Gut gegen Böse. Konflikte werden mit Gewalt gelöst, es gibt ein einfaches Drama." Hill spricht von einem "überwältigenden, chaotischen Ereignis", in dem Gefühle unkontrolliert erlebt werden können.

Im angesprochenen Wrestling-Event von 2007 tritt Donald Trump als Celebrity und "Milliardär" auf. Zur selben Zeit war er Gastgeber von "The Apprentice", einer Realityshow, in der Trump Manager für sein eigenes Unternehmen suchte. Höhepunkte dieser Sendung waren die Sätze "you are a loser" und "you are fired". Erniedrigung, Scham und Siegerposen gehörten zu den wichtigsten dramaturgischen Elementen. Die Sequenzen, die im Tweet von 2017 zu sehen waren, sind nur eine Kostprobe seines aggressiven Auftritts 2007. Der Videomitschnitt der Veranstaltung zeigt etwa, wie Trump den Chairman des Medienunternehmens World Wrestling Entertainment, Vincent McMahon, außerhalb des Ringes angreift und zu Boden zwingt. "Loser" und "Winner" werden klar markiert: Der Sieger, Donald Trump, steht auf und macht Drohgebärden in die Kamera, der Verlierer, McMahon, bleibt auf dem Boden liegen. Höhepunkt der Sendung war nicht wie erwartet der Sieg eines der beiden Wrestler, sondern die Erniedrigung McMahons durch Donald Trump. Zusammen mit zwei anderen Wrestlern rasiert Trump den Kopf seines Kontrahenten, der wiederum winselt und schreit.

Erniedrigungspraktiken sind fester Bestandteil solcher Shows. Bei den Gewaltausbrüchen, Beschimpfungen und Schreien der Wrestler bekommt das Fernsehpublikum das Gefühl, unmittelbar dabei zu sein, und das Video erscheint als ungefiltertes Material. Die Zuschauerinnen und Zuschauer erleben ein Wechselbad der Gefühle, das für Reality-TV und vor allem für Wrestling-Events typisch ist. Hill spricht hier vom "kontrollierten Chaos", in dem die Zuschauer rasch zwischen Hass und Liebe hin und her springen.

Es steht außer Frage, dass solche Unterhaltungsformate zur Verrohung sowohl des Verhaltens als auch der Wahrnehmung des Publikums beitragen. Das Publikum gewöhnt sich an die physische Gewalt, selbst wenn diese nur gespielt ist, es genießt Erniedrigungsrituale und konsumiert die Verachtung der Schwachen als Quelle der Unterhaltung. In der Arena wird diese Verrohung sogar mit der aktiven Teilnahme der Zuschauer intensiviert. Hier kann das Publikum seine Aggressivität entladen, ohne schwerwiegende Konsequenzen zu befürchten. Zuschauer beschimpfen die Gegner, machen Drohgebärden und können sogar ins Kampfgeschehen eingreifen. Die Rolle der Mediatoren und Wrestler beschränkt sich nicht mehr darauf, die Kämpfer anzupreisen und den Kampf zu inszenieren, sie sollen ebenso die Zuschauer anfeuern.

Postmoderne Gladiatoren in der Politik

Trumps Auftritte bei Massenkundgebungen folgen diesem Schema. Er feuert seine Anhänger an, seine nicht anwesenden Kontrahenten zu beschimpfen und ihnen Buhrufe zu erteilen. Trumps Reden sind auf seine politischen Feinde fokussiert, die er beleidigt und bedroht. Sie sind Berlusconis Beschimpfungen von Intellektuellen und Linkspolitikern ähnlich, aber sie haben einen höheren Grad an Aggressivität und preisen Gewalt an. Während sich Berlusconi über linke Politikerinnen und Politiker lustig macht, weil sie nur Brot mit Mortadella essen und sich damit als arme Versager offenbaren würden, mobilisiert Trump in seinen Angriffen Gewaltfantasien: "Sperrt sie ein" wurde 2016 zum Hauptmotto in seinem Wahlkampf gegen Hillary Clinton. Selbst als Präsident bedient sich Trump dieser Technik und schreckt nicht davor zurück, die Aggression des Publikums auf anwesende Journalistinnen und Journalisten zu richten. Trumps Inszenierungen sind überzeichnet, aber gerade deswegen sind sie interessant: Hier lässt sich analysieren, wie sich die Gewalt und Verrohung der Gladiatorenarena auf die politische Kultur auswirken.

Auch in Deutschland kann man die Zunahme der verbalen und symbolischen Gewalt beobachten. Kein Wahlkampf in der Geschichte der Bundesrepublik wurde von so vielen Sachbeschädigungen und Gewaltandrohungen gegen Politiker begleitet wie der von 2017. Vor allem bei Pegida-Demonstrationen und AfD-Kundgebungen waren verbale Gewalt und Drohungen auffällig. Es kam sogar vor, dass Journalisten bedroht und physisch angegriffen wurden. Die Zunahme von gegen Merkel gerichteten Drohungen und Plakaten mit der Darstellung der Kanzlerin am Galgen sind weitere Beispiele. Das Problematische ist dabei offensichtlich nicht die Kritik an der Kanzlerin, sondern es sind die Gewaltmetaphern, Drohgebärden und Gewaltfantasien. In all diesen Beispielen mischen sich der Unterhaltungswert der Gladiatorenarena mit politischem Frust und Antipolitik. Die Bedeutung solcher Entladungen für die politische Kultur wächst, wenn man den Resonanzraum im Internet berücksichtigt, der angesichts der Anonymität beziehungsweise der Schutzräume in sozialen Medien entsteht.

Doch das Schema der Gladiatorenarena führt nicht nur zur Verrohung. Es ist auch Teil einer postmodernen Inszenierung. Die Welt wird in Oben und Unten aufgeteilt, Verlierer verdienen Erniedrigung und Gegner müssen mit Gewalt bekämpft werden. Es schafft zudem einen besonderen Umgang mit der Realität, der als postmodern beschrieben werden kann und in Realityshows zu finden ist. Reality-TV kann als eine Art "Realitätsfiktion" verstanden werden, sie konstituiert "einen paradoxen Gegenstand, dessen Realität man gleichzeitig betont und leugnet". Die schrillen Farben, die karikierten Superhelden, die Übertreibung, die die Wrestling- und Realityshows begleiten, sind Mittel der Parodie und Dekonstruktion und setzen eine doppelbödige Realität voraus. Hier sind nicht nur die Grenzen zwischen Politik und Unterhaltung, sondern auch zwischen Realität und Fiktion fließend. Man bewegt sich auf doppeltem Boden: Für Unterhaltung und politische Parodie kann es interessant und witzig sein, doch für politische Auseinandersetzungen ebenso problematisch, denn das Publikum weiß nie genau, ob es sich um politische Aussagen, um einen Scherz oder um Fiktion handelt.

Von einer solchen Situation zu "alternativen Fakten" ist es nur ein kleiner Schritt. Denn wenn es keine allgemein anerkannte Basis für die Unterscheidung zwischen politisch relevanten und irrelevanten Konflikten und Themen, zwischen Realität und Fiktion und zwischen Unterhaltung und Politik gibt, werden Relevanz und Darstellung der Fakten beliebig. Unzufriedenheit und politischer Frust können sich dann artikulieren, ohne dass sie sich rechtfertigen und mit anderen Positionen in Dialog treten müssen. Wo es keine allgemein anerkannte Realität gibt, gibt es auch keine gemeinsame Basis für den politischen Dialog. Das Konfliktpotenzial steigt. Daher ist die Verbindung von Verrohung und Realitätsverlust für die demokratische Kultur extrem gefährlich.

Allerdings muss man die Verantwortlichen für diese Entwicklung nicht nur in Unterhaltungsproduzenten und Politikern wie Trump suchen. Im Wettbewerb um höhere Einschaltquoten werden immer mehr politische Formate produziert, die den Unterhaltungswert in den Vordergrund stellen – etwa wenn sie Elemente der postmodernen Gladiatorenarena für den Umgang mit Politik übernehmen oder politische Aussagen und Ereignisse privilegieren, die besonders schrill, skandalisierend, emotional und wenig argumentativ sind. Solche Elemente werden von den Aufmerksamkeitsregeln der Massenmedien bevorzugt und garantieren hohe Zuschauerquoten. Je kommerzieller ein journalistisches Format, desto stärker treten Unterhaltungsaspekte in den Vordergrund.

Verdeutlichen lässt sich dies an einem Beispiel des jüngsten Bundestagswahlkampfs: In der Sat.1-Debatte mit den sogenannten kleinen Parteien schien es, als sollten die Kandidatinnen und Kandidaten ganz im Sinne der Gladiatorenarena als Personen demontiert werden. Alle Kandidaten wurden mit negativen Aussagen über ihre Beliebtheitsquoten oder über ihre Person konfrontiert. Einige dieser Aussagen gingen an die Grenze zur Beleidigung. Die Kandidaten hatten zu reagieren und sollten zeigen, dass sie doch keine "Loser" sind.

Der Moderator Claus Strunz verwendete hierzu die Mittel Erniedrigung und Provokation. Die Kandidatinnen und Kandidaten zeigten sich perplex – etwa als Strunz die Parteivorsitzende der Linken, Katja Kipping, fragte, ob sie den anwesenden Spitzenkandidaten der FDP, Christian Lindner, "scharf" fände. Die Frage produzierte eine doppelte Schamsituation: für Kipping, die den Gegenkandidaten im Hinblick auf seine sexuelle Attraktivität öffentlich beurteilen sollte, und für Lindner, dessen Körper zum Gegenstand der Begutachtung seiner Kontrahentin wurde. Das Testen der Schamgrenzen ist ein typischer Rekurs auf Realityshows wie "Big Brother" und Trumps "The Apprentice", in denen diese Art des Bloßstellens fester Bestandteil ist.

Wenn einmal ein solcher Rahmen gesetzt ist, fällt es den Interviewten oft schwer, in das politische Format zurückzufinden. Kipping kritisierte zunächst die sexistische Frage, ließ sich aber schließlich doch zu einer fatalen Antwort hinreißen: "Das Aussehen ist noch das, was ich am wenigsten zu kritisieren hab." Für das unterhaltende Format der Sendung wurde dies zur Steilvorlage, worauf der Moderator konterte: "Ah, Sie finden ihn also scharf, ja?". Worauf Kipping verzweifelt versuchte, das Thema zu beenden: "Können wir auch noch über Politik reden?"

Das TV-Kanzlerduell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz knüpfte, wenn auch deutlich schwächer, an die Logik der Gladiatorenarena an. So lautete etwa die erste Frage des RTL-Moderators Peter Kloeppel an Martin Schulz: "Woher kommt es, dass Ihnen so viele Bürger das Vertrauen nicht schenken wollen?" Welches Ziel verfolgte der Moderator mit dieser Frage? Kloeppel konfrontierte Schulz mit der Aussage "die Bürger vertrauen Ihnen nicht". Relevant ist nur Schulz’ Reaktion angesichts einer vermeintlichen Ablehnung seiner Person. Das Verlangen nach Erklärungen für die vermeintliche Ablehnung ist zugleich eine Aufforderung, sein eigenes Versagen zu kommentieren. Inwiefern Fragen wie diese zur politischen Urteilsbildung der Wählerinnen und Wähler beiträgt, ist fraglich. Was sie jedoch machen ist, den Kandidaten entweder als Sieger oder als "Loser" zu präsentieren – in Schulz’ Fall eben als "Loser". Eine solche Regie der politischen Befragung operiert mit Provokation und Erniedrigung und folgt damit der Logik der postmodernen Gladiatorenarena – wenn auch, im Vergleich zu Trumps Auftritten, in abgeschwächter Form.

Was bedeutet diese Art der Unterhaltung in Zeiten politischer Frustration und antipolitischen Potenzials, das nicht zuletzt die jüngste Bundestagswahl deutlich machte? Zur Beantwortung dieser Frage muss zunächst erläutert werden, wie "Antipolitik" operiert.

Antipolitik und politische Krisen

Antipolitik ist kein fester Begriff der Politikwissenschaft. Die Versuche, ihn zu prägen, sind vielfältig. Man kann Antipolitik als eine spezifische Haltung beschreiben, in der politische Repräsentantinnen und Repräsentanten, institutionelle Regeln und politische Institutionen sowie die Autorität des Staates grundsätzlich infrage gestellt werden. Antipolitik steht nicht nur für eine Kritik an der Regierung, sondern sie diskreditiert das gesamte politische System auf radikale Weise und delegitimiert zugleich den Staat.

Beobachter antipolitischer Entwicklungen wie der Politikwissenschaftler Alfio Mastropaolo haben festgestellt, dass innerhalb antipolitischer Diskurse nicht nur die Fehler des Staates angesprochen und kritisiert werden, sondern der Staat generell für ohnmächtig erklärt wird. Mastropaolo begleitet den Zerfallsprozess der italienischen Politik und ihrer Institutionen seit der Krise der 1990er Jahre, als die Volksparteien von Korruptions- und Mafia-Skandalen erschüttert wurden. Er bemerkte, dass mit den Skandalen auch die Anzahl antipolitischer Diskurse zunahm. Damit verbunden waren zwei Entwicklungen, die die politische Kultur betrafen: Einerseits schlug berechtigte Kritik in pauschale Diffamierung des politischen Systems um, andererseits erfuhren die Anklagen an die korrupte Regierung eine besondere Dramatisierung.

Der politische Einsatz von Empörung und Wut kann zwar durchaus produktiv für die Demokratie sein, aber Mastropaolo musste im Fall Italiens etwas anderes feststellen: Zwischen 1992 und 1994 verselbstständigte sich die Kritik und wurde destruktiv. In einer solchen Verselbstständigung verliert die Empörung ihre produktive Kraft, und die Wut zementiert die politische Krise. Das Problem liegt darin, dass Antipolitik über das Ziel hinausschießt und zur pauschalen Ablehnung von Staat, demokratischen Prozeduren, Regeln und Formen der Auseinandersetzung wird. Was danach folgte, war der Aufstieg von Silvio Berlusconi und anschließend die technokratische, nichtgewählte Regierung von Mario Monti.

Der Politikwissenschaftler Andreas Schedler stellt Kriterien auf, anhand derer Antipolitik erkannt werden kann: Antipolitik richtet sich immer gegen eine anerkannte Instanz, die allgemein bindende Entscheidungen für alle Bürgerinnen und Bürger treffen kann. Dabei wird die öffentlich-politische Sphäre nicht als Ort der Pluralität, der politischen Auseinandersetzung und der gemeinsamen Lösungsfindung anerkannt, sondern Politik grundsätzlich als überflüssig und sogar als schädlich gesehen.

Schedler hat eine funktionalistische Sichtweise auf Politik: Politik definiert, was die Probleme und Konflikte der Gesellschaft sind, arbeitet allgemein bindende Entscheidungen heraus und etabliert eigene Regeln. Politik definiert auch das Feld, das für alle als relevant gilt, und entscheidet darüber, was reguliert werden muss und was nicht. Dafür etablieren die politischen Institutionen auch die Prinzipien der Regulierung. Zugleich kann Politik aber nur existieren, wenn sie die Gesellschaft als plural anerkennt. Damit werden die Konflikte innerhalb der Gesellschaft und die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Positionen anerkannt. "Gemeinschaften ohne Konflikt brauchen kein politisches Handeln", so Schedler. Daraus ergeben sich drei zu erfüllende Bedingungen: Den Mitgliedern einer Gesellschaft muss erstens bewusst sein, dass sie sowohl unterschiedlich als auch aufeinander angewiesen sind. Erst dann kann zweitens eine Auseinandersetzung um allgemeine Prinzipien, Interessen und bindende Entscheidungen stattfinden. Die Anerkennung einer Instanz und Autorität, die diese Entscheidungen treffen und durchsetzen kann, ist die dritte Bedingung. Antipolitik findet bereits dann statt, wenn nur eine dieser drei Grundvoraussetzungen nicht erfüllt ist.

Sowohl Monti als auch Berlusconi können als Antipolitiker bezeichnet werden, auch wenn sie Antipolitik unterschiedlich artikulieren. Technokratische Regierungen wie die Montis vernachlässigen die Konflikte der Gesellschaft und lassen wenig Raum für öffentliche Auseinandersetzungen um Problemlösungen und Entscheidungsfindungen. Sie sind antipolitisch in dem Sinne, dass sie politische Entscheidungsfindungen oder Verteilungskonflikte innerhalb der Gesellschaft ignorieren beziehungsweise sie auf technische Fragen reduzieren. Das TINA-Prinzip ("There is no alternative") kann als antipolitisch schlechthin gesehen werden.

Berlusconis Antipolitik dagegen ist antiinstitutionell und lehnt eine Instanz ab, die bindende Entscheidungen treffen kann. Doch wie die technokratische Variante verdrängt sie auch die Herstellung einer gemeinsamen Sphäre für politische Auseinandersetzungen. Zusätzlich verschiebt sie die politischen Konflikte auf das Feld persönlicher Präferenzen. Berlusconis Antipolitik tritt zusammen mit einem populistischen Kommunikationsstil auf, ohne jedoch auf die typische populistische Forderung nach der Macht des Volkes einzugehen. Berlusconis Antipolitik unterscheidet sich von der Montis vor allem durch die oben angesprochene doppelbödige Realität, die wir von Realityshows kennen: Man weiß nie, ob Berlusconi ernsthaft meint, was er sagt, oder ob er scherzt.

Bei Monti und Berlusconi war Antipolitik sowohl Symptom als auch Faktor der politischen Krise. Auch in den USA ist mit Trump Antipolitik in Verbindung mit politischem Frust aufgetreten. Antipolitik kann sich immer dann ausbreiten, wenn eine tiefe politische Krise herrscht, die die demokratische Repräsentation insgesamt erfasst, also wenn sie auch die politische Kommunikation, die Beziehung zwischen Repräsentanten und Bürgern und die politischen Institutionen erreicht. In dieser Situation hat Antipolitik einen zerstörerischen Effekt auf politische Institutionen, auf die öffentliche politische Auseinandersetzung um die Gesellschaft, ihre Pluralität und Konflikte.

Schluss

In Zeiten einer identitären Verschließung der politischen Kultur, wie es in den USA und Europa zu beobachten ist, kann sich Antipolitik als Verbannung jeglicher Pluralität artikulieren und das Bild einer homogenen Gesellschaft zum politischen Projekt machen. Für Schedler sind solche homogenen Gesellschaftsvorstellungen präpolitisch. Sie erkennen keine Konflikte und keine Diversität an. Dementsprechend ist auch keine politische Sphäre vorgesehen, in der unterschiedliche Standpunkte verhandelt werden können. Folgt man Schedlers Prämissen der Politik als negative Kriterien für Antipolitik, erweisen sich homogene Gesellschaftsvorstellungen als zutiefst antipolitisch, denn sie richten sich gegen drei der demokratischen Prämissen: Diversität, eine differenzierte Auseinandersetzung mit Konflikten und eine offene politische Sphäre, in der diese Konflikte artikuliert werden können. Antipolitische Kritik ist eine destruktive Kritik am Staat.

Noch problematischer für die demokratische Kultur sind solche Verschließungen der Gesellschaft, wenn sie der Dramaturgie und Logik der postmodernen Gladiatorenarena folgen – Trumps Tweets und Kundgebungen zeigen dies deutlich. Politische Veranstaltungen werden dann zu Orten der Gefühlsentladung. Konflikte werden wie im Wrestling-Ring mit Gewalt oder zumindest der Simulation von Gewalt gelöst. Dies ist auch in Frankreich bei Kundgebungen des Front National üblich, wenn etwa die Anhänger von Marine Le Pen "on est chez nous" (wir sind zuhause) skandieren. Die selbstgebastelten Galgen für Merkel, die Koranverbrennung durch AfD-Anhänger, die Aktionen der Identitären Bewegung und die Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten bei Pegida-Demos sind hierfür weitere Beispiele. Werden zudem die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischt, fällt es schwer, diese Bewegungen auf einen Prüfstein politischer Auseinandersetzungen zu stellen. Wahrheit wird anhand von "alternativen Fakten" ausgewählt. Man verweigert sich nicht nur dem politischen Dialog mit seinen Kontrahenten, sondern sogar der gemeinsamen Realität.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Paula Diehl, Zwischen dem Privaten und dem Politischen. Die neue Körperinszenierung der Politiker, in: Sandra Seubert/Peter Niesen (Hrsg.), Die Grenzen des Privaten, Baden-Baden 2010, S. 251–265.

  2. Annette Hill, Spectacle of Excess. The Passion Work of Professional Wrestlers, Fans and Anti-Fans, in: European Journal of Cultural Studies 2/2015, S. 174–189, hier S. 180f.

  3. Ebd. S. 182.

  4. Elena Esposito, Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Frankfurt/M. 2007, S. 75.

  5. Vgl. Paula Diehl, Dekonstruktion als Inszenierungsmethode – von Berlusconi bis zu den Grünen; in: Andreas Dörner/Christian Schicha (Hrsg.), Politik im Spot-Format. Zur Semantik, Pragmatik und Ästhetik politischer Werbung in Deutschland, Wiesbaden 2008, S. 313–335.

  6. Zit. nach Josh Groeneveld, Sat.1 fragt Kipping, ob sie Lindner scharf findet – die Antwort muss Deutschland Sorgen machen, 31.8.2017, Externer Link: http://www.huffingtonpost.de/2017/08/31/kipping-lindner-sat1-wahl2017_n_17874352.html.

  7. Zit. nach Merkel gegen Schulz. "Jenseits von richtig oder falsch" – die wichtigsten Momente des Duells, 4.9.2017, Externer Link: http://www.faz.net/aktuell/politik/-15182298.html.

  8. Siehe Alfio Mastropaolo, Antipolitica: all’origine della crisi italiana, Neapel 2000, S. 36.

  9. Siehe Paula Diehl, Über Emotion, Affekt und Affizierung in der Politik, in: Felix Heidenreich/Gary S. Schaal (Hrsg.), Politische Theorie und Emotionen, Baden-Baden 2012, S. 155–176, hier S. 158ff.

  10. Vgl. Mastropaolo (Anm. 8), S. 129.

  11. Vgl. Andreas Schedler, Introduction; Antipolitics – Closing and Colonizing the Public Sphere, in: ders. (Hrsg.), The End of Politics? Explorations into Modern Antipolitics, London 1997, S. 1–20.

  12. Ebd., S. 6.

  13. Vgl. ebd. S. 3.

  14. Vgl. Paula Diehl, Populismus, Antipolitik, Politainment. Eine Auseinandersetzung mit neuen Tendenzen der politischen Kommunikation, in: Berliner Debatte Initial 22/2011, S. 27–39.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Paula Diehl für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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lehrt "Theorie, Geschichte und Kultur des Politischen" an der Universität Bielefeld und ist Leiterin des Forschungsprojekts "Das Imaginäre und die Politik in der modernen Demokratie". E-Mail Link: paula.diehl@uni-bielefeld.de