Einleitung
Seit dem Anfang der siebziger Jahre hat es keine repräsentative, international vergleichende empirische Untersuchung zur politischen Bildung von Jugendlichen mehr gegeben. 1975 wurde die erste Studie der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) zur politischen Bildung von Jugendlichen publiziert.
Die Studie basiert auf repräsentativen Befragungen von Jugendlichen in zehn westlichen Industrienationen. Die veränderte weltpolitische Situation der neunziger Jahre nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation, aber auch Entwicklungen der letzten Jahrzehnte - wie das gewachsene Umweltbewusstsein, die Forderungen der Frauenbewegung und anderer sozialer Bewegungen nach Gleichberechtigung, die Renaissance des wirtschaftlichen Liberalismus, zunehmende ethnische Konflikte usw. - legen eine neue, Länder übergreifende Untersuchung zur politischen Bildung von Jugendlichen nahe. Auf Initiative von Judith Torney-Purta hat die IEA 1994 eine zweite Untersuchung zur politischen Bildung von Jugendlichen begonnen. Das Civic-Education-Projekt des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung ist seit 1996 Teil dieser internationalen Studie.
I. Zum Ansatz des IEA-Projektes
Welches Verständnis von politischer Bildung wur-de der Untersuchung zugrunde gelegt? Welches sind die allgemeinen Unterrichtsziele politischer Bildung, welche Lernziele sollen erreicht und welche Lerninhalte vermittelt werden? Im Bereich der politischen Bildung gibt es sowohl für Ziele und Inhalte als auch für die Vermittlungsmethoden sehr unterschiedliche Ansätze. Die Ausgangslage für wissenschaftliche Untersuchungen ist insofern anders als bei Studien zu mathematischen oder zu naturwissenschaftlichen Kompetenzen. Was mathematische oder naturwissenschaftliche Kenntnisse oder Kompetenzen sind, definiert sich aus dem Wissensstand der jeweiligen Fachdisziplinen; im Bereich der politischen Bildung spielen dagegen bei den Zielbestimmungen Werte sowie nationale Traditionen und aktuelle Probleme eine entscheidende Rolle.
Unter politischer Bildung kann im engeren Sinne Institutionenkunde verstanden werden, also der Erwerb von Kenntnissen zur jeweiligen Verfassung und zu den grundsätzlichen Regelungen des politischen Zusammenlebens der nationalen Gemeinschaft. Es kann unter politischer Bildung aber auch der Erwerb von Kompetenzen verstanden werden, die zu einem demokratischen Handeln befähigen. In letzterem und weiterem Sinne schließt politische Bildung dann auch soziales Lernen und politische Sozialisation ein.
Für ein international vergleichendes Projekt bedeutet dies, dass zunächst eine Verständigung darüber stattfinden muss, über welches Potenzial an politischem Wissen, an Einstellungen, Handlungsbereitschaften und demokratischen Kompetenzen Jugendliche einer bestimmten Altersgruppe verfügen sollten. Erst auf der Grundlage von Kompromissen über den "größten gemeinsamen Nenner" können dann gemeinsame Fragestellungen und Messinstrumente entwickelt werden. Aus diesem Grund wurde das Projekt in zwei Phasen organisiert: Vor Durchführung der internationalen Fragebogenuntersuchung in der zweiten Phase hat es eine erste Phase gegeben, in der eine Verständigung über Ziele politischer Bildung sowie ihre Traditionen und Bedingungen in den beteiligten Ländern stattfand.
In dieser ersten Phase (von 1994 bis 1997) wurden Analysen der Situation der politischen Bildung in allen teilnehmenden Ländern erarbeitet und in Form von nationalen Fallstudien veröffentlicht.
In der zweiten Phase des Projekts (1997 beginnend) wurden in 28 an der Untersuchung teilnehmenden Ländern in repräsentativen Erhebungen knapp 95 000 Jugendliche der Altersgruppe 14 bis 15 Jahre befragt (in Deutschland knapp 4 000). Die Untersuchung fand 1999 statt, in den meisten Ländern im Frühjahr. Für die Konstruktion des Fragebogens wurden drei Schwerpunktthemen ausgewählt: Demokratie, Nation und Umgang mit Minderheiten. Erfasst werden diese Themen auf den Ebenen des politischen Wissens, der politischen Einstellungen und der politischen Handlungsbereitschaft.
Ein solches Vorgehen erlaubt nicht, aus einem theoretischen Kontext abgeleitete Fragen zu überprüfen; es hat aber den entschiedenen Vorteil, dass das, was im Fragebogen erfragt wird, in allen an der Untersuchung beteiligten Ländern relevant erscheint. Durch ein konsensuelles Vorgehen wird überhaupt erst die Validität einer international vergleichenden Untersuchung zur politischen Bildung gewährleistet.
II. Untersuchungspopulation und Erhebung
Ziel der internationalen Studie war es, das politische Wissen, politische Einstellungen und politische Handlungsbereitschaft von Schülern und Schülerinnen am Ende ihrer Schulzeit zu untersuchen. Da die Schulpflicht in den teilnehmenden Ländern aber unterschiedlich lang ist (in einigen Ländern nur acht Jahre), einigte man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner und entschied, Jugendliche in derjenigen Schulstufe zu befragen, in der sich zum Untersuchungszeitpunkt (Frühjahr 1999) der überwiegende Anteil der 14-Jährigen befand. In Deutschland und in den meisten anderen Ländern sind dies die 8. Klassen.
In die deutsche Stichprobe der Untersuchung wurden insgesamt 227 Schulen aufgenommen. Drei Bundesländer haben die Genehmigung der Untersuchung abgelehnt (Niedersachsen, Bremen und Hessen) und ein Bundesland hat die Untersuchung nur für die Haupt- und Realschulen zugelassen (Baden-Württemberg). Die Ablehnungen einiger Bundesländer beruhten weitgehend auf dem Vorwurf einer mangelnden curricularen Validität des internationalen Wissenstests. Es wurde erwartet, dass im Wissenstest der Untersuchung das Curriculum deutscher Bundesländer abgebildet würde. Wie schon dargelegt, kann dies im Rahmen einer internationalen Untersuchung notwendigerweise nicht gewährleistet sein. Dadurch reduzierte sich die Ausgangsstichprobe auf 184 Schulen mit ca. 4 500 Jugendlichen. Von diesen haben 3 783 den Fragebogen beantwortet. Nach Datenbereinigungsprozessen bleiben für die Analysen 3 700 Jugendliche. Das sind immerhin 82 Prozent der gezogenen Stichprobe.
Die folgende Darstellung von Ergebnissen hat als Schwerpunkt die politische Handlungsbereitschaft der deutschen Jugendlichen im internationalen Vergleich. Eine weitergehende differenzierende Analyse der deutschen Daten (Aufschlüsselung nach Geschlecht, Ost-West-Vergleich und Schulform) wird in der Anfang 2002 erscheinenden Darstellung der deutschen Ergebnisse des Civic Education-Projektes publiziert.
III. Die Bereitschaft zur politischen Beteiligung von deutschen Jugend- lichen im internationalen Vergleich
Der Begriff der politischen Handlungsbereitschaft hat in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Wandlung erfahren. Während in den fünfziger und sechziger Jahren darunter vor allem eine Beteiligung an parlamentarisch-demokratischen Entscheidungsprozessen verstanden wurde mit den Schwerpunkten Wahlbereitschaft und Bereitschaft zur Mitarbeit in politischen Parteien,
Konventionelle politische Beteiligung schließt die Elemente einer Erfüllung demokratischer Pflichten (z. B. wählen gehen) und aktiver politischer Beteiligung (z. B. in eine Partei eintreten) ein. Unkonventionelle Beteiligungsformen lassen sich unterscheiden in legale Formen - wozu soziale politische Aktivitäten und friedliches Protestverhalten gehören - und illegale Formen, wie Regelverstöße oder strafrechtlich relevantes Verhalten.
In allen 28 an der Untersuchung beteiligten Ländern wird die Erziehung zu einem demokratischen politischen Handeln als ein wichtiger Beitrag zur politischen Bildung angesehen, wenn auch die Verteilung der Schwerpunkte auf die Kernbereiche politischer Bildung - nämlich politisches Wissen, politische Einstellungen, demokratische Kompetenzen und politische Handlungsbereitschaft - unterschiedlich ist. In Deutschland wird in den Rahmenrichtlinien und Lehrplänen der einzelnen Bundesländer besonders die Bereitschaft zum sozial verantwortlichen demokratischen Handeln betont.
Beteiligung am politischen Leben
Zum politischen Verhalten wurden in der Untersuchung insgesamt zwölf Fragen gestellt. Diese Fragen sind in ähnlicher Form in vielen Untersuchungen national wie international formuliert worden. Sie umfassen Fragen zu fünf Themenkomplexen:
- konventionelles politisches Verhalten, wie wählen gehen oder sich vor der Wahl über Kandidaten informieren;
- konventionell aktives politisches Verhalten, wie in eine politische Partei eintreten, sich wählen lassen, an Zeitungen Briefe über soziale und politische Probleme schreiben;
- sozial engagiertes Verhalten, wie Geld für einen guten Zweck sammeln oder armen und älteren Menschen helfen;
- legales Protestverhalten, wie an einer friedlichen Protestdemonstration teilnehmen oder Unterschriften für einen Offenen Brief sammeln, und
- illegales Protestverhalten, wie aus Protest öffentliche Gebäude besetzen oder den Verkehr blockieren.
Es stellt sich die Frage, in welchem Maße Fragen zu sozial engagiertem politischen Verhalten tatsächlich politisches Verhalten und nicht nur soziales Verhalten ansprechen. Geld für einen guten Zweck zu sammeln oder Zeit aufzuwenden, um armen und älteren Menschen zu helfen, können als rein soziale Aktivitäten ohne politischen Hintergrund verstanden werden. Wie man diese Fragen einordnen will, hängt von dem jeweiligen Verständnis von politischem Handeln ab, insbesondere davon, was politisches Handeln für 14- bis 15-Jährige bedeutet. Festzuhalten ist, dass die angesprochenen sozialen Aktivitäten für Jugendliche diesen Alters einen höheren Realitätsbezug haben als die Fragen zu den politischen Aktivitäten im engeren Sinne: 14- bis 15-Jährige können Geld für einen guten Zweck sammeln, während sie weder wählen gehen noch für ein politisches Amt kandidieren können.
Die Frage nach dem politischen Charakter von sozialem Handeln berührt ein grundsätzliches Problem: Können 14- bis 15-Jährige überhaupt schon politisch handeln? Und wenn ja: Wie könnte die Form einer politischen Beteiligung von Jugendlichen dieser Altersgruppe aussehen? Wenn man Politik der Erwachsenenwelt zurechnet, dann ist Politik für Jugendliche dieser Altersgruppe ganz überwiegend eher etwas Abstraktes, für sie noch in der Zukunft Liegendes. Natürlich ist Politik ein Lebensbereich der Erwachsenenwelt, und bei politischer Bildung soll es ja gerade um die Vorbereitung des Eintritts der Jugendlichen in diese Erwachsenenwelt gehen. Gleichwohl scheint es sinnvoll, den Begriff der politischen Bildung bei Kindern und Jugendlichen offen zu halten für Vorformen politischen Handelns. Im Rahmen des breiten Verständnisses politischen Handelns, wie es z. B. Max Kaase
Die Antworten der Jugendlichen in der Grafik 1 zeigen, dass die Bereitschaft zu sozial engagiertem Handeln allgemein groß, die Bereitschaft zu illegalem politischen Handeln hingegen gering und schließlich die zu konventionellem Handeln äußerst unterschiedlich ist - je nachdem, ob es um aktive Mitarbeit geht oder eher um eine passive Beteiligung.
Im Bereich des konventionellen politischen Handelns zeigt sich eine klare Zweiteilung in der Bereitschaft zu politischem Engagement: Die Bereitschaft zur Erfüllung demokratischer Pflichten, wie zu Wahlen zu gehen oder sich vor der Wahl über Kandidaten zu informieren, ist deutlich größer als eine aktive konventionelle politische Beteiligung, wie in eine Partei einzutreten oder für ein politisches Amt zu kandidieren.
Im Folgenden werden diese Ergebnisse länderspezifisch differenzierter analysiert, wobei wir die 28 Länder in Gruppen zusammengefasst haben. Diese Analysen dienen einer Einordnung der politischen Handlungsbereitschaft von Jugendlichen in Deutschland; wir wollen und können hier nicht politische Handlungsbereitschaft in den anderen an der Untersuchung beteiligten Ländern analysieren.
Die Kriterien, nach denen wir die Länder in Gruppen zusammengefasst haben, stützen sich auf jeweils gemeinsame Merkmale der Länder, wie geographische Lage, kulturelle Tradition, ökonomischer Wohlstand und allgemeine politische Situation. Wir haben unterschieden zwischen
1. reichen Industrieländern (Deutschland, Schweiz, USA, Australien, England, Schweden, Dänemark, Norwegen, Belgien [französischsprachiger Teil], Italien);
2. ehemals sozialistischen Ländern (Russland, Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Polen, Estland, Litauen, Lettland, Ungarn, Rumänien, Bulgarien);
3. ärmeren Ländern in Südeuropa und Südamerika mit starken sozialen Bewegungen (Zypern, Griechenland, Portugal, Kolumbien, Chile).
In den Tabellen 1, 2 und 3 werden neben den Werten für diese drei Gruppen zudem die Werte für die deutschen Jugendlichen getrennt ausgewiesen. Außerdem werden weitere einzelne Länder aufgeführt, wenn sie sich deutlich unterscheiden und für die Interpretation der Daten wichtige Zusatzinformationen bieten.
Der internationale Vergleich zeigt, dass die deutschen Jugendlichen weniger als der Durchschnitt der Jugendlichen in anderen Ländern zu konventioneller politischer Beteiligung bereit sind (siehe hierzu Tabelle 1). Dies gilt vor allem für die Wahlbereitschaft, die Bereitschaft, in eine politische Partei einzutreten, und die Bereitschaft, sich wählen zu lassen. Durchschnittliche Werte haben die deutschen Jugendlichen dagegen bezüglich ihrer Bereitschaft, sich vor einer Wahl über die Kandidaten zu informieren.
Die Bereitschaft zu einer konventionellen aktiven Beteiligung ist ungefähr gleich groß bzw. gering wie die zu illegalem politischen Verhalten.
Deutsche Jugendliche liegen bezüglich der Bereitschaft zu einem illegalen politischen Protest im Durchschnitt der reichen Industrieländer (siehe hierzu Tabelle 2). In den ärmeren Ländern Südeuropas und Südamerikas ist diese Bereitschaft dagegen sehr viel stärker ausgeprägt. So bejahen z. B. in Griechenland 30 Prozent eine Bereitschaft, Protestparolen zu sprühen, 42 Prozent erklären sich zu Sitzblockaden bereit und 41 Prozent zur Besetzung öffentlicher Gebäude.
Besonders gering ist die Bereitschaft zu illegalem politischen Protestverhalten in den ehemals sozialistischen Länder. So bejahen in Ungarn nur 10 Prozent eine Bereitschaft, Protestparolen zu sprühen, 9 Prozent erklären sich zu Sitzblockaden bereit und 7 Prozent zur Besetzung öffentlicher Gebäude.
Bei diesen teilweise beträchtlichen Unterschieden spielen offensichtlich unterschiedliche Traditionen von politischem Protest eine Rolle. Südeuropäische und lateinamerikanische Länder haben in stärkerem Maße revolutionäre Traditionen oder zumindest stärkere Protestbewegungen als die reichen Industrieländer. Außerdem wird die Strafbarkeit illegalen Protestverhaltens in verschiedenen Ländern unterschiedlich eingeschätzt.
Dass Jugendliche in den ehemals sozialistischen Ländern illegalen Formen politischen Verhaltens besonders ablehnend gegenüberstehen, mag angesichts der Tatsache, dass in diesen Ländern erst in jüngster Zeit massive gesellschaftliche Veränderungen stattgefunden haben, verwundern. Des Weiteren sind die Menschen in den ehemals sozialistischen Ländern alle mit schweren ökonomischen und sozialen Problemen konfrontiert, die politische Proteste eigentlich nahe liegend erscheinen lassen. Andererseits gibt es in all diesen Ländern aber eine mindestens zwei Generationen alte starke obrigkeitsstaatliche Tradition, die gesellschaftlichen Protest tabuisiert hat. Möglicherweise ist die Lösung aus solchen Traditionen ein langfristiger Prozess, der in den knapp zehn Jahren, die seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime vergangen sind, noch kaum stattgefunden hat.
Weitere Themenkomplexe zur politischen Handlungsbereitschaft sind Fragen zu friedlichem gesellschaftlichen Protest und zu sozialen politischen Aktivitäten. Verglichen mit der konventionellen aktiven Bereitschaft zu politischem Handeln und der Bereitschaft zu illegalen Handlungen erhalten diese Handlungsbereiche eine sehr viel größere Zustimmung. Die Zustimmung ist ungefähr dreimal so hoch wie die Bereitschaft zu konventioneller aktiver politischer Beteiligung oder die zu illegaler Beteiligung.
Was die Beteiligung an friedlichen Protestdemonstrationen oder Kundgebungen betrifft, ist die Streuung international besonders groß (siehe hierzu Tabelle 3). Während zu solcher Beteiligung nur 28 Prozent der englischen oder 21 Prozent der finnischen Jugendlichen bereit sind, sind die Zustimmungswerte in südeuropäischen Ländern deutlich größer (Griechenland 78 Prozent, Kolumbien 66 Prozent und Zypern sogar 86 Prozent). Deutschland liegt hier mit 38 Prozent Zustimmung im unteren Mittelfeld, zusammen mit Ländern wie der Schweiz (40 Prozent) oder den USA (39 Prozent). Offensichtlich gibt es in Südeuropa und Lateinamerika eine viel stärkere Protestkultur, die auch die Grenzüberschreitung zum illegalen Protest einschließt.
Sehr große Unterschiede zwischen den Ländern gibt es bezüglich der Bereitschaft, soziale Verantwortung für Mitbürger zu übernehmen (siehe hierzu ebenfalls Tabelle 3). In südeuropäischen und lateinamerikanischen Ländern ist die Bereitschaft, Geld für einen guten Zweck zu sammeln, deutlich ausgeprägter als in Deutschland oder anderen reichen Ländern. Ganz ähnlich sind die Ergebnisse bezüglich der Bereitschaft, Zeit aufzuwenden, um armen und älteren Menschen zu helfen. In Deutschland oder anderen reichen Ländern ist die Bereitschaft zu solcher Nachbarschaftshilfe bei den Jugendlichen unterdurchschnittlich. Hier gibt es allerdings deutliche Geschlechterdifferenzen. Mädchen in Deutschland sind sozial sehr viel engagierter. Die Differenzen liegen zwischen 17 und 20 Prozentpunkten. Im Rahmen dieses Aufsatzes kann auf diese Unterschiede nicht näher eingegangen werden.
Die Gründe, warum in den ärmeren südeuropäischen und lateinamerikanischen Ländern soziale Verantwortung von den Jugendlichen offensichtlich sehr viel ernster genommen wird, könnten mit der katholischen Tradition dieser Länder zusammenhängen, der sehr viel größeren Präsenz von Armut und Hilfsbedürftigkeit im Lebensalltag oder auch der Tradition wechselseitiger Hilfe in bäuerlichen und in Großfamilien. In Ländern mit starker wohlfahrtsstaatlicher Tradition - wie z. B. Schweden - werden solche sozialen Aufgaben traditionell vom Staat erwartet und auch übernommen.
Jugendliche in den ehemals sozialistischen Ländern zeigen sich ebenfalls vergleichsweise wenig sozial engagiert. Ihre Bereitschaft zu sozialer Hilfe entspricht in etwa der der reichen Industrieländer. Obwohl in ehemals sozialistischen Ländern die Armut von Menschen im Alltagsleben sehr viel präsenter ist als in den reichen Industrieländern, mag auch hier die wohlfahrtsstaatliche Tradition des Sozialismus, die die Regelung sozialer Belange dem Staat auferlegt, eine Rolle spielen.
Gering ist in den sozialistischen Ländern auch die Bereitschaft zu legalem Protest. Dies stützt die schon geäußerte Annahme, dass aufgrund der obrigkeitsstaatlichen Tradition dieser Länder sich keine Protestkultur entwickelt hat - sei sie nun legal oder, wie wir bereits diskutiert haben, illegal.
Auch wenn der Vergleich mit südeuropäischen und lateinamerikanischen Ländern bezüglich sozialer Verantwortung ein relativ geringeres Engagement der deutschen Jugendlichen zeigt, muss dennoch festgehalten werden, dass bei den deutschen Jugendlichen soziales Engagement von allen im Fragebogen genannten politischen Beteiligungsformen eindeutig die größte Zustimmung findet. Immerhin sind über die Hälfte der Befragten zu einem solchen Engagement bereit.
Demokratische Beteiligung in der Schule
Demokratie wird in der Schule nicht nur in einem spezifischen Fach gelernt, sondern erstens fächerübergreifend in allen Fächern, in denen politisch relevante Themen zur Sprache kommen können, und zweitens durch die Art der Interaktionsstrukturen, die demokratisches Handeln und den Erwerb demokratischer Kompetenzen ermöglichen sollen. Zentral für ein Erlernen demokratischer Kompetenzen und Handlungsbereitschaft ist eine Beteiligung von Schülern und Schülerinnen an Gremien und Konferenzen in der Schule. Dies meint einerseits die Schülermitbestimmung in Gremien, aber auch Mitbestimmung im Unterricht, in Arbeitsgruppen und Projekten oder soziales Engagement im Schulalltag.
Insgesamt sieben Fragen wurden zur demokratischen Beteiligung in der Schule gestellt. Sie gliedern sich in zwei Themenbereiche: Einstellung zum Stellenwert demokratischer Partizipation in der Schule und individuelle Bereitschaft, zur Konfliktlösung in der Schule beizutragen.
Die Bereitschaft zu einer demokratischen Beteiligung in der Schule ist allgemein hoch (vgl. Grafik 2). Auch deutsche Jugendliche sprechen sich klar für eine demokratische Partizipation in der Schule aus; ihre Zustimmung ist jedoch im Durchschnitt niedriger als die der Jugendlichen anderer Länder.
Der Gegensatz zwischen reichen und armen Ländern, der bei der allgemeinen politischen Beteiligungsbereitschaft deutlich geworden ist, zeigt sich ebenfalls bezüglich der individuellen Bereitschaft, zur Konfliktlösung in der Schule beizutragen. Weniger deutlich fällt er bezüglich der Einschätzung der Möglichkeiten der Schülerbeteiligung an schulischen Entscheidungsprozessen aus.
Die deutschen Jugendlichen äußern insgesamt die niedrigste Beteiligungsbereitschaft in der Schule, sowohl zur Mitarbeit in Gremien als auch zu individuellem Engagement. Diese Aussage gilt auch im Vergleich zu anderen reichen Industrieländern (siehe hierzu Tabelle 4). Insofern unterscheiden sich die Ergebnisse zur Partizipationsbereitschaft in der Schule von denen zur allgemeinen politischen Partizipationsbereitschaft. Während sich bei der allgemeinen politischen Partizipationsbereitschaft vor allem ein Gegensatz zwischen den reichen und den ärmeren Ländern zeigt, stehen die deutschen Jugendlichen bezüglich ihrer vergleichsweise geringen Bereitschaft zu schulischer Partizipation weitgehend allein, auch im Kreis der reichen Länder.
Mitarbeit in Gruppen
14- bis 15-jährige Jugendliche arbeiten in der Regel noch nicht in politischen Organisationen mit. Dennoch gibt es viele Gruppen, in denen sie Mitglieder sind, so Sportvereine oder künstlerisch orientierte Gruppen. Auch in der Schule gibt es Möglichkeiten zur Mitarbeit in Gruppen - wie Schülervertretungen, Schülerparlamente, Schülerzeitungen, Schulclubs oder Arbeitsgemeinschaften.
Im Fragebogen wurde die Mitarbeit in insgesamt 15 verschiedenen Gruppen erfragt.
Die Ergebnisse zeigen, dass Jugendliche am häufigsten in Sportvereinen und künstlerisch orientierten Gruppen tätig sind. Die Mitarbeit in politisch orientierten Gruppen, aber auch in Gruppen im Rahmen der schulischen Mitbestimmung, ist dagegen deutlich geringer (vgl. Grafik 3).
Deutsche Jugendliche arbeiten im Vergleich zu Jugendlichen anderer Länder seltener in Gruppen mit, deren Arbeit als im weiteren Sinne als politisch angesehen werden kann. Dies gilt weniger für die Mitarbeit in den politischen Jugendorganisationen von Parteien oder Gewerkschaften, bei denen die Mitarbeit auch in anderen Ländern altersbedingt nur sehr gering ist, als vielmehr für Schülerparlamente und humanitäre oder umweltschutzorientierte Organisationen. Freizeitorientierte Aktivitäten wie die Teilnahme an Sportvereinen oder an künstlerisch orientierten Gruppen sind dagegen bei den deutschen Jugendlichen überproportional häufig anzutreffen.
Tabelle 5 verdeutlicht, dass es wiederum die Jugendlichen in den ärmeren südeuropäischen und lateinamerikanischen Ländern sind, die hier deutlich mehr mitarbeiten. Dies gilt auch für die Mitarbeit in Umweltorganisationen, die nach allgemeiner Auffassung gerade in Deutschland besonderes Interesse finden.
IV. Fazit
Im internationalen Vergleich findet sich bei deutschen Jugendlichen ein unterdurchschnittliches politisches Engagement. Sie zeigen sich auch weniger an der schulischen Mitbestimmung interessiert und nehmen weniger an politisch und sozial orientierten Gruppen außerhalb der Schule teil.
Insgesamt zeigt die vergleichende Studie einen Gegensatz zwischen den reichen Industrieländern und den ärmeren Ländern Südeuropas und Südamerikas. Südeuropäische und südamerikanische Jugendliche sind politisch sehr viel aktiver - mit dem Schwerpunkt auf sozialen politischen Aktivitäten. Diese Ergebnisse widersprechen der Annahme, dass Reichtum, weil er von den Zwängen des materiell Notwendigen befreit, zu größerem sozialem Engagement und zu mehr Humanität führen würde.
Auch im Vergleich zu anderen reichen Industrieländern haben die deutschen Jugendlichen durchschnittlich eine geringere politische Beteiligungs- und Mitbestimmungsbereitschaft sowie ein geringeres sozialpolitisches Engagement. Was sind die Gründe dafür? Will man der deutschen Gesellschaft nicht allgemein ein geringeres politisches Engagement unterstellen - obwohl dies natürlich auch zu diskutieren wäre -, wird man Gründe vor allem in den Ausbildungsbedingungen der Jugendlichen suchen müssen.
Zu fragen ist, ob nicht die Organisation des deutschen Schulsystems wenig förderlich für politisches und soziales Lernen ist. Das deutsche Schulsystem ist im internationalen Vergleich - jedenfalls was die an der IEA-Studie beteiligten Länder betrifft - von seiner organisatorischen Struktur her einmalig. Es kombiniert ein Halbtagsschulsystem mit einem dreigliedrigen Aufbau der Sekundarstufe. Es gibt zwar andere Länder mit einem Halbtagsschulsystem (z. B. Italien) und auch Länder mit einem mehrgliedrigen (maximal zweigliedrigen) Aufbau (z. B. die Schweiz); es gibt aber kein Land, in dem diese beiden organisatorischen Elemente miteinander verknüpft sind.
In Ländern mit Ganztagsschulsystem oder Schulsystemen, in denen es am Nachmittag Angebote in der Schule gibt, haben Schüler und Schülerinnen mehr Möglichkeiten für soziales Lernen und Mitbestimmung als in dem auf den Vormittag begrenzten Fachunterricht, der dafür nur einen geringen Spielraum lässt.
Befürworter des deutschen Halbtagsschulsystems verweisen häufig auf die vielfältigen freiwilligen Gruppenaktivitäten der Jugendlichen in den Nachmittagsstunden. Im Rahmen unserer Untersuchung lässt sich für die deutschen Jugendlichen eine starke Beteiligung an solchen Aktivitäten aber ausschließlich für traditionelle Freizeitaktivitäten - wie die Mitgliedschaft in Sportvereinen oder die Teilnahme an künstlerischen Gruppen - finden. Hier haben die deutschen Jugendlichen höhere Werte als der internationale Durchschnitt. In solchen Grupppen wird zwar auch Sozialverhalten gelernt, aber kaum politische Beteiligung und politisches Engagement. Bezüglich der meisten anderen hier erfragten Gruppenaktivitäten (wie Teilnahme an Umweltorganisationen, Menschenrechtsorganisationen, bei den Pfadfindern, Computerclubs, Gruppen, die soziale Dienste leisten oder Spenden für soziale Zwecke sammeln) ist die Beteiligung der deutschen Jugendlichen jedoch im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich.
Auch die Dreigliedrigkeit des deutschen Schulsystem ist wenig unterstützend für soziales Lernen. In einem Gesamtschulsystem müssen zwangsläufig höhere soziale Integrationsleistungen erbracht werden, weil die Gesamtheit der Kinder und Jugendlichen hier sehr viel weniger homogen ist als in einem vertikal differenzierten System. In den heterogenen Lerngruppen integrierter Schulen, die das ganze Spektrum der entsprechenden Altersgruppe umfassen, finden soziale Lernprozesse statt, die Partizipation und sozial engagiertes Verhalten fördern.
Zu fragen ist schließlich auch, ob der dem deutschen Schulsystem häufig unterstellte stark lehrerzentrierte Unterricht die Partizipationsbereitschaft von Schülern einschränkt. Im lehrerzentrierten Unterricht dominiert die Vermittlung von Unterrichtsstoff und es bleibt vergleichsweise wenig Zeit für soziales Lernen und aktive Mitbestimmung. Solche Gesichtspunkte sind weiter zu diskutieren und zu erforschen. Zur Erreichung des Ziels, in der Schule politisches Engagement zu fördern, besteht jedenfalls Handlungsbedarf.