Spätestens die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten hat bei vielen Zweifel daran geweckt, dass die liberale Demokratie auf Dauer konkurrenzlos ist. In jüngerer Zeit sind Populisten in vielen entwickelten Demokratien auf dem Vormarsch. Bei den Präsidentschaftswahlen in Österreich 2016 erhielt der Kandidat der rechtspopulistischen FPÖ, Norbert Hofer, fast die Hälfte der Stimmen. 2017 stimmte ein gutes Drittel der Französinnen und Franzosen für Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National. Politische Eliten und das gebildete Bürgertum sind bestürzt angesichts der dramatischen Wahlerfolge von radikalen Parteien und Politikern, die einer verunsicherten Bevölkerung vermeintlich einfache Lösungen anbieten. Mit emotionalen Slogans gelingt es ihnen offenbar, breite Unterstützung zu mobilisieren.
Rationale Argumente, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen, scheinen die Anhänger dieser Bewegungen kaum noch zu interessieren. Solche Äußerungen prallen an hochgradig emotionalisierten Wählerinnen und Wählern ab, die sich im Konflikt mit dem "Establishment" sehen und dessen Vertretern keinen Glauben mehr schenken. Pauschalkritik an "den Experten", Misstrauen gegenüber den etablierten Medien (der "Lügenpresse") und die zunehmende ausschließliche Nutzung alternativer Internetportale fördern die Bildung von einseitigen Weltbildern und tief sitzenden Ressentiments gegenüber vermeintlichen "Volksverrätern".
Die liberale Demokratie, so glauben viele, ist zunehmend gefährdet, weil der vernünftige Teil der Gesellschaft die frustrierten und emotionalisierten "Massen" nicht länger erreichen kann. Problemorientierte Deliberation scheint dadurch gefährdet, dass die Gesellschaft mehr und mehr auseinanderdriftet: Die aufgeklärten Bürgerinnen und Bürger, die im sachlichen Austausch gemeinsam nach der Wahrheit und der besten Politik suchen, sind scheinbar konfrontiert mit einem wachsenden Kreis von Mitbürgern, die zur offenen Deliberation nicht mehr fähig sind, weil sie nur noch Bestätigung für ihre vorgefassten Ansichten und identitätsbasierten Gefühle suchen.
Scheuklappen der Intelligenz
Diese herablassende Sicht auf die "manipulierbaren Normalbürger" ist jedoch ebenso falsch wie gefährlich. Aus ihr spricht eine Arroganz und Selbstzufriedenheit, die verkennt, wie stark auch die angeblich vernünftigeren und gebildeteren Bürgerinnen und Meinungsmacher von irrationalen Gesichtspunkten geleitet werden.
Dass intelligente und gebildete Menschen keineswegs gegen gefühlsgeleitete Realitätsverweigerung gefeit sind, haben wir wahrscheinlich alle schon in politischen Debatten erlebt und viele von uns gewiss auch an uns selbst. Diese subjektive Erfahrung wird kaum einen Psychologen überraschen. Zahlreiche Studien bestätigen, dass persönliche Überzeugungen, insbesondere zu ethischen und politischen Fragen, nur selten auf rationaler Abwägung beruhen. Vielmehr wählen wir sie meist unbewusst danach aus, ob sie zu unseren moralischen Intuitionen, unseren Affekten und unseren sozialen Identitäten passen. Am Anfang steht fast immer die subjektive Meinung. Nach überzeugenden Begründungen suchen wir erst im Nachhinein, damit wir unsere Position gegenüber unserer Umwelt rechtfertigen können.
Wer glaubt, dass dies bei intelligenteren Personen anders abläuft, täuscht sich. Zwar können Menschen mit einem höheren Intelligenzquotienten ihre Überzeugungen meist besser begründen. Dies liegt jedoch nicht daran, dass sie ihre Meinungen aufgrund gründlicherer Abwägung gewählt haben, sondern hängt damit zusammen, dass es ihnen leichter fällt, stützende Argumente zu finden. Im Rahmen einer Studie baten der Erziehungswissenschaftler David Perkins und seine Kollegen ihre Probanden darum, zu einer kontroversen Frage sowohl Argumente zu nennen, die ihre eigene Position bestätigten, als auch solche, die für die Gegenmeinung sprachen. Intelligentere Testpersonen unterschieden sich von den übrigen nur dadurch, dass sie mehr Argumente für ihre eigene Position anführen konnten. Bei der Zahl der gefundenen Gegenargumente gab es hingegen keinen Unterschied.
Ähnlich ernüchternd sind die Resultate eines Forscherteams um den Rechtsprofessor Dan Kahan, das den Zusammenhang zwischen Wissenschaftsbildung und der Einstellung zum Klimawandel untersuchte. Es kam zu dem Ergebnis, dass US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner mit besseren naturwissenschaftlichen und mathematischen Kenntnissen keineswegs eher dazu neigen, den Klimawandel als ernsthaftes Risiko anzusehen. Im Gegenteil: Die Daten zeigten insgesamt sogar eine leicht positive Korrelation zwischen Wissenschaftsbildung und der Unterschätzung der Klimarisiken. Ursache dieses überraschenden Befundes ist offenbar, dass egalitär und kollektivistisch orientierte US-Amerikaner schon aufgrund ihrer politisch-kulturellen Identität und unabhängig von ihren naturwissenschaftlichen Kenntnissen von Klimagefahren überzeugt sind. Konservative US-Bürger neigen hingegen von Haus aus zu Skepsis. Diese ist bei den Gebildeten unter ihnen am stärksten ausgeprägt – vermutlich deshalb, weil sie besser dazu in der Lage sind, die vereinzelten Einwände gegen die vorherrschende wissenschaftliche Position zu finden und zu verstehen.
Diese Studien belegen einmal mehr, dass alle Menschen einem sogenannten confirmation bias unterliegen: Sie scheuen kognitive Dissonanz und suchen deshalb einseitig nach Informationen und Argumenten, die ihre gegenwärtigen Meinungen stützen. Und aus Sicht des Einzelnen hat das auch durchaus Vorteile: Wenn ich meine falsche Meinung zu einer politischen Streitfrage korrigiere, ist der gesellschaftliche Nutzen äußerst gering. Schließlich wird meine Stimme schwerlich den Ausgang der nächsten Wahl beeinflussen. Diese Lernerfahrung schwächt aber vermutlich mein Selbstwertgefühl, zeigt sie doch, dass ich lange eine irrige Ansicht vertreten habe. Sie zwingt mich also zu einem Eingeständnis, das besonders unangenehm ist für Menschen, die sich für reflektiert und aufgeklärt halten und schon viel in ihre politische Meinung "investiert" haben. Hinzu kommt, dass ein solches Umdenken uns leicht zu Außenseitern in unserem – gemeinhin ähnlich denkenden – Freundeskreis macht oder dort zumindest Auseinandersetzungen und Irritationen auslöst, die unser Wohlbefinden verringern.
Es ist mithin sehr im individuellen Interesse, Fakten und Argumente ungleich zu behandeln, also diejenigen kritischer zu hinterfragen, die unseren Ansichten und denen unserer Freunde widersprechen, und gezielt nach solchen zu suchen, die unsere Sichtweisen bestätigen. Intelligente und gebildete Menschen sind in dieser Hinsicht besonders geschickt. Deshalb fällt es ihnen leichter, Bestätigung für ihre Überzeugungen zu finden. Wenn es jedoch darum geht, eigene Positionen kritisch zu überprüfen oder gar zu revidieren, sind sie keineswegs offener und lernbereiter als der Rest der Bevölkerung.
Aktuelle Verstärker von Tribalismus und Emotionalisierung
Aber was soll daran so problematisch sein? Wer weniger an rhetorischen Schlagabtäuschen interessiert ist, sondern mehr Freude an ertragreichen politischen Diskussionen hat, mag unsere geringe Lernbereitschaft bedauern. Aber dem öffentlichen Diskurs hat sie bis jetzt offenbar nicht ernsthaft geschadet: Trotz der allgemeinen Neigung, die eigenen Überzeugungen stets nach allen Kräften gegen "die anderen" zu verteidigen, erwiesen sich die westlichen Demokratien lange Zeit als stabil. Ungeachtet mancher Degenerationserscheinungen sind ihre Gesellschaften noch selten in unversöhnliche Lager zerfallen, die einander nichts mehr zu sagen haben und sich gegenseitig Einsichtsfähigkeit oder Legitimität absprechen.
Allerdings ist stark zu bezweifeln, dass dieser beruhigende Befund noch lange Bestand hat. Eigentlich ist er jetzt schon überholt, wenn man nach Polen blickt oder sich die starke weltanschauliche Polarisierung in den Vereinigten Staaten ansieht, ohne die Donald Trump nie US-Präsident geworden wäre. Drei laufende Trends lassen befürchten, dass auch die anderen westlichen Demokratien, ja selbst die solide Bundesrepublik, mehr und mehr in unversöhnliche Lager mit unvereinbaren "Wirklichkeiten" zersplittern könnten.
Die erste dieser Entwicklungen ist die steigende Komplexität politischer Fragen infolge von Globalisierung und Technisierung. Internationale Finanzkrisen, multilaterale Entscheidungsprozesse, Chancen und Risiken neuer Technologien, ökonomische Verteilungsfragen, grenzüberschreitende Umweltbelastungen und viele andere Probleme überfordern immer mehr das Urteilsvermögen der Bürgerinnen und Bürger. Diese können solche Entwicklungen kaum noch verstehen und die Folgen möglicher Entscheidungen immer weniger abschätzen. Daher bleibt selbst denen, die sich ganz bewusst mit diesen Fragen auseinandersetzen, meist kaum etwas anderes übrig, als sich von sachfremden Gesichtspunkten beeinflussen zu lassen: Entweder orientieren sie sich an den Meinungsführerinnen ihrer jeweiligen Identitätsgruppe oder sie lassen sich ganz von ihren persönlichen Emotionen leiten, vertreten also die Meinung, die sich für sie "irgendwie besser anfühlt".
Die zweite Entwicklung betrifft das Internet, das es immer einfacher macht, sich von Andersdenkenden abzuschotten und nur nach Bestätigung der eigenen Meinung zu suchen. Während man in Tageszeitungen, Rundfunk- oder Fernsehnachrichten oder Vereinen gelegentlich noch mit abweichenden Meinungen oder "unpassenden" Fakten konfrontiert wird, kann man sich im Netz problemlos auf die Portale, Blogs oder Diskussionsgruppen konzentrieren, die konsequent die eigene Position vertreten und zahlreiche Links auf bestätigende Informationen anbieten. Zum Teil lenken uns auch schon die Suchmaschinen in diese Richtungen. Soziale Netzwerke von Gleichgesinnten werden hier buchstäblich zu "Echokammern", in denen sich alle nur gegenseitig bestärken und dadurch in ihren Anschauungen weiter radikalisieren. Das Internet leistet so einem tribalistischen Denken Vorschub, das die Welt strikt unterteilt in die klugen und gutwilligen Mitglieder der eigenen Gruppe und gegnerische Gruppen, deren Mitglieder entweder dumm oder selbstsüchtig sind.
Es spricht einiges dafür, dass drittens der anhaltende Aufstieg autoritärer oder illiberaler Staaten den demokratischen Konsens zunehmend gefährden könnte. Insbesondere die dynamische Entwicklung Chinas scheint für viele zu belegen, dass das westliche System nicht das einzige Erfolgsmodell ist. Insofern können die Vertreter des westlichen Establishments nicht mehr so einleuchtend behaupten, dass die liberale Demokratie, bei all ihren Unvollkommenheiten und internen Auseinandersetzungen, immer noch die beste Gesellschaftsordnung darstellt. Ihre Bevölkerungen sind nicht mehr so leicht davon zu überzeugen, dass man, ungeachtet zunehmender Einkommensdisparitäten, gemeinsam weiterhin auf der Siegerseite der Geschichte steht.
Es ist kein Zufall, dass Donald Trump viele Wählerinnen und Wähler davon überzeugen konnte, der angebliche Niedergang Amerikas sei das Werk illegaler Einwanderer, chinesischer Wirtschaftsaggressoren und korrupter US-Eliten. Die Sozialpsychologen Jennifer Whitson und Adam Galinsky fanden in zahlreichen Experimenten heraus, dass verunsicherte Menschen, die wenig Kontrolle über ihr Schicksal zu haben glauben, weit eher dazu neigen, inexistente Zusammenhänge oder Muster zu erkennen. Entsprechend offener sind sie für eigene oder fremde Verschwörungstheorien.
Demokratische Diskussionskultur in Gefahr
Dieser bedrohlichen Entwicklung müssen alle entgegentreten, die sich demokratischen Werten verpflichtet fühlen. Wie der ehemalige US-Präsident Barack Obama in seiner Abschiedsrede eindrücklich formuliert hat, ist unsere Demokratie "dann in Gefahr, wenn wir sie als selbstverständlich erachten". Ihre Zukunftsfähigkeit hängt von uns Demokratinnen und Demokraten und unserer Diskussionskultur ab: "Ohne Übereinstimmung bei den grundlegenden Sachverhalten, ohne die Bereitschaft, neue Informationen zuzulassen und einzuräumen, dass ein Gegner womöglich ein gutes Argument anführt und Wissenschaft und Vernunft wichtig sind, werden wir weiter aneinander vorbeireden und es somit unmöglich machen, Gemeinsamkeiten und Kompromisse zu finden."
Oder wie es der scheidende Bundespräsident Joachim Gauck wenige Tage später ausgedrückt hat: "Wenn wir nur noch das als Tatsache akzeptieren, was wir ohnehin glauben, wenn Halbwahrheiten, Interpretationen, Verschwörungstheorien, Gerüchte genauso viel zählen wie Wahrheit, dann ist der Raum freigegeben für Demagogen und Autokraten."
Dies gilt auch für Deutschland, das zuletzt von Populismus und politischer Tribalisierung relativ verschont blieb. Nach zwei Großen Koalitionen innerhalb von drei Legislaturperioden wünschen sich manche hierzulande vielleicht sogar klarere Alternativen und leidenschaftlichere Debatten. Aber gerade große Alternativen müssen besonders sachlich debattiert werden. Die sehr emotionale Auseinandersetzung vor dem Brexit-Referendum zeigt zudem, wie schnell die oben erwähnten Faktoren die politische Kultur beschädigen können. Und die jüngste Entwicklung in den USA (aber nicht nur dort) verdeutlicht, dass solche Fehlentwicklungen, sind sie erst einmal eingetreten, schwer zu korrigieren sind. Besonders ernüchternd ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass unter Anhängern der Republikanischen Partei das große Misstrauen gegenüber den Tageszeitungen "New York Times" und "Washington Post" unlängst sogar noch zugenommen hat – vermutlich gerade deshalb, weil diese beiden Qualitätszeitungen zahlreiche Skandale aufgedeckt haben, die die ersten sechs Monate der Trump-Administration überschattet haben. Fast die Hälfte der Republikaner würde es inzwischen begrüßen, wenn amerikanische Gerichte "einseitig" oder "ungenau" berichtende Medien schließen würden.
Eine besondere Verantwortung für die Bewahrung demokratischer Diskussionskultur kommt denjenigen Bürgerinnen und Bürgern zu, die aufgrund ihrer Fähigkeiten, ihrer beruflichen Positionen oder gesellschaftlichen Funktionen stärkeren Einfluss auf gesellschaftliche Willensbildungsprozesse nehmen können. Dies gilt also für die sogenannte Intelligenz, die aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Bildung und ihrer alltäglichen Beschäftigung mit komplexeren Zusammenhängen eine Vorbildfunktion hat. Es betrifft natürlich insbesondere diejenigen, die in der Öffentlichkeit spezielle Expertise für bestimmte Fragen reklamieren. Psychologische Studien bestätigen die Vermutung, dass vielen Laien vor allem derjenige als Experte gilt, der ihre eigene Meinung vertritt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit abweichenden Positionen wird dagegen schnell die Fachkompetenz abgesprochen.
Acht Regeln gegen politische Engstirnigkeit
Was aber folgt daraus für die demokratischen Bürgerinnen und Bürger und insbesondere für ihre meinungsprägenden Eliten, die für sich selbst ein höheres Reflexionsniveau in Anspruch nehmen? Wie können sie zu einer offenen Debatte beitragen, ohne ständig vom confirmation bias so fehlgeleitet zu werden, dass sie ungewollt in emotionalisiertes Lagerdenken verfallen?
Am Anfang sollte bei allen die nahezu banale, aber doch verdrängte Einsicht stehen, dass politisch Andersdenkende nicht zwangsläufig naiver, unwissender oder egoistischer sind als wir selbst. Dass es intelligentere und gebildetere Menschen als uns in nahezu allen politischen "Lagern" geben muss, sagt uns eigentlich schon der gesunde Menschenverstand. Zu dieser Schlussfolgerung bedarf es keiner besonderen Statistikkenntnisse. Dennoch sperren wir uns immer wieder gegen sie.
Auf dieser Grundlage sollten wir eine Reihe von Grundsätzen beherzigen, die beinahe trivial erscheinen mögen, tatsächlich aber ständig missachtet werden – von "einfachen Bürgern" genauso wie von denjenigen, die sich als Teil der "Intelligenz" betrachten:
Erstens müssen Sachargumente ernst genommen und geprüft werden, auch wenn sie von der "falschen" Seite kommen. Bei persönlichen Berichten oder Zeugenaussagen vor Gericht ist es sinnvoll, bestimmten Personen eher zu vertrauen als anderen. Ob aber ein politisches Argument richtig ist oder nicht, hängt hingegen nicht von der Person ab, die es äußert. Schließlich wird das gleiche Argument oft von ganz unterschiedlichen Personen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen vorgebracht, ohne dass es deshalb im einen Fall wahr und im anderen Fall falsch wäre.
Zweitens sollten Demokraten sich abweichenden Meinungen und Argumenten bewusst und regelmäßig "aussetzen". Wenn wir unsere Überzeugungen nicht immer wieder kritisch überprüfen, sind sie bald schon keine "lebendigen Wahrheiten" mehr, sondern bloß "tote Dogmen".
Drittens sollten Freunde, Kolleginnen und Bekannte, die abweichende Meinungen vertreten, dazu aufgefordert werden, diese auch ausführlich zu äußern und zu begründen, statt sie zu entmutigen oder gar auszugrenzen. Das persönliche Gespräch bietet die beste Gelegenheit, seine eigene Sichtweise einer kritischen Überprüfung zu unterziehen und gegebenenfalls von anderen zu lernen. Wer andere Demokraten geringschätzt oder ihnen aus dem Weg geht, nur weil sie politisch anders denken, verrät nicht nur seine eigene Intoleranz oder Arroganz, sondern untergräbt damit auch die Einheit der Demokraten und hemmt die demokratische Willensbildung.
Viertens ist eine kritische Haltung gerade auch gegenüber der eigenen politischen Position einzunehmen. Niemand sollte allein schon deshalb stolz auf sein "kritisches Bewusstsein" sein, weil er den herrschenden Verhältnissen mit Skepsis begegnet und ihre Legitimität infrage stellt. Natürlich ist die unkritische Akzeptanz des Bestehenden selten angebracht. Wer aber einfach nur anderer Leute Kritik an den derzeitigen Verhältnissen übernimmt, ohne sie eigenständig auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen, ist in Wahrheit genauso unkritisch wie jemand, der das Bestehende unhinterfragt akzeptiert. Eine kritische Einstellung hat nur derjenige, der jede politische Richtung für grundsätzlich anzweifelbar hält und sich deshalb auch immer wieder fragt, ob er seine eigenen Überzeugungen auch wirklich gut begründen kann.
Fünftens sollte echte Lernbereitschaft ein wesentliches Element der Identität eines aufgeklärten Demokraten sein. Er sollte nicht stolz darauf sein, dass er immer loyal zu seinem politischen Lager stand und dessen Linie nie verlassen hat, sondern vielmehr sich darauf etwas einbilden, dass er seine Meinung immer wieder geändert hat, wenn er dafür gute Gründe sah. Der dem Ökonomen John Maynard Keynes zugeschriebene Satz "When the facts change, I change my mind" sollte einer seiner Wahlsprüche sein. Jeder von uns sollte sich fragen, wie oft er in den vergangenen Jahren politische Ansichten revidiert hat. Wer schon lange nicht mehr seine Meinung zu einer wichtigen politischen Frage geändert hat, muss sich ernsthaft fragen, ob dies wirklich nur daran liegen kann, dass er politisch so viel kompetenter ist als der Rest der Bevölkerung.
Sechstens darf sich jemand, der im Diskurs nachdrücklich politische Veränderungen fordert, nicht auf normative Begründungen beschränken, sondern muss gleichermaßen die Realisierungsbedingungen mitbedenken. Wer nur "aus dem Bauch heraus" angeblich ungerechte Verhältnisse kritisiert und deren umgehende Beseitigung verlangt, ohne plausible Lösungswege anzubieten, macht vielleicht seiner berechtigten Empörung Luft. Er läuft damit aber Gefahr, nur die politische Debatte zusätzlich zu emotionalisieren, statt realistische Alternativen zu entwickeln, die gesellschaftliche Verhältnisse tatsächlich verbessern könnten. Das befriedigende Gefühl, für die "richtige Seite" einzutreten, kann nicht genügen. Wo normative Ansprüche Fragen der Machbarkeit in den Hintergrund drängen, stehen sich am Ende nur unversöhnliche ideologische Lager gegenüber. Je entschiedener die normativen Forderungen geäußert werden, umso eingehender sollten auch ihre Umsetzbarkeit und mögliche Folgewirkungen angesprochen werden. Wer solche Forderungen nachdrücklich stellt, sollte sich also auch mit den einschlägigen sozialen, technischen und natürlichen Bedingungen befassen und dazu wissenschaftliche Erkenntnisse zu Rate ziehen.
Siebtens müssen anerkannte wissenschaftliche Befunde auch dann akzeptiert werden, wenn sie der eigenen politischen Einstellung widersprechen. Natürlich sollten Forschungsergebnisse nicht als unumstößliche Wahrheiten angesehen werden. Schließlich gibt es auch in den Fachwissenschaften viele Kontroversen, die nicht selten dazu führen, dass die Wahrheit von gestern plötzlich als überholt gilt. Dennoch sind wissenschaftliche Verfahren noch am ehesten geeignet, Aussagen über die Wirklichkeit (vorläufig) in wahre und falsche Ansichten zu unterteilen. Für Außenseiter gibt es mithin keinen sachlichen Grund, die aktuell herrschende Meinung innerhalb einer Disziplin abzulehnen. Schließlich glauben wir auch alle, dass sich die Erde um die Sonne dreht, obwohl wir dafür keinen anderen Grund angeben können als das Wort der Astronomen. Das gleiche muss für jeden wissenschaftlichen Befund gelten, der momentan die klare Mehrheitsmeinung der betreffenden Disziplin darstellt. Erst recht sollte man sich davor hüten, ganze wissenschaftliche Disziplinen wie Biologie, Klimawissenschaft, Psychologie, Ökonomie, Gender-Wissenschaft, Schulmedizin und so fort in Zweifel zu ziehen, bloß weil einem "die ganze Richtung nicht passt", die sie in der jüngsten Zeit genommen haben. Wer so verfährt – und das sind leider erschreckend viele –, läuft Gefahr, sich aus dem sachlichen Diskurs auszugrenzen.
Achtens sollten Teilnehmer an einer Debatte einander respektvoll begegnen und bewusst die Identität des Gegenübers achten. Dies ist nicht nur ein Gebot der Höflichkeit und die Voraussetzung für ein gutes Gesprächsklima. Gegenseitiger Respekt fördert nachweislich auch die Lernbereitschaft. Menschen verschließen sich fremden Argumenten gerade auch deshalb, weil sie andere Meinungen als Bedrohung ihrer Identität wahrnehmen. Umgekehrt konnten Geoffrey Cohen und andere Psychologen zeigen, dass Personen viel aufmerksamer und offener für neue Argumente sind, wenn sie zuvor Selbstbestätigung erfahren haben. Hierfür genügte es den Probanden schon, sich einen ihrer zentralen Werte ins Gedächtnis zu rufen und an damit zusammenhängende positive Erfahrungen zu denken.
Demokratien als lernende Systeme
Von allen Staatsformen eignet sich die liberale Demokratie immer noch am besten dazu, Irrtümer zu erkennen und Fehlentwicklungen zu korrigieren. Sie ist ein lernendes System – aber nur dann, wenn wir es individuell auch sind und unsere Diskussionskultur zunehmend darauf ausrichten. In einer Welt, die immer komplexer und dynamischer wird, sollte umfassende Lernbereitschaft ein Kernelement unserer politischen Identität werden. Wer sich nicht als lernendes System versteht, weil er lieber im weltanschaulichen Schützengraben seine politische Identität verteidigt, trägt dazu bei, dass Emotionalisierung und Polarisierung immer leichteres Spiel haben und die sachliche Debatte politischer Alternativen an den Rand gedrängt wird. Er ist weder ein aufgeklärter Demokrat noch ein echter Intellektueller.