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Liberaler Antipopulismus | Wandel des Politischen? | bpb.de

Wandel des Politischen? Editorial Die Selbstgefälligkeit der Intelligenz im Zeitalter des Populismus. Plädoyer für mehr Lernbereitschaft in der Demokratie Liberaler Antipopulismus. Ein Ausdruck von Postpolitik Populismus in Echtzeit. Analyse des TV-Duells und des TV-Fünfkampfs im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 Antipolitik und postmoderne Ringkampf-Unterhaltung Die Wahrheit über Postfaktizität Mehr als Imitation. Auch Autokraten lassen wählen

Liberaler Antipopulismus Ein Ausdruck von Postpolitik

Oliver Marchart

/ 15 Minuten zu lesen

Populismus wird von Politikern wie Öffentlichkeit gleichermaßen als Bedrohungsszenario gesehen. Dabei bedient sich liberaler Antipopulismus nicht selten ebenfalls populistischer Muster und kann damit mindestens so gefährlich werden wie Populismus selbst.

"Wie schön wäre Demokratie ohne demos!" Dieser Stoßseufzer ist heute von Postpolitikern aller Couleur zu vernehmen, zusammen mit der pauschalen und allgegenwärtigen Klage über "den Populismus". Denn im Populismus erscheint das "Volk", wie der Soziologe Helmut Dubiel vor Jahren schrieb, als ein "empirisches Gespenst", das in die Gärten der Politik einbricht und den "von den Gärtnern der öffentlichen Ordnung so sorgfältig gehegten Rasen zertrampelt".

Das Klagelied der Gärtner ertönt überall. Es ertönt an der Spitze der EU, wo Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner "Rede zur Lage der Union" im September 2016 vor einem "galoppierenden Populismus" warnte. Aber selbstverständlich erklingt der antipopulistische Refrain nicht nur an der Spitze der EU. Vertreter der etablierten Parteien bis hinunter in die Lokalpolitik stimmen ihn an, und er findet sein Echo in den Analysen, Berichten und Kommentaren der Medien, sodass mit dem Begriff Populismus nahezu durchgängig das Bedrohungsszenario verantwortungsloser Volksverführung, wenn nicht brandgefährlicher Volksverhetzung verbunden wird.

An dieser pauschalisierenden Verwendungsweise des Begriffs Populismus ist zunächst zweierlei bemerkenswert. Erstens ist die durchgängig negative Kodierung des Begriffs bereits in einem solchen Maße eingeübt, dass an das Offensichtliche erst wieder erinnert werden muss: Der Begriff Populismus dient im öffentlichen Diskurs vor allem dem Zweck der politischen Denunziation von Parteien und Bewegungen, die entweder nicht dem traditionellen Spektrum entstammen oder, wo sie das tun, sich gegen dieses wenden. Der pejorative Gebrauch des Begriffs weist also darauf hin, dass antipopulistische Diskurse einen Antagonismus herstellen zwischen "uns liberalen Demokraten" und den "populistischen Antidemokraten". Diese "Achse von Populismus und Anti-Populismus" wird als die vorherrschende Spaltung beschrieben, über die gegenwärtig politische Bedeutung organisiert wird. "Der Riss", so der Soziologe Wolfgang Streeck, "zwischen denen, die andere als ‚Populisten‘ bezeichnen, und denen, die von ihnen als solche bezeichnet werden, ist heute die dominante politische Konfliktlinie in den Krisengesellschaften des Finanzkapitalismus".

Zweitens erscheint in diesen Diskursen der Begriff des Populismus aufgrund seiner pauschalisierenden Überdehnung auf seltsame Weise leer. Daher können im Diskurs der Populismuskritiker gegnerische Parteien äußerst unterschiedlicher politischer Ausrichtung mit dem Stigma des Populismus versehen werden.

Populismus als Mobilisierungslogik

In der Forschung herrscht inzwischen weitgehend Einigkeit darüber, dass Populismus keine spezifische politische Weltanschauung ist oder durch unverwechselbare Inhalte und Forderungen gekennzeichnet wäre. Während beispielsweise der Sozialismus im Kern für soziale Gerechtigkeit oder der Liberalismus für individuelle Freiheitsrechte eintritt, lässt sich beim Populismus kein solcher Kern finden – außer jener, dass hier Politik "für das Volk" gemacht werden soll, was letztlich aber alle demokratischen Parteien von sich behaupten, sofern sie keine reinen Klientelparteien sind. Daher wäre es angemessener, mit Populismus eine politische Mobilisierungslogik zu bezeichnen.

Dieser Logik folgend, sollen möglichst breite Bevölkerungssektoren als "das Volk" gegen eine "Elite" mobilisiert werden, ohne dass hiermit schon eine Aussage darüber getroffen wäre, mithilfe welcher politischen Ideologien oder konkreten Forderungen dies jeweils geschehen soll.

So führt die Entwicklung in der Populismusforschung weg von impressionistisch gestalteten Merkmalskatalogen populistischer Politik und hin zu Minimaldefinitionen. Der einschlägigen Definition des Politikwissenschaftlers Cas Mudde zufolge zerfällt die Gesellschaft für Populisten in zwei homogene und antagonistische Lager – in ein "reines Volk" und eine "korrupte Elite" –, wobei Politik die volonté générale des Volkes auszudrücken habe und die populistische Unterscheidung zwischen Volk und Elite vor allem als moralische Unterscheidung getroffen werde. Im Kern trifft sich diese Minimaldefinition mit der zweiten wichtigen Populismustheorie, die aus der marxistischen Tradition hervorging und von dem politischen Theoretiker Ernesto Laclau in den 1970er Jahren vorgestellt und später weiterentwickelt wurde. Auch Laclau versteht unter Populismus keine bestimmte politische Ideologie, sondern eine Logik der Vereinfachung des politischen Raums um einen zentralen Antagonismus zwischen "Volk" und "Machtblock".

Inhaltliche Leere des liberalen Antipopulismus

Diese Minimaldefinitionen können helfen, die pauschale Kritik am Populismus durch den politischen und medialen Mainstream einzuordnen. Denn wenn zutrifft, dass Populismus an sich keinen bestimmten ideologischen Inhalt besitzt, dann ist pauschale Kritik am Populismus ebenso inhaltslos. Und zwar deshalb, weil dann nur eine bestimmte Form der Mobilisierung kritisiert wird, während nebensächlich bleibt, weshalb und wofür im jeweiligen Fall mobilisiert wird. Die pauschale Kritik am Populismus bleibt also leer – jedoch nicht deshalb, weil die antipopulistische Phalanx einem wissenschaftlichen Minimalmodell von Populismus anhängen würde. Sie bleibt vielmehr deshalb leer, weil vom liberalen Antipopulismus schlechthin alles denunziert wird, was als politische Alternative zu jenem neoliberalen Dogma auftritt, dem die Parteien des gesamten traditionellen Spektrums mit nur geringer Variation anhängen: ungehinderte Herrschaft der Märkte in allen Lebensbereichen, Ausverkauf öffentlicher Güter, Konstitutionalisierung des Austeritätsregimes, Abbau sozialer Sicherungssysteme, Ausweitung des Niedriglohnsektors zugunsten globaler "Wettbewerbsfähigkeit".

In Frankreich wird dieses unhinterfragte Dogma des Neoliberalismus als pensée unique bezeichnet, im Englischen auch als TINA-Prinzip, ein Akronym des von der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher oftmals wiederholten Satzes: "There is no alternative". Deswegen, so Wolfgang Streeck, werden die populistischen Parteien und die Alternativen, die sie anbieten, von ihren Gegnern "als tödliche Gefahr für ‚die Demokratie‘ wahrgenommen und bekämpft. Der dabei eingesetzte, in kürzester Zeit in das postfaktische Faktenwissen eingeschleuste Kampfbegriff ist der des ‚Populismus‘, mit dem rechte wie linke Strömungen und Organisationen belegt werden, die sich gegen die TINA-Logik ‚verantwortlicher‘ Politik unter Bedingungen neoliberaler Globalisierung sperren."

Vor dem Hintergrund des TINA-Prinzips erweist sich die Populismuskritik durch Medien und traditionelle Parteien somit als Kritik an jeder politisch artikulierten – und damit potenziell gefährlichen – Forderung nach Alternativen zum neoliberalen Status quo. Der liberale Antipopulismus muss abstrakt und leer bleiben, um solche alternativen Forderungen ungeachtet ihres Inhalts und allein aufgrund ihrer populistischen Artikulationsform denunzieren zu können. Das bietet die Möglichkeit, "Unterscheidungen zu vermeiden und Trump und Sanders, Farage und Corbyn sowie, in Deutschland, Petry und Wagenknecht in denselben propagandistischen Topf zu werfen".

Dabei lässt sich nicht länger ausmachen, ob es sich nun um linke oder rechte, inklusive oder exklusive, demokratische oder autoritäre Spielarten von Populismus handelt oder überhaupt um Populismus. Denn nicht nur autoritäre oder gar faschistische Bewegungen bedienen sich der Semantik "Volk" versus "Elite", sondern auch genuine Demokratisierungsbewegungen wie zum Beispiel Podemos in Spanien und ursprünglich Syriza in Griechenland. Auch von diesen wird zwar sehr wohl ein Antagonismus zwischen "Volk" und "korrupter Elite" formuliert – so etwa in Spanien zwischen la gente und la casta – doch wird der politischen Elite weder ein ethnisch reiner Volkskörper entgegengesetzt noch wird ein Projekt autoritärer Staatsumwandlung verfolgt. Das politische Projekt besteht vielmehr in der Demokratisierung der Demokratie, und das lässt es in den Augen liberaler Antipopulisten jedoch nur noch bekämpfenswerter erscheinen. Angesichts des denunziativen Umgangs mit aus sozialen Protestbewegungen hervorgegangenen linken Parteien – beziehungsweise mit linkspopulistischen Strömungen in älteren Parteien – könnte man fast glauben, Antipopulismus habe im heutigen Westeuropa den Antikommunismus beerbt.

Antipopulismus als Brandbeschleuniger

Mit dem Kampfbegriff des Populismus sollen also jegliche Forderungen delegitimiert werden, die die Interessen breiterer Bevölkerungsschichten gegen eine Politik mobilisieren könnten, die an diesen Interessen vorbeigeht. "Die implementierte neoliberale Politik wird zunehmend unpopular und löst populare Mobilisierungen aus, die wiederum als populistisch denunziert werden". Wenn populistische Bewegungen in der Bevölkerung auf Resonanz stoßen – und dies gilt auch für Rechtsaußenparteien, die sich populistischer Strategien bedienen –, dann vor allem deshalb, weil nach drei Jahrzehnten neoliberaler Politik ein nicht unbegründetes Misstrauen gegenüber einem durch keine Weltwirtschaftskrise zu irritierenden Personal und seinem immer identischen Angebot herrscht.

Seit Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise um 2008 hat der neoliberale Umbau der europäischen Wohlfahrtsstaaten sogar enorm an Fahrt gewonnen, selbst wenn immer deutlicher erkennbar wurde, dass die sozialen Grundlagen der liberalen Demokratie auf diese Weise ausgehebelt werden. Die Verwüstungen, die diese Politik hinterlässt, werden in den meisten europäischen Ländern allerdings nicht zum Nährboden für Demokratisierungsbewegungen wie Podemos, sondern zum Nährboden rechtsextremistischer Bewegungen, die nun – nach dem Totalversagen der europäischen Mitte-Links-Parteien – vielerorts als einzige politische Kraft den wirklichen oder vermeintlichen Verlierern eine Stimme geben oder zu geben behaupten.

Bei den so entstehenden Konflikten handelt es sich um etwas viel Dramatischeres als um den üblichen Wettbewerb unterschiedlicher politischer Ideen. Denn da eine Alternative zur neoliberal verallgemeinerten Prekarisierung aller Arbeits- und Lebensbereiche innerhalb des etablierten Parteienspektrums der liberalen Demokratie nicht formuliert werden kann, besteht die Gefahr, dass sie gegen die Demokratie als solche formuliert wird.

Deshalb darf die Kritik am liberalen Antipopulismus die politischen Positionen von Rechtsaußenparteien selbstverständlich nicht verharmlosen, im Gegenteil. Doch muss es sich um eine inhaltlich begründete Kritik handeln, die sich nicht auf die bloße Form der Mobilisierung eines "Volkes" gegen den Machtblock beschränkt. Die autoritäre Wende, die von Rechtsaußenparteien gefordert oder, wie im Fall von Ungarn und Polen, bereits verwirklicht wird, setzt demokratischen Prinzipien wie Pressefreiheit und Gewaltenteilung ein autoritär-plebiszitäres Gesellschaftsmodell entgegen. Zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs und seit dem Fall des Eisernen Vorhangs scheint sich damit in Europa wieder die Systemfrage zu stellen: liberale Demokratie oder eine westeuropäische Version des Putinismus? Gerade deshalb aber ist der liberale Antipopulismus – als Brandstifter in der Uniform der Feuerwehr – so gefährlich. Abgesehen von dem zunehmend durch vermeintlichen Zwang gepanzerten Dogmatismus der Neoliberalen ließen sich zumindest drei Gründe benennen, weshalb – in jenen Ländern jedenfalls, in denen noch keine autoritären Bonapartisten an die Macht gelangt sind – eine größere Gefahr vom liberalen Antipopulismus ausgehen könnte als vom sogenannten Populismus selbst.

Verschleierung der Ursachen

Erstens verstellt der liberale Antipopulismus den Blick auf die Ursachen der gegenwärtigen Misere, die ja in genau jener Politik zu suchen sind, die er gegen "die Populisten" so vehement verteidigt. Er popularisiert also eine irreführende Problemdiagnose. So ist etwa die vielbeschworene Krise der politischen Repräsentation, mit der ein Vakuum entstanden ist, das nun in vielen europäischen Ländern von rechts und nur im Süden von links gefüllt wird, der Konversion vor allem von Parteien der linken Mitte zu den Glaubenssätzen des Neoliberalismus geschuldet. Der beispiellose Niedergang der europäischen Sozialdemokratie verdeutlicht die Konsequenzen dieser Konversion.

In manchen Ländern hat die Sozialdemokratie ihr früheres Stammklientel nahezu vollständig an Rechtsaußenparteien verloren – so votierten bei den österreichischen Präsidentschaftswahlen 2016 die Arbeiter zu 85 Prozent für den Kandidaten der FPÖ Norbert Hofer –, in anderen wurde sie geradezu ausradiert: In Frankreich kam bei den Parlamentswahlen 2017 die Sozialistische Partei mit einem Verlust von knapp 22 Prozent auf einen Stand von 7,4 Prozent, und in den Niederlanden wurde die Partei der Arbeit mit einem Verlust von 19 Prozent auf einen Wähleranteil von 5,7 Prozent reduziert. Sozialdemokraten wären schlecht beraten, wollten sie die Schuld an ihrem Niedergang bei rassistischen Demagogen suchen. Ihres Unglücks Schmied sind sie schon selbst.

Aber auch der Gegenbeweis kann von ihnen selbst angetreten werden. Sozialdemokratische Parteien erweisen sich derzeit als erfolgreich, wo sie dem neoliberalen Einheitsdenken radikal entgegentreten – und das nicht nur in Form halbgarer Lippenbekenntnisse. In den USA erweist sich der "demokratische Sozialismus" von Bernie Sanders als deutlich populärer als Hillary Clintons "progressiver Neoliberalismus" (Nancy Fraser). Im Vereinigten Königreich schaffte es der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn bei der Unterhauswahl 2017 mit seinem Programm der Wiederverstaatlichung von Schlüsselbetrieben, insbesondere der Bahn, sowie dem Versprechen, den National Health Service zu schützen, die absolute Mehrheit der Tories im Parlament zu brechen und fast den Wahlsieg davonzutragen. Und in Portugal konnte eine von radikalen Linksparteien gestützte sozialdemokratische Minderheitsregierung unter Premierminister António Costa dem Schicksal Griechenlands entgehen und einen ökonomischen Aufschwung anstoßen, gerade weil sie sich dem Austeritätsdiktat von Bundesfinanzminister Schäuble, der Portugal die Apokalypse vorhergesagt hatte, widersetzte. In all diesen Fällen bot liberaler Antipopulismus keine Lösung.

Elitärer Paternalismus

Zweitens erweist sich der elitäre Antipopulismus insbesondere der rechten Mitte als seinerseits kryptopopulistisch. Das mag überraschen, da Elite und Volk im populistischen Diskurs als Gegensätze auftreten. Doch sind sie zugleich auch Spiegelbilder, da beide auf derselben, letztendlich moralischen Unterscheidung zwischen der Elite und dem Volk basieren – nur dass der Elitismus die Elite als "rein" betrachtet und das Volk als "korrupt".

Eine durchaus elitäre Grundstimmung beherrscht den heutigen Neoliberalismus und motiviert den Antipopulismus. In dessen Spiegel erscheint "das Volk" als bedrohliche Masse oder, je nachdem, als leicht verführbares Kind, in jedem Fall aber als zutiefst irrational, unreif und gegen die eigenen – natürlich von neoliberalen Experten viel besser wahrgenommenen – Interessen gerichtet. Dieses Bild von der unwissenden, triebgesteuerten Masse ist kaum über den Stand der Massenpsychologie des 19. Jahrhunderts hinausgekommen. Demgemäß entsprechen auch so manche Rezepte des neuen Elitismus jenen des 19. Jahrhunderts.

Eine der beliebtesten Antworten auf den Populismus besteht nämlich in einem elitären Paternalismus, der uns selbst noch in solch scheinbar harmlosen Wendungen begegnet wie "wir müssen die Ängste und Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen", auch wenn "wir" sie, so der unausgesprochene Nachsatz, für unbegründet erachten. Doch dieser Paternalismus trägt nur zur Beschämung und Beleidigung der solchermaßen Entmündigten bei. Dies wiederum verstellt den analytischen Blick auf die eigentlichen Ursachen sozialer Verunsicherung, propagiert Scheinlösungen und treibt den Rechtsaußenparteien ökonomisch und sozial benachteiligte Bevölkerungsschichten zu.

Übernahme populistischer Strategien und Inhalte

Drittens agiert der Antipopulismus der Eliten seinerseits offen populistisch, sobald er auf Mobilisierungsstrategien und Inhalte der Populisten zurückgreift. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron war als Investmentbanker und Wirtschaftsminister selbst Teil jenes liberalen Machtsystems gewesen, gegen das er mit seiner scheinbar antisystemischen "Bewegung" antrat. Dass ein Teil des Machtblocks vorgibt, sich aus dem Inneren dieses Machtblocks heraus gegen ihn zu wenden, ist, wie der Soziologe Stuart Hall am Thatcherismus zeigt, ein typisches Merkmal eines "autoritären Populismus". Dem neoliberalen Mainstream bleibt, nachdem er in der Wahlbevölkerung auf massiv schwindende Folgebereitschaft trifft, wenig anderes übrig als solcher Etikettenschwindel. Im österreichischen Nationalratswahlkampf 2017 verkleidete der österreichische Außenminister Sebastian Kurz die alte ÖVP erfolgreich als neue "Bewegung", die sich gegen jenes überkommene System zu richten vorgab, dem er selbst seit sechs Jahren als Regierungsmitglied angehörte und dem die ÖVP seit 30 Jahren durchgehend als Regierungspartei diente.

Dass die neoliberale Elite in einen Scheinkampf mit sich selbst tritt, mag noch durchgehen, solange nur die Logik populistischer Mobilisierung übernommen wird. Was aber, wenn die ideologischen Inhalte populistischer Rechtsaußenparteien übernommen werden? So ist auf breiter Front zu beobachten, dass Parteien der politischen Mitte, nachdem sie sich jahrelang die neoliberalen Inhalte ihrer Konkurrenz zu eigen gemacht haben, nun zunehmend rassistische und ethnonationalistische Positionen vertreten. Zum Beispiel gelang es Sebastian Kurz durch eine Übernahme von FPÖ-Positionen in der Migrationspolitik, massiv Terrain gegenüber der FPÖ gutzumachen. Der Ausgang der niederländischen Parlamentswahlen von 2017 wurde von liberalen Antipopulisten mit Erleichterung aufgenommen, da Geert Wilders’ Partei für die Freiheit mit einem Wähleranteil von 13 Prozent unter den Erwartungen blieb. Gänzlich unerheblich schien da, dass die liberal-konservative Partei unter Mark Rutte ihren Wahlsieg durch Übernahme der Inhalte von Wilders sicherte. Waren diese nun, da sie vonseiten liberaler Antipopulisten formuliert wurden, plötzlich nicht mehr "populistisch"? Es zeigt sich erneut: Der liberale Antipopulismus ist Teil des Problems. Immer häufiger übernimmt, ja implementiert er die autoritären und rassistischen Forderungen seiner vorgeblichen Gegner, während zugleich die dringend notwendige Demokratisierung der Demokratie blockiert wird.

Zweite Phase der Postpolitik

Sobald der liberale Antipopulismus Strategie und Inhalte von Rechtsaußenparteien übernimmt, mutiert er selbst zu einer Spielart des autoritären Populismus. Die Postpolitikdiagnosen der vergangenen Jahre sind daher zu ergänzen. Postpolitik scheint in eine neue, aggressivere Phase eingetreten zu sein.

Die erste Phase neoliberaler Postpolitik, wie sie von der Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe und anderen beschrieben wurde, war gekennzeichnet durch das technokratische Politikverständnis einer Expertokratie (von Managerpolitikern, die sich auf neoliberales Expertenwissen zu stützen behaupteten), durch den neoliberalen "Konsens in der Mitte" (bis hin zur Verwechselbarkeit der traditionellen Parteien) sowie durch ein Phänomenbündel aus Demokratieabbau, Repräsentationskrise und Auslieferung der Demokratie an den Markt, das der Politologe Colin Crouch unter dem Begriff der "Postdemokratie" zusammengefasst hat. In dieser Phase war Postpolitik vor allem eine Politik der Politikverleugnung. Der Antipopulismus drückte sich noch in der angewiderten Zurückweisung eines jeglichen Populismus aus. Darin kam nichts weniger zum Ausdruck, so Laclau, als "die Zurückweisung von Politik tout court und die Behauptung, das Management der Gemeinschaft sei Aufgabe einer administrativen Macht, deren Legitimationsquelle in ihrem korrekten Wissen um eine ‚gute‘ Gemeinschaft besteht".

Bereits in dieser ersten Phase machten sich jedoch die Auswirkungen neoliberaler Postpolitik bemerkbar: Rechtsaußenparteien erhielten Zulauf, wo die Parteienlandschaft keine erkennbaren Alternativen bot. Der aufkommende Rechtspopulismus ersetzte, wie Chantal Mouffe erkannte, "die geschwächte Links-Rechts-Opposition durch eine neue Form des Wir-Sie-Gegensatzes" – die für populistische Strategien typische Opposition zwischen dem "Volk" und dem "Establishment" –, da demokratische Politik sich darauf beschränkt hatte, "die notwendigen Voraussetzungen für das reibungslose Funktionieren des Marktes sicherzustellen".

Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008 ist das Politikmodell der Postpolitik nun seinerseits in die Krise geraten. Der enorme Legitimationsverlust, den der neoliberale Mainstream erfahren musste, ist der spürbaren Verschärfung des sozialen Missstands und dem Ausbleiben der neoliberalen Versprechungen geschuldet. Populistischen Mobilisierungsstrategien war nun zunehmend Erfolg beschieden, und es kündigte sich die Rückkehr des Politischen im Gewand des Popularen an. Das "empirische Gespenst" des demos begann wieder den Rasen zu zertrampeln. Nun, da die alten Strategien der Politikverleugnung nicht mehr fruchteten, mussten die liberalen Antipopulisten einen Gang zulegen. Sie mussten wieder Politik machen, um Politikmachen blockieren zu können.

Im Ausgang dieser zweiten Phase der Postpolitik wandeln sich daher farblose Manager des neoliberalen Status quo wie Rutte, Macron oder Kurz ihrerseits zu Populisten und treten in Konkurrenz zu den "originalen" Populisten wie Wilders, Marine Le Pen oder Heinz-Christian Strache. Auf diese Weise versuchen die zu Populisten konvertierten Antipopulisten der Rückkehr des Politischen Einhalt zu gebieten, was allerdings nur um den Preis gerade jener Politisierung gelingen kann, die sie eigentlich vermeiden möchten. Von diesen populistischen Antipopulisten wird die Spaltung der Gesellschaft beklagt und zugleich befördert.

Deutschland, so kann man vermuten, befindet sich heute im Übergang von der ersten zur zweiten Phase des postpolitischen Konsenses, wobei noch nicht entschieden ist, ob und inwieweit rechtsextreme Positionen in das politische Repertoire der Mitte-Parteien übernommen werden. Die Merkelsche Strategie der Postpolitik – präsidentielles Amtsverständnis und asymmetrische Demobilisierung des gegnerischen Lagers durch politische Diskursflucht – scheint jedenfalls an ihre Grenzen gelangt.

In vielen anderen europäischen Ländern ist die Entwicklung weiter fortgeschritten. Der in der zweiten Phase der Postpolitik neu entstandene Konsens der Mitte, der in Wahrheit nichts anderes ist als eine Verlagerung der Mitte an den rechten Rand, mag – vor allem, wo ihm von links nichts entgegensetzt wird – auf den ersten Blick erdrückend erscheinen. Der Preis dieses Konsenses bestand allerdings in der Repolitisierung von Politik, im Wiedereinbrechen des Politischen in Gestalt des Popularen. Es ist daher nicht gesagt, dass mittelfristig nicht ein neues Vakuum links der rechtsextremen Mitte entstehen könnte. Aus den genannten Gründen werden die meisten sozialdemokratischen Parteien wohl kaum in der Lage sein, ein solches Vakuum zu füllen. Die Erfolge von Jean-Luc Mélenchon beziehungsweise seiner Bewegung La France insoumise in Frankreich und Podemos in Spanien verweisen aber darauf, dass es – in manchen nationalen Kontexten – durchaus von linkspopulistischen Parteien gefüllt werden kann. Aufgrund der allgemeinen Repolitisierung scheint der Ausgang dieser Entwicklung noch keineswegs ausgemacht, und Überraschungen à la Corbyn sind ebenso möglich wie Überraschungen à la Trump.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Helmut Dubiel, Ungewißheit und Politik, Frankfurt/M. 1994, S. 204.

  2. Präsident der Europäischen Kommission, Rede zur Lage der Union: Hin zu einem besseren Europa – Einem Europa, das schützt, stärkt und verteidigt, SPEECH/16/3043, Straßburg 14.9.2016, S. 54.

  3. Yannis Stavrakakis, Die Rückkehr des "Volkes": Populismus und Anti-Populismus im Schatten der europäischen Krise, in: Aristotelis Agridopoulos/Ilias Papagiannopoulos (Hrsg.), Griechenland im europäischen Kontext. Krise und Krisendiskurse, Wiesbaden 2016, S. 109–137, hier S. 110.

  4. Wolfgang Streeck, Die Wiederkehr der Verdrängten als Anfang vom Ende des neoliberalen Kapitalismus, in: Heinrich Geiselberger (Hrsg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Frankfurt/Main 2017, S. 253–274, hier S. 261.

  5. Cas Mudde, The Populist Zeitgeist, in Government & Opposition 4/2004, S. 541–563, hier S. 543. Für eine vergleichbare Definition, die noch größeren Wert auf den Antipluralismus der Populisten legt, siehe Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Frankfurt/M. 2016. Aus dem Gang meines Arguments wird ersichtlich werden, dass der liberale Antipopulismus, der jegliche politische Alternative zum neoliberalen Status quo verdammt und, in seiner jetzigen Phase, sich selbst in Populismus verwandelt, nicht weniger antipluralistisch agiert.

  6. Vgl. Ernesto Laclau, Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus – Faschismus – Populismus, Berlin 1981; ders., On Populist Reason, London–New York 2005.

  7. Streeck (Anm. 4), S. 260.

  8. Ebd., S. 261.

  9. Vgl. Cas Mudde/Cristóbal Rovira Kaltwasser, Exclusionary vs. Inclusionary Populism: Comparing Contemporary Europe and Latin America, in: Government and Opposition 2/2013, S. 147–174.

  10. Stavrakakis (Anm. 3).

  11. Vgl. Oliver Marchart, Die Prekarisierungsgesellschaft. Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Verunsicherung, Bielefeld 2013.

  12. Vgl. Klaus Techt, Norbert Hofer, der Präsident der Arbeiter und Männer, 5.12.2016, Externer Link: http://www.diepresse.com/home/innenpolitik/bpwahl/5129839.

  13. Cas Mudde, Conclusion. Some Further Thoughts on Populism, in: Carlos de la Torre (Hrsg.), The Promise and Perils of Populism. Global Perspectives, Lexington 2015, S. 431–452, hier S. 433.

  14. Stuart Hall, The Hard Road to Renewal. Thatcherism and the Crisis of the Left, London–New York 1988.

  15. Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt/M. 2008.

  16. Laclau 2005 (Anm. 6), S. 255.

  17. Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt/M. 2007, S. 93.

  18. Im Unterschied zu Rutte und Kurz ist Macron bislang freilich weniger durch Übernahme ethnonationalistischer Mobilisierungsstrategien aufgefallen als durch die Neuerfindung des "Dritten Weges" von Blair und Schröder, dies allerdings in populistischer Abgrenzung gegenüber "dem System". Es bleibt zu sehen, inwieweit er in Phasen künftiger Bedrängnis das inhaltliche Repertoire Le Pens adaptiert.

  19. Vgl. Inigo Errejón/Chantal Mouffe, Podemos. In the Name of the People, London 2016.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Oliver Marchart für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist politischer Philosoph und Soziologe und Professor für Politische Theorie an der Universität Wien. E-Mail Link: oliver.marchart@univie.ac.at