Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Internationaler Terror, forcierter Regimewechsel und die UNO: Der Fall Afghanistan | Terrorismus | bpb.de

Terrorismus Editorial Zwischen Staatsvernunft und Gefühlskultur Terrorismus in neuen Dimensionen Die weltpolitische Rolle der USA nach dem 11. September 2001 Internationaler Terror, forcierter Regimewechsel und die UNO: Der Fall Afghanistan Neue Gefahren verlangen neue Politik Multilateralismus statt Dominanz Islamismus in der Bundesrepublik Deutschland

Internationaler Terror, forcierter Regimewechsel und die UNO: Der Fall Afghanistan

August Pradetto

/ 34 Minuten zu lesen

Nach Beginn der militärischen Aktion gegen Afghanistan am 7. Oktober 2001 wurde von verschiedenen Seiten eine Forderung laut. Sie bezog sich auf die Organisation einer Post-Taliban-Ordnung in Afghanistan durch die Vereinten Nationen.

Einleitung

Nach Beginn der militärischen Aktion gegen Afghanistan am 7. Oktober 2001 wurde von verschiedenen Seiten, nicht zuletzt von den Regierungen der USA und der Bundesrepublik Deutschland, auf die Organisation einer Post-Taliban-Ordnung in Afghanistan durch die Vereinten Nationen gedrängt. Der UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, der ehemalige algerische Außenminister Lakhdar Brahimi, äußerte sich diesbezüglich bis zum Fall Kabuls am 13. November sehr skeptisch. UN-Generalsekretär Kofi Annan selbst, von Anfang an reserviert gegenüber der US-Kriegführung, drängte schon kurz nach Beginn der militärischen Maßnahmen auf deren schnelle Beendigung.

Hinter dieser diplomatischen Kontroverse werden tief greifende Einschätzungsdivergenzen in mehrfacher Hinsicht deutlich: Eine betrifft die Chancen der UNO bei der Reorganisation Afghanistans. Eine zweite tangiert die Auswirkungen der militärischen Maßnahmen auf die Möglichkeiten, eine Neuordnung des Landes durchzusetzen. Drittens schließlich geht es um die Konsequenzen des militärischen Vorgehens für den Kampf gegen den Terror.

Der Beitrag zeichnet im ersten Teil nach, wie die Beauftragung der UNO, in Afghanistan tätig zu werden, zustande kam. Im Weiteren untersucht er die oben genannten Kontroversen vor allem unter dem Aspekt bisheriger Erfahrungen der UNO mit State-building und daraus resultierender Schlussfolgerungen für Afghanistan. Unter State-building wird die Re- bzw. Neuorganisation politischer und staatlicher Strukturen sowie notwendiger ökonomischer und infrastruktureller Kontexte verstanden. Die nachfolgenden Überlegungen beziehen zugehörige Fragen der Effizienz militärischer Maßnahmen der USA zur Eliminierung des Taliban-Regimes ein. Dies gilt auch für erkennbare Auswirkungen des militärischen Vorgehens gegen Afghanistan auf die islamische Welt.

I. Der Afghanistan-Auftrag der UNO

Am 14. November 2001, einen Tag nachdem Kabul in die Hände der Nordallianz gefallen war, fasste der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einen Beschluss. Er übertrug den UN-Verantwortlichen in vager Form jene vorher anvisierten State-building-Aufgaben, die bei Annan und Brahimi so wenig Begeisterung hervorgerufen hatten. In der Entschließung wurde eine "zentrale Rolle" der UNO bei den Anstrengungen verlangt, möglichst schnell eine Übergangsadministration zur Bildung einer neuen Regierung einzusetzen.

Die Art und Weise, wie die Vereinten Nationen mit der Aufgabe betraut wurden, die politische und staatliche Reorganisation Afghanistans zu bewerkstelligen, ist nicht nur ein Exempel für das Verhältnis der USA und anderer nationalstaatlicher Akteure zur Weltorganisation. Es ist auch ein Lehrbeispiel für die Dilemmasituation, in die sich die UNO aufgrund vollendeter Tatsachen gestellt sieht: Einerseits gibt es keine Alternative zur Bereitschaft, sich zu engagieren, andererseits ist die Überforderung der Organisation absehbar.

Simultan mit der Aufnahme der militärischen Offensive der USA gegen Afghanistan hatten westliche Politiker verlangt, die UNO möge die Organisation einer politischen Neuordnung nach dem Sturz der Taliban übernehmen. Der Weltorganisation wurde die Supervision des "politischen Prozesses" nach der militärischen "Kampagne" zugedacht. Die diesbezüglichen Vorstellungen waren ebenso vage wie visionär. So schlugen z. B. die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union vor, die UNO solle für die Übergangsphase bis zur Bildung einer stabilen, die wichtigsten ethnischen Gruppen repräsentierenden Regierung "den legitimierenden Rahmen" abgeben. Die Bereitstellung von UN-Friedenstruppen für einen "stabilisierenden Einsatz" nach dem Sturz der Taliban müsse durch ein wirtschaftliches Wiederaufbauprogramm ergänzt werden. Der britische Außenminister Jack Straw sowie andere seiner Amtskollegen vertraten die Auffassung, die Zukunft Afghanistans müsse auf einer langfristigen Verpflichtung der Vereinten Nationen, der Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und der Nachbarländer Afghanistans gegründet werden. US-Präsident Bush übernahm zeitweilig sogar die "Anregung" des britischen Premiers Blair und wies den Vereinten Nationen eine führende Rolle beim "Nation-building" in Afghanistan zu.

Diese Forderungen waren so weitgehend, wie sie eine innere Logik aufwiesen: Stürzten die Taliban, entstünde ein Machtvakuum mit der Gefahr eines Bürgerkrieges wie vor der Machtübernahme durch die "Gottesschüler" 1996. Derartige Befürchtungen erwuchsen berechtigterweise aus der komplizierten ethnischen, religiösen und politischen Lage in dem Land.

Die UNO versuchte Hoffnungen und Erwartungen von vornherein zu dämpfen. Lakhdar Brahimi äußerte sich skeptisch hinsichtlich einer Peace-keeping-Rolle der Vereinten Nationen. Eine Rolle der UNO bei einem intendierten State-building nach den Taliban in Afghanistan sah er negativ. Den Afghanen könne bei der Suche nach stabilen Verhältnissen allenfalls geholfen werden. Und während sich etwa US-Außenminister Powell für die Entsendung internationaler Friedenstruppen nach dem Krieg gegen die Taliban aussprach, warnte Brahimi mit Hinweis auf tiefgehende Ressentiments der Afghanen vor einem Einsatz "ausländischer Truppen".

UN-Generalsekretär Kofi Annan beurteilte von vornherein das eigenständige Vorgehen der USA gegen Afghanistan negativ. Seine Haltung zu einer Übernahme von Verantwortung durch die UNO war von Ambivalenz geprägt: Einerseits erklärte er die Bereitschaft, die Weltorganisation in eine Funktion zu setzen, sobald der Krieg beendet wäre. Andererseits war offenkundig, dass er das Risiko eines Scheiterns der UNO in einer solchen Mission und die Gefahr eines Rückschlags für die UNO hoch bewertete. Bereits Anfang November 2001 sprach sich Annan für die Zeit nach einer Entmachtung der Taliban eindeutig gegen ein UN-Protektorat aus. In einem Interview erklärte er, bislang gebe es keine Antwort auf die Frage, was nach dem Ende der US-Angriffe geschehen solle. Drei Möglichkeiten würden erwogen: eine UN-Blauhelmmission, ein multinationaler Militäreinsatz oder eine rein afghanische Lösung. Annan gab einem Zusammenwirken der afghanischen Kräfte, also einer "afghanischen Lösung", den Vorzug, weil dies "der beste Garant für die Stabilität des Landes" sei.

Dessen ungeachtet war von Anfang an davon auszugehen, dass sich die UNO engagieren würde, wenn sich die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats hierauf verständigten. Vor diesem Hintergrund versuchte Brahimi nach einer geschlossenen Sitzung des Sicherheitsrats am 24. Oktober 2001 erneut, einerseits Illusionen über Möglichkeiten externen Agierens in Afghanistan entgegenzuwirken und andererseits den Sicherheitsratsmitgliedern auszureden, die UNO vor unrealistische und nicht zu bewältigende Aufgaben zu stellen. Bei einer Interimsregierung komme es vor allem darauf an, dass die Afghanen das Gefühl hätten, selbst zuständig zu sein; alles andere habe keine Zukunft. Die Hauptstadt Kabul und später das ganze Land dürften nicht an eine einzige ethnische Fraktion, politische Partei oder an eine "untaugliche Allianz" fallen.

Annan warnte in diesem Kontext die USA ebenfalls vor einer politischen Situation in Kabul, die nach dem Sturz der Taliban und einer eventuellen Machtübernahme durch die Nordallianz von neuerlichen Grausamkeiten gekennzeichnet sein könnte. Er forderte die USA und Großbritannien auf zu überlegen, wie aus der Hauptstadt und der umliegenden Region eine neutrale Zone zu bilden sei. Dies sei etwas, worüber sich diejenigen Gedanken machen müssten, die in die von den USA geführte Bombardierung Afghanistans involviert seien.

Hinsichtlich einer Entsendung von UN-Friedenstruppen äußerte sich Brahimi mehrfach skeptisch: "Friedenserhaltung bedeutet, dass da ein Friede zu erhalten ist. Diese Situation ist qua Definition dazu nicht geeignet. Für Friedenserhaltung braucht man das Einverständnis aller Parteien." Der dann von ihm als "wünschenswerteste Lösung" bezeichnete Vorschlag - die Schaffung einer gemischten afghanischen Friedenstruppe mit Unterstützung der Vereinten Nationen - blieb weit hinter den Visionen zurück, die vor allem die NATO-Mitglieder, aber auch Staaten wie Iran und Russland, in den vorangegangenen Wochen eingebracht hatten.

II. Politische Konzeptionen und militärische Realitäten

Bezeichnend für eine Situation, in der es der Politik an klaren Vorgaben mangelt und sie zu einem Appendix der militärischen Entwicklung wird, war dreierlei: Erstens veränderten sich die Vorschläge für eine Post-Taliban-Ordnung je nach militärischer Konstellation. So wurden, als die Bombardements drei Wochen lang keine Auflösungserscheinungen bei den Taliban erkennen ließen, in Washington Teilungspläne ventiliert. Sie ordneten den Norden Afghanistans der Nordallianz zu, den paschtunischen Süden gegebenenfalls den Taliban. Während US-Außenminister Powell vor dem Fall Kabuls eine Beteiligung "gemäßigter Taliban" an einer Übergangsregierung in Übereinstimmung mit der pakistanischen Haltung verlangte, übernahm er unmittelbar danach die russische Position und lehnte eine derartige Partizipation ab.

Zweitens wurden von unterschiedlichsten Seiten die divergierendsten, sich teilweise krass widersprechenden Vorschläge eingebracht. Iran und Russland unterstützten die Nordallianz in ihrem Vormarsch und den Machtanspruch des ehemaligen Staatsoberhauptes (und Tadschiken) Rabbani, US-Präsident Bush warnte die Nordallianz vor einer Regierungsbildung, während sich die Europäische Union für den früheren afghanischen König Zahir Schah als Oberhaupt einer künftigen afghanischen Übergangsregierung aussprach. Die jeweiligen partikularen Interessen auswärtiger Akteure oder auch sich verlagernde politische Opportunitäten waren vielfach ohne große Mühe erkennbar.

Für die Unklarheit über das politische Vorgehen und die politischen Perspektiven war drittens das institutionelle Durcheinander bei der Organisation des anvisierten "politischen Prozesses" kennzeichnend. Es gab eine ganze Zahl von Afghanistan-Beauftragten unterschiedlicher internationaler Organisationen wie auch einzelner Staaten, deren Koordination nur punktuell sichtbar wurde.

Nach dem Fall Kabuls intensivierte sich die Hektik diplomatischer Aktivitäten. Zuvor hatte sich die politische und militärische Führung in Washington die Bedenken bezüglich der Entstehung eines unkalkulierbaren Machtvakuums aufgrund eines unkontrollierten Einmarsches der Nordallianz in Kabul zu Eigen gemacht. Die Bombardements hatten Erfolge der Opposition im Norden des Landes ermöglichen sollen, nicht aber einen schnellen Einzug in die Hauptstadt. Zwei Faktoren hatten eine Veränderung der US-Militärstrategie Anfang November 2001 bedingt: Der eine bestand in der Enttäuschung über die Erfolglosigkeit diplomatischer Bemühungen, eine afghanische "repräsentative" Schattenregierung zustande zu bringen. Das zweite Problem war operativer Natur: der herannahende Winter und der Fastenmonat Ramadan. Beides erhöhte den militärischen wie den politischen Druck, mit der Kriegführung voranzukommen.

Darüber hinaus waren heftige Zweifel an der Strategie sowie Kritik an der "Erfolglosigkeit" des operativen Vorgehens nicht nur bei den neuen Verbündeten unter den islamischen Ländern, sondern auch in den USA und bei den NATO-Mitgliedern immer lauter geworden.

Wie berechtigt die Befürchtungen waren, erwies sich im Augenblick des Einmarsches der Nordallianz in Kabul. Wie erwartet, waren die neuen Machthaber weniger an einer repräsentativen, multiethnischen, demokratischen Regierung interessiert als an der Absicherung eigener Positionen. Der "Außenminister" der Nordallianz, Abdullah, ließ gleich nach der Einnahme Kabuls verlauten, ausländische Truppen würden nach der Flucht der Taliban-Milizen nicht mehr gebraucht. Der ehemalige Präsident Rabbani, der sich selbst sofort wieder als Präsident zu etablieren suchte, sprach sich gegen eine "Vermittlerrolle" des früheren Königs Zahir Schah aus.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach den politischen Möglichkeiten und Zielen, nach Kompetenzen und Strategien jener "Streitmacht der Freiwilligen", die auf Basis des Beschlusses des Sicherheitsrats vom 14. November 2001 zur "militärischen Absicherung" des Ziels rekrutiert werden sollten, "möglichst rasch die Grundlagen für die Bildung einer Übergangsregierung" in Kabul zu schaffen.

Die Aktivitäten, die Brahimi mit dem Sieg der Nordallianz einzuleiten hatte, blieben von vornherein hinter den geschaffenen Tatsachen zurück. Zugleich war bereits eine Anpassung an die neuen Realitäten erkennbar. Der UN-Sonderbeauftragte ließ verlauten, er wolle mit der Nordallianz den "politischen Rahmen für die Zukunft des Landes abstecken". Dann sollten Vertreter anderer ethnischer Gruppen dazustoßen. Er werde versuchen, "eine hoffentlich repräsentative Auswahl der afghanischen Bevölkerung zusammenzubringen und zu sehen, welche Art von Interimsvereinbarungen wir für Kabul ausarbeiten können" . Die zuvor von westlichen Politikern ins Auge gefasste UN-Supervision der Bildung einer multiethnischen, repräsentativen Regierung war inerhalb von 48 Stunden einer pragmatischen Sicht auf die neuen Machthaber in Kabul gewichen.

Die Diskussionen über Zeitpunkt, Zusammensetzung, Tagungsort, Verlauf und andere Modalitäten der in Deutschland kurzfristig vorbereiteten, für Ende November anberaumten und am 5. Dezember beendeten Afghanistan-Konferenz, auf der über die politische Neuordnung nach den Taliban beraten wurde, waren ebenfalls Ausdruck einer Politik, die den militärischen Realitäten hinterherlief. Schon im Vorfeld verschärfte sich die Diskrepanz zwischen westlichem Wunschdenken und afghanischer Wirklichkeit. US-Außenminister Powell und US-Präsident Bush sprachen sich für "wirtschaftliche Freiheit" und eine "freie Gesellschaft" in Afghanistan aus, in der auch Frauen eine "bedeutende Rolle" zu spielen hätten. Der "Außenminister" der Nordallianz, Abdullah, äußerte sich zunächst hingegen eher skeptisch über die Notwendigkeit einer ethnisch breit gestützten Regierung.

Und gleichzeitig wurden die ersten Vorwürfe an die Adresse der Vereinten Nationen laut: Von pakistanischer Seite kam die Kritik, die Weltorganisation beginne erst fünf Wochen nach Kriegsbeginn, über eine politische Lösung nachzudenken. Absehbar ist, dass die Vorhaltungen gegenüber den Vereinten Nationen in den nächsten Monaten und Jahren noch viel lauter werden - nicht zuletzt von denjenigen, die die Aufgabe des State-building nach noch nicht einmal beendetem militärischen Regimewechsel der UNO übertragen haben.

III. Erfahrungen der UNO beim State-building

Fast alle State-building-Bemühungen der UNO fallen in die neunziger Jahre, die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges. Vordem gab es nur eine Mission, die auf derartige Maßnahmen unter den Auspizien der UNO gerichtet war: 1962/63 in West Papua.

Die wichtigsten Missionen (und gleichzeitig diejenigen, die eine gewisse Beispielfunktion für ein Vorgehen in Afghanistan aufweisen könnten) sind die in Kambodscha (1992/93), Somalia (1993-1995), Bosnien-Herzegowina (seit 1995) (obschon im strengen Sinne keine UN-Mission, weil in Verantwortung des Büros des Hohen Repräsentanten ), Ost-Timor (seit 1999) und Kosovo (seit 1999).

Die Analyse dieser Fälle von State-building durch die UNO lässt in Bezug auf Afghanistan wenig positive Erwartungen aufkommen. Dies umso mehr, als die Lage in Afghanistan ungleich schwieriger ist als im kleinen Ost-Timor (6 000 qkm, 800 000 Einwohner) und in den beiden südosteuropäischen Fällen. Am ehesten lässt sich die afghanische Situation mit Kambodscha und Somalia vergleichen.

Die Operation in Kambodscha galt seinerzeit als die ambitionierteste und teuerste Peacekeeping-Operation der UNO. 22 000 Soldaten und Beamte sollten die Umsetzung der im Oktober 1991 in Paris vereinbarten politischen Beilegung des Krieges gewährleisten. Die United Nations Transitional Authority in Cambodia (UNTAC) wurde damit beauftragt, eine politische Übergangsfunktion vor allem mit dem Ziel einzunehmen, durch Wahlen eine legitime Regierung für das Land, das lange Zeit unter gewaltsamen Aufständen und humanitären Katastrophen hatte leiden müssen, hervorzubringen. Doch schon kurze Zeit nach den Wahlen mussten die Erwartungen als enttäuscht angesehen werden: Den Mitarbeitern der Vereinten Nationen war es nicht gelungen, die wichtigsten Ziele des Pariser Friedensabkommens auch nur annähernd durchzusetzen. Erstens war es ihnen nicht möglich, das versprochene "neutrale Klima" für die Wahlen herzustellen. Zweitens gelang auch die Sicherstellung der Einhaltung des Waffenstillstandes durch die Roten Khmer und die Truppen der Regierung in Phnom Penh nicht. Drittens wuchs trotz der Anwesenheit der UNO die Zahl der Flüchtlinge stetig an. Und viertens geriet die Entwaffnung und Kasernierung von Soldaten aller Kriegsfraktionen ins Stocken. So war nach einem Jahr Einsatz nur knapp ein Zehntel der Truppen demobilisiert worden. Dies alles führte schließlich dazu, dass das öffentliche Vertrauen in die Behörde und in den Friedensprozess ernsthaft litt.

Die Operation in Somalia stellte in zweierlei Hinsicht eine Neuerung im Vorgehen der Vereinten Nationen dar: Erstens wurde mit der Resolution 794 vom 3. Dezember 1992 erstmals eine eindeutig interne und humanitäre Krise zur Bedrohung der internationalen Sicherheit und des Friedens erklärt, wodurch Maßnahmen zur Durchsetzung des Friedens in Form der Etablierung einer United Task Force (UNITAF) gerechtfertigt erschienen. Und zweitens wurde erstmals der Anspruch fallen gelassen, das Eingreifen in einem Staat bedürfe einer Einladung durch dessen Regierung; seinerzeit existierte in Somalia gar keine Regierung, die die Autorität gehabt hätte, eine solche Einladung auszusprechen. Zum ersten Mal wurde also fehlende Staatlichkeit (und das damit einhergehende Chaos sowie der Bürgerkrieg) als Bedrohung der internationalen Staatengemeinschaft angesehen.

Mit der UN-Operation in Somalia (UNOSOM 2) unternahm die internationale Gemeinschaft den Versuch, in den Bürgerkrieg zu intervenieren, um Frieden durchzusetzen. Anfangs fehlten Personal und Ausrüstung. Nachdem die Truppenstärke auf 37 000 gut ausgerüstete Soldaten aufgestockt worden war, war es diese Stärke sowie die dann erhobene Zielsetzung, den Warlord Mohammed Farah Aideed festzunehmen, die es UNOSOM 2 verunmöglichte, Neutralität zu wahren. UNOSOM 2 wurde selbst zu einem Faktor im somalischen Kriegsgeschehen. Von großen Teilen der somalischen Bevölkerung als Invasoren angesehen, hatten sich die UN-Truppen nun neben der Aufgabe der Beilegung des somalischen Krieges auch noch gegen Angriffe beider Kriegsparteien sowie der Zivilbevölkerung zu verteidigen. Das Fehlen realistischer Ziele bedingte das Scheitern der UN-Intervention in Somalia.

Beide UNO-Interventionen, sowohl die in Kambodscha als auch die in Somalia, gelten in ihren generellen wie in vielen ihrer konkreten Zielsetzungen als gescheitert.

Eine Analogie zur Ausgangslage für das State-building in Afghanistan zum Fall Kosovo im Jahre 1999 ergibt sich insofern, als auch dort das herrschende Regime durch externe militärische Maßnahmen zur Aufgabe gezwungen wurde. Allerdings handelt es sich bei Kosovo um eine ethnisch zu 90 Prozent homogene politisch-administrative Einheit, die gerade einmal zwei Drittel der Größe Schleswig-Holsteins aufweist (etwa 10 000 qkm, 2 Millionen Einwohner). Im Gegensatz zu einem eventuellen Einsatz einer "Streitmacht der Freiwilligen" in Afghanistan agieren die UN-Streitkräfte im Kosovo (KFOR) auf Grundlage eines Friedensabkommens. Dieses erfüllt alle politischen und militärischen Bedingungen, die von Seiten der NATO/UNO zuvor an die Konfliktparteien gestellt worden waren.

Doch selbst im Kosovo sind wesentliche politische Zielsetzungen eines State-building-Auftrags nicht erreicht worden: Auch nach Stationierung von 50 000 Soldaten und dem Einsatz praktisch aller relevanten internationalen Organisationen konnte weder die Vertreibung der nichtalbanischen Ethnien verhindert noch die Entwaffnung der UCK durchgeführt werden.

IV. Voraussetzungen in Afghanistan

Eine analoge, realiter noch viel kompliziertere und weiterreichende Aufgabe ist in einem asiatischen islamischen Land von der fast zweifachen Größe der Bundesrepublik Deutschland um ein Vielfaches schwieriger zu bewältigen. Die ethnischen Gegebenheiten sind ungleich heterogener, die klimatischen, kulturellen und infrastrukturellen Voraussetzungen ungleich problematischer. Die militärischen Bedingungen sind auf nicht absehbare Zeit mit ungleich höheren Risiken belastet. Wenn sich bereits für das Kosovo kein Zeitrahmen angeben lässt, der die UNO-Aktivitäten begrenzt: Welche Limitierung ist für Afghanistan denkbar? Drei Bedingungen sind für ein alternatives State-building unabdingbar, garantieren aber noch lange keinen Erfolg, wie die meisten Beispiele derartiger UNO-Aktivitäten (von Kambodscha über Somalia bis nach Bosnien-Herzegowina) zeigen:

- Massive militärische Präsenz ist nötig, um die minimalen Voraussetzungen (law and order) für den "politischen Prozess" zu gewährleisten;

- die externe Leitungsorganisation muss ein hohes Maß an Autorität, Verfügungsgewalt und Kompetenz besitzen, um sich gegenüber rivalisierenden Gruppen im Land durchzusetzen;

- massive Aufbauhilfe ist nötig, um den externen Verantwortlichen die Möglichkeit der Schaffung sozioökonomischer und politischer Grundlagen für das intendierte State-building (und hierüber bedingte Legitimität) zu verleihen.

Alle drei Voraussetzungen sind in Afghanistan außerordentlich schwer zu realisieren.

Wenn für das Kosovo nach Abschluss eines Friedensabkommens 50 000 Mann gebraucht wurden, wie viele sind dann für Afghanistan nötig? Wer soll diese Truppen stellen? Wie werden diese Truppen akzeptiert? Wenn es sich um Truppen aus islamischen Ländern handelt - welche Autorität und Effizienz ist mit Blick auf die Sicherstellung von Ruhe und Ordnung zu erwarten?

Abgesehen von organisationsinternen Kapazitäten hängen Autorität, reale Verfügungsgewalt und Kompetenz der UNO auch von den Voraussetzungen ab, die die afghanischen Verhältnisse selbst für eine State-building-Rolle der Organisation bereitstellen. Afghanistan bietet dafür, wie angedeutet, wenig Anhaltspunkte. Dem Gelingen einer UN-Intervention steht eine Multiethnizität im Wege, die seit der Staatsgründung einen prekären Charakter aufweist. Zu den wichtigsten Ethnien gehören die Paschtunen (38 Prozent), die Tadschiken (25 Prozent), die Hazaren (19 Prozent), die Usbeken (6 Prozent), sowie zahlreiche kleinere ethnische Gruppen (Aimak, Turkmenen, Belutschen u. a.). Ihre religiös-islamische Zugehörigkeit zu den Schiiten (15 Prozent) und Sunniten (etwa 84 Prozent) ist nicht streng nach Ethnien zu trennen. Sprachliche Unterschiede tragen das Ihre zur schwierigen Lage bei. Zudem gibt es weitere Überschneidungen bezüglich der Regionen, in denen die einzelnen Volksgruppen beheimatet sind.

Dabei stellen die genannten Zahlen grobe Zuordnungen dar, die mit Blick auf eine beabsichtigte "ausgewogene Repräsentation" aber zum Politikum werden: In Afghanistan hat noch nie eine Volkszählung stattgefunden. Die Schätzung über die Einwohnerzahlen reichten in der Vergangenheit von 15 bis 26 Millionen. Dazu kommt ein politisches System, das im modernen Sinne keines ist. Die politische Macht ist stark "dezentralisiert": Sie liegt bei den Stämmen bzw. den Stammesältesten und lokalen Machthabern, für die das Zentrum Kabul meist nicht weniger weit entfernt ist als ehedem die sibirische Dorfgemeinschaft vom Zaren in Moskau.

In kultureller Hinsicht bieten das Clan- und Stammeswesen sowie die religiöse Determination des privaten wie des öffentlichen Lebens ebenfalls keine positive Ausgangslage für ein von außen induziertes State-building. Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat mit grenzüberschreitender ethnischer Vernetzung, in dessen Rahmen Verwandtschaft, Stammeszugehörigkeit und regionale Unabhängigkeit einen höheren Stellenwert einnehmen als die Frage nach der Nationalität. So leben beispielsweise (ebenfalls geschätzt) zwölf Millionen Paschtunen in Pakistan, die im Norden siedelnden Tadschiken stehen viel stärker mit der Bevölkerung des angrenzenden Tadschikistan in Verbindung als mit großen Teilen des "eigenen" Landes; Ähnliches gilt für Turkmenen und Usbeken.

Ökonomisch ist Afghanistan vorwiegend agrarisch geprägt. Über zwei Jahrzehnte Krieg haben das Land in hohem Maße verarmen lassen; Afghanistan gehört zu den ärmsten Regionen der Welt. Im Krieg gegen die Sowjetunion und danach im Bürgerkrieg wurden große Teile der institutionellen und physischen Infrastruktur zerstört, was zu einer fortschreitenden Erosion der Wirtschaft geführt hat, die heute aus kaum mehr als ländlicher Subsistenzwirtschaft und geringfügigem grenzüberschreitendem Handel besteht. Das Pro-Kopf-Einkommen ist entsprechend den limitierten Möglichkeiten zur Unterhaltsbeschaffung gering. Laut Untersuchungen besitzt Afghanistans Territorium die Kapazität, mehr als die notwendigen Lebensmittel zu produzieren, doch kann dieses Potenzial nicht genutzt werden, solange im Land Krieg herrscht. Ein Großteil der Einwohner leidet Mangel an Nahrungsmitteln, Kleidung, Wohnung und medizinischer Versorgung. Das Ausbleiben der Niederschläge seit Herbst 1999 ließ die Situation schließlich Besorgnis erregende Ausmaße annehmen und führte zum Eingreifen der UNO mit Nahrungsmittellieferungen. Laut Angaben der Vereinten Nationen sind mindestens zehn Prozent der Bevölkerung vom Hungertod bedroht, die Tendenz ist steigend.

In sozialer Hinsicht weist Afghanistan überwiegend eine Nomaden- und Bauernbevölkerung auf. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt nach Angaben der UNO bei 40 Jahren, der Analphabetismus rangiert bei 70 Prozent - weitere exemplarische Hinweise auf die in hohem Maße fehlende Infrastruktur in jeglicher Hinsicht.

Zusätzlich zu der prekären ökonomischen Lage im Innern Afghanistans hatten die vom afghanischen Staat lange Zeit nicht unterbundene Opiumproduktion, der Bürgerkrieg und die Loyalität zu Usama Bin Ladin zu einer immer weiter reichenden Isolation des Landes von der internationalen Gemeinschaft geführt. Im November 1999 begonnene UN-Sanktionen trugen weniger zu einer Modifizierung der Politik der Taliban als vielmehr zur Vergrößerung der internationalen Kluft bei.

Damit zusammenhängend stellen sich in Bezug auf ein längerfristiges Engagement der UNO Fragen in finanzieller Hinsicht. Wer soll das Geld für eine Rekonstruktion Afghanistans aufbringen, das ausreichend wäre, um das Land durch externe Hilfe zu führen und zu stabilisieren? Bereits die Summen, die investiert werden müssten, um die Mobilität dort zu stationierender Truppen zu gewährleisten, überstiegen bei dem Zustand, in dem sich Afghanistan befindet, alles, was bisher für derartige Aktionen ausgegeben wurde. Es gibt weithin keine Polizei. In weiten Teilen des Landes sind weder asphaltierte Straßen noch elektrischer Strom, Telefon, Post oder fließendes Wasser vorhanden. 80 Prozent der Bevölkerung haben nicht einmal sauberes Trinkwasser.

Als letzter hier zu nennender Faktor stehen einer Erfolg versprechenden UN-Intervention auch die politischen Konditionen, die sich durch die Stichworte prästaatliche und prädemokratische Strukturen sowie Abwehr "westlicher" Dominanzversuche charakterisieren lassen, entgegen. Der Bürgerkrieg hatte eine Situation geschaffen, in der der Kampf um persönliche Macht geführt wurde und mit dem Streben nach Hegemonie der eigenen ethnischen Gruppe verknüpft war. In der Bevölkerung entstand ein Überdruss an der Fortsetzung des sinnlosen Krieges, den sich die Taliban ab Ende 1994 zunutze machten: Als neue, unverbrauchte, religiös motivierte und einem moralischen Anspruch folgende Bewegung waren sie den zuvor herrschenden Mudschaheddin-Parteien, die sich völlig diskreditiert hatten, überlegen. Binnen zwei Jahren lösten sie diese in der Regierung ab. Die politisch-religiöse Rigorosität unter ethnischen Vorzeichen war es jedoch, die eine nationale Integration auch unter Federführung der Taliban unmöglich machte. Seither bestehen keine funktionierenden Regierungsinstitutionen.

V. Eliten- und State-building unter externem Einfluss

Eine tragfähige Rolle des externen Akteurs UNO ist unter diesen Umständen unwahrscheinlich - noch dazu, wenn die "berechtigten Sicherheitsinteressen" der Staaten im Umfeld Afghanistans "Berücksichtigung" erfahren und damit auf die Politik der UNO beim State-building in Afghanistan Einfluss nehmen sollen. Hier handelt es sich vor allem um Pakistan und Iran, aber auch die zentralasiatischen Staaten, Russland und Indien.

Die Antiterrorkoalition war unter anderen Voraussetzungen als denen eines möglicherweise länger dauernden Krieges der USA in Afghanistan zustande gebracht worden. Die Kriegsentwicklung zusammen mit der Veränderung politischer Ziele führt zu einem Differenzierungsprozess, der im Kontext sich verändernder politischer Zielsetzungen dem Einfluss unterschiedlichster Interessen ausgesetzt ist.

Pakistan protegierte jahrelang die Taliban, um in der Auseinandersetzung mit Indien im Osten und Iran im Westen ein politisch und militärisch sicheres Hinterland zu haben. Die fortdauernde Unterstützung für die paschtunischen Gruppen ist neben extern-strategischen Erwägungen auch dem Sachverhalt geschuldet, dass etwa zwölf Millionen dieser Ethnie östlich der afghanischen Grenze in Pakistan beheimatet sind. Moskau dagegen hilft seit Jahren der Nordallianz, um seinen Interessen in den zentralasiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion und gegen die Taliban Rechnung zu tragen. Die indische Führung äußerte sich (ebenso wie die russische) gegen eine Beteiligung der Taliban an einer zukünftigen afghanischen Regierung, nicht zuletzt, weil diese den Garanten pakistanischen Einflusses auf das Land darstellten und außerdem in der Rivalität mit Pakistan um Kaschmir gegen die indischen Interessen gerichtet seien. Das schiitische Iran wiederum ist ein Gegner der paschtunischen Vorherrschaft im Nachbarland, weil die kulturell-sprachlich wie religiös zum Teil näher stehenden Gruppen der Nordallianz mehr Möglichkeiten und Zuverlässigkeit für die Einflussnahme nach Osten versprechen.

Die politische Schwäche sowie die politische, ethnische und religiöse Heterogenität der Nordallianz als bewaffnete innerafghanische Opposition, die trotz jahrelanger Unterstützung durch Russland, Iran und Indien auf eine Fläche von fünf bis zehn Prozent im Nordosten des Landes zurückgedrängt war und erst nach fünfwöchigem US-Bombardement die ersten Erfolge bei der Eroberung von Städten und Territorien erzielen konnte, ist bezeichnend für eine Konstellation, die für ein alternatives State-building nur äußerst brüchige Fundamente aufweist. Das heißt: Im Gegensatz zu anderen Fällen, in denen ein Bürgerkrieg die Absicht eines extern abgestützten State-building begründete, haben sich in Afghanistan bis zur politischen Absichtserklärung durch Washington noch nicht in einem relevanten Ausmaß alternative Eliten für eine Machtübernahme herausgebildet. Dies wurde erst durch militärische Maßnahmen eingeleitet. Das heißt, die Politik der Regimeeliminierung durch militärische Maßnahmen von außen war nicht Resultat einer lange vorbereiteten Strategie. Sie erwuchs vielmehr daraus, dass die Taliban nicht bereit waren, Usama Bin Ladin auszuliefern, der von den USA für die Anschläge auf New York und Washington verantwortlich gemacht wird. Der Krieg wurde also nicht einmal mit der eindeutigen Zielsetzung begonnen, die Taliban zu eliminieren, auch wenn von Anfang an die militärischen Strukturen der Taliban als ein Ziel der Angriffe genannt wurden. Damit war aber von Anfang an keine Kongruenz des politisch-diplomatischen Prozesses neuer Elitenbildung und des militärischen Vorgehens der Eliteneliminierung gegeben.

Diese Art der Strategieentwicklung brachte diverse Dilemmata zur Wirkung: Militärisch hatten nicht nur Usama Bin Ladin und seine Al-Qaida fast fünf Wochen lang Zeit gehabt, sich auf militärische Angriffe durch die USA vorzubereiten und ihnen auszuweichen, sondern auch die Taliban. Im Innern Afghanistans stößt sich das Ansinnen der USA, eine breite Koalitionsregierung für die Post-Taliban-Zeit zu schmieden, an ethnischen und religiösen Rivalitäten sowie alten und neuen Machtkämpfen zwischen Monarchisten, lokalen Kriegsherren und verfeindeten Fraktionen ohne herausragende Kommandeure und Integrationsfiguren. Extern ergeben sich Schwierigkeiten für eine Lösung wegen der Einflussnahme verschiedener Staaten, die ihre Eigeninteressen in den Vordergrund stellen, vor allem Pakistans und Irans. Aber auch die USA, Russland, Indien, die nördlichen zentralasiatischen Anrainer, europäische Staaten und andere Akteure wollen mitreden.

Die Afghanistan-Konferenz in Bonn Ende November und Anfang Dezember 2001 verbesserte die Voraussetzungen für ein Eingreifen der UNO nur begrenzt.

Zwar demonstrierten die teilnehmenden Gruppen mit Blick auf die für den 5. Dezember angesetzte Geberkonferenz zum Wiederaufbau des Landes Konzilianz. Die vertretenen Gruppen einigten sich auf eine "Interim-Authority", die ab 22. Dezember 2001 die Amtsgeschäfte übernehmen sollte. Neben einer Reihe innerafghanischer Unwägbarkeiten blieben indes wesentliche konkrete Punkte und noch mehr die strategischen kontrovers: vom Problem, wie eine internationale "Friedenstruppe" zusammengesetzt sein, bis zur Frage, wie die künftige Staatsform Afghanistans aussehen sollte.

Beeinträchtigt war das Bonner Treffen und sein Ergebnis auch dadurch, dass es von diversen politischen und militärischen Führern in Afghanistan als nicht repräsentativ und von "Ausländern" dominiert abgelehnt wurde. Divergenzen hatten darüber hinaus von Anfang an zwischen den aus Afghanistan angereisten Repräsentanten und den zur Konferenz ebenfalls eingeladenen Exilgruppen bestanden.

Der zweite für die ins Auge gefasste State-building-Funktion der UNO zentrale Problembereich war nicht weniger umstritten als die Führungsfrage: wie eine militärische Absicherung des "Friedensprozesses" erfolgen könne. Schon zur Gewährleistung der elementaren Versorgung der Bevölkerung und zur Linderung der mit dem Winter sich ausweitenden humanitären Katastrophe war nach Ansicht der UNO und aller westlichen Politiker eine mit einem "robusten" Mandat ausgestattete und möglichst schnell einzusetzende externe Truppe notwendig. Doch abgesehen von schon erwähnten kulturell bedingten Vorbehalten wollte sich zunächst die Nordallianz die Absicherung ihrer Positionen im noch nicht einmal beendeten Krieg nicht durch auswärtiges Militär streitig machen lassen. Andere Gruppen der Afghanen stimmten dagegen einer Stationierung auswärtiger Kräfte nicht zuletzt aus machtpolitischem Kalkül zu: Ohne solche Kräfte würde die Nordallianz noch weniger bereit sein, die Macht im Land zu teilen.

Dabei war die angestrebte Übereinkunft unter den an der Konferenz Beteiligten hinsichtlich einer UN-"Friedenstruppe" nur ein Teil des Problems: Abgesehen von den ungelösten Fragen des Mandats, seines Umfangs und der Finanzierung, waren die ventilierten Vorschläge über Zusammensetzung und Führung solcher militärischer Kräfte Ausdruck des bereits angesprochenen Dilemmas: Einerseits herrschte die Überzeugung vor, ohne einen "westlichen" Kern, der die militärisch anspruchsvollen Komponenten zu stellen haben, gehe es nicht. Damit waren in erster Linie die USA und Großbritannien gemeint. Andererseits wurde die Befürchtung gehegt, dass genau diese Länder aufgrund der Kriegführung in Afghanistan selbst zu einem Sicherheitsrisiko für eine "Friedenstruppe" werden könnten. Das war auch der Grund, warum eine russische Beteiligung nicht in Erwägung gezogen bzw. von Moskau negativ beschieden wurde. Wenn indes überwiegend Militär aus islamischen Ländern die notwendigen UN-Truppenkontingente füllten, würde sich nicht nur die Frage nach deren Fähigkeiten und der "Neutralität" stellen, sondern auch die des Zusammenwirkens mit westlichen Streitkräften in einer multilateral zu besetzenden Führungsstruktur.

Vor diesem Hintergrund lehnte wie Russland auch das Brüsseler Hauptquartier der NATO eine Beteiligung an internationalen Friedenstruppen von vornherein ab, während zunehmend "unbelastete" Länder wie Deutschland und Spanien sowie die Europäische Union für eine Führungsfunktion in die Debatte gebracht wurden. Auf der Bonner Konferenz wurde nur umso deutlicher, dass einerseits weder die UNO noch bedeutsame Mitglieder wie Deutschland sich den Zwängen entziehen können würden, die sich aus der durch den Krieg noch verschärften chaotischen Lage in Afghanistan und den beschriebenen Umständen ergäben. Und dass es andererseits gerade die Kontingenz der Lage war, die für die UNO im Allgemeinen und für alle in Afghanistan an einer internationalen Truppe zu beteiligenden Streitkräfte im Besonderen eine größere Herausforderung und ein höheres Risiko bedeuten würde als alles, was bisher in dieser Richtung von der "internationalen Gemeinschaft" versucht worden ist.

VI. Terror und asymmetrischer Krieg

Vier Aspekte weist die Frage auf, ob das militärische Vorgehen in Afghanistan produktiv mit Blick auf das letztliche Ziel der Terrorbekämpfung ist:

- Werden die Terroristen und ihre Helfershelfer getroffen?

- Wird das Chaospotenzial und der Antrieb verringert, aus dem sich die Terroristen rekrutieren?

- Wird der internationale Kampf gegen den Terror gestärkt?

- Wird die Sicherheitslage in den vom Terror betroffenen Ländern verbessert?

Um das Terrorregime der Taliban und um die Terroristen, die durch das Bombardement getroffen wurden, ist es nicht schade. Doch die erste Frage selbst dann mit Skepsis zu beantworten, wenn Bin Ladin gefasst oder getötet wird, die Taliban in ganz Afghanistan von der Macht verdrängt werden und ein Demonstrations- und Abschreckungseffekt durch die Kriegführung unterstellt wird: Das militärische Vorgehen ist in einer Form erfolgt, die es den Terroristen (auch außerhalb Afghanistans) leicht gemacht hat, ihre Positionen zu räumen und zu reorganisieren, bevor sie angegriffen wurden. Außerdem bindet der Krieg in Afghanistan militärische, politische, wirtschaftliche und diplomatische Kapazitäten, die für ein viel breiter angelegtes gezieltes militärisches Vorgehen auf der Ebene von Low-intensity-Kriegführung gegen terroristische Strukturen fehlen.

Die zweite Frage ist ebenfalls keineswegs eindeutig positiv zu beantworten, auch wenn in kurzer Zeit begonnen werden sollte, den Plan in Angriff zu nehmen, durch umfassende Hilfe das Land aufzubauen. Die Diskrepanz zwischen Absichtserklärungen und ihrer Realisierung oder Realisierbarkeit, die schon in allen anderen Fällen eines versuchten State-building zu konstatieren war, dürfte in Afghanistan besonders drastisch ausfallen. Der Krieg hat das Land zusätzlich verwüstet, erheblich zum Flüchtlingschaos beigetragen und vielen Bewohnern ihre ohnehin schwachen Lebensgrundlagen genommen. Berichte über Bandenüberfälle auf die Büros von Hilfsorganisationen prägen die Nachrichten, und von Verhandlungen über sicheres Geleit für Hilfslieferungen kann nicht ausgegangen werden, solange der Krieg und der Bürgerkrieg im Gange ist.

Wie das Vorgehen der Nordallianz nach dem Rückzug der Taliban aus dem Norden des Landes und aus den Städten gezeigt hat, wird versucht, das entstehende Vakuum durch einen teilweise gewaltsam geführten Machtkampf zu füllen, weil eine anerkannte alternative staatliche Autorität nicht existent ist und von außen nur begrenzt auf diese Situation eingewirkt werden kann.

Sowohl in Afghanistan als auch im islamischen Ausland verstärkt sich der Antiamerikanismus, womit der Nährboden für den Terror noch tiefer wird. Der Krieg nicht nur gezielt gegen Terroristen, sondern in der Perzeption großer Teile der islamischen Bevölkerungen von Afrika bis zu den Philippinen gegen ein Land, dessen unschuldige Einwohner unter den Bombardements zu leiden haben, steigert die Bereitschaft, zum Mittel des Terrors zu greifen. Den Extremisten laufen nicht weniger, sondern mehr Leute zu.

Gleichzeitig ist eine Distanzierung von Staatsführungen islamischer Länder von der US-Strategie ersichtlich, in Form eines konventionellen Krieges den Kampf gegen den Terror zu führen. Außerdem wird dieser Kampf durch den innenpolitischen Druck in islamischen Ländern geschwächt, den größere Teile von Bevölkerungen, die das Vorgehen der USA verurteilen, auf ihre Staatsführungen ausüben. Auch die Regierungen der islamischen Länder in Asien haben bereits ihren Unmut über Wünsche der US-Regierung geäußert, gegen Angehörige des Al-Qaida-Netzes und andere Terrorismusverdächtige offen oder verdeckt auch in Indonesien oder Malaysia vorzugehen.

Vor diesem Hintergrund kann höchstens partiell - resultierend vor allem aus der Abschreckung gegenüber Regimen, die bisher Terroristen auf ihrem Staatsgebiet geduldet haben - von einer Verbesserung der Sicherheitslage in den westlichen Ländern durch den Afghanistan-Krieg gesprochen werden. Zugleich zeigt das Zögern, mit aller Konsequenz gegen Staatsführungen vorzugehen, die den Terror in viel gefährlicheren Dimensionen unterstützen als die Taliban - etwa Irak und Saudi-Arabien (dessen Zuwendungen, wie auch denen Pakistans, die Taliban einen wesentlichen Teil ihrer Macht zu verdanken hatten) -, welchen politischen und anderen Opportunitäten der "Kampf gegen den Terrorismus" unterliegt.

Die USA wie die UNO geraten darüber hinaus in ein spezifisches Dilemma: Engagieren sich die Vereinigten Staaten vor allem politisch-militärisch sichtbar und nachhaltig, stoßen sie auf noch größere Aversionen in der islamischen Welt als ohnehin schon. Ziehen sie sich zurück, droht ein anderes Desaster: Ob Washingtons Interesse an einem "umfassenden Engagement" in Bezug auf Afghanistan bestehen bleibt, wenn das Kriegsziel der Tötung Bin Ladins und seiner Unterstützer sowie der Eliminierung der Taliban-Führung und -Streitkräfte erreicht ist, wird sich erst noch herausstellen. Die Risiken eines längerfristigen Engagements mit Blick auf das State-building sind hoch. Angesichts des Ausmaßes der Schwierigkeiten, in Afghanistan für dauerhafte Ordnung zu sorgen, könnte die Versuchung groß sein, in dieser Hinsicht nur mehr symbolische Politik zu machen. Dies würde die UNO als Organisation wie auch andere Mitglieder der Staatengemeinschaft, die ihre Bereitschaft zur Hilfe erklärt haben, in eine noch schwierigere Lage bringen. Und es hätte fatale Konsequenzen für Afghanistan und die Region.

Daraus ergibt sich als Schlussfolgerung für das Vorgehen gegen den Terror:

Im Prinzip nicht kontrovers sind Maßnahmen zur Erhöhung der inneren Sicherheit in den westlichen Ländern und Bemühungen, zentrale Krisenherde zu beruhigen, die mentaler wie realer Ausgangspunkt für Selbstmordterrorismus sind (wie z. B. der israelisch-palästinensische Konflikt). Das Gleiche gilt für die Unterbindung von Finanzströmen für terroristische Organisationen sowie die Einwirkung auf islamische Länder, extremistische Koranschulen zu schließen, in denen Hass und Terror gegen die westliche Welt und "Ungläubige" gepredigt wird. Auf der militärischen Ebene scheint indes das verdeckte Vorgehen von dafür ausgebildeten Spezialgruppen und die Erweiterung solcher Kapazitäten und Aktivitäten sowie die Verstärkung und Koordination geheimdienstlicher Tätigkeit mit Blick auf Terrororganisationen Erfolg versprechender als das Mittel konventioneller Kriegführung und Regimewechsel. Zumal eine ganze Reihe von Ländern existiert, die entweder nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, auf ihrem Territorium operierenden Terrororganisationen das Handwerk zu legen. Darüber hinaus sind die Kalamitäten zu berücksichtigen, die sich aus einer zusätzlichen Destabilisierung von Staaten und aus einer westlicherseits durch Krieg forcierten Regimeveränderung ergeben. Schließlich sind auch der Umfang und die Bindung von Ressourcen zu gewärtigen, die mit einer solchen Kriegführung und den danach notwendig werdenden Rekonstruktionsmaßnahmen verbunden sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zu State-building-Aktivitäten der UNO siehe das von der Carnegie Corporation, Ford Foundation und MacArthur Foundation geförderte Forschungsprojekt der International Peace Academy "Transitional Administrations: Self-determination, state-building, and the United Nations", http://ipacademy.org/Programs/Programs.htm, S. 3, am 22. 10. 2001.

  2. Resolution 1378 (2001), http://www.un.org/Docs/scres/2001/res1378e.pdf, am 19. 11. 2001.

  3. Die Betonung, dass sich der Krieg nicht gegen die afghanische Bevölkerung, sondern gegen das Taliban-Regime richte und deswegen nicht von einem "Krieg gegen Afghanis"tan" gesprochen werden könne, ist insofern unsinnig, als das Verbot der Kriegführung gegen Zivilisten eine völkerrechtliche Selbstverständlichkeit darstellt.

  4. Vgl. "Straw für langfristiges Engagement", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 23. Oktober 2001, S. 9.

  5. Der Begriff "Nation-building" geht noch über das in Bezug auf spezifische UN-Aktivitäten gebräuchliche "State-building" hinaus. Zusätzlich zu Letzterem bedeutet es neben der Schaffung eines vor allem institutionell verstandenen gesamtstaatlichen Reglements die Herstellung jener gesellschaftlich-politischen Identitätsaspekte in der Bevölkerung eines Staates, die das Eigenverständnis als Nation bedingen. Ein "nation-building" in Afghanistan und in anderen failed states mit externer Hilfe forderten unmittelbar nach Kriegsbeginn Jeffrey Bartholet, Owen Matthews und Roy Gutman, Rising Above The Ruins, in: Newsweek vom 8. Oktober 2001.

  6. Manche Experten sprechen von mehr als 50 Stämmen. Die Selbstzuordnung zu einem der 33 Stämme, einer bestimmten Ethnie oder Religionsgemeinschaft, einer linguistischen Gemeinschaft, einem ausgedehnten Familienverband, einer Region oder einer Provinz bedeuten in Afghanistan nicht per se Feindschaft gegenüber einem anders definierten Individuum bzw. einer Gruppe oder auch gegenüber einer nationalstaatlichen Perspektive. Doch hat die kriegerische Vergangenheit des Staates gezeigt, dass sich die bestehenden Unterschiede leicht zur Allianzbildung sowie zur Ein- und Ausgrenzung instrumentalisieren lassen. Vgl. Jochen Hippler, Afghanistan: Von der "Volksdemokratie" zur Herrschaft der Taliban, in: Joachim Betz/Stefan Brüne (Hrsg.), Jahrbuch Dritte Welt 1998, München 1997, S. 165-184; http://www.jochen-hippler.de.

  7. Vor dem 14. November 2001 akzentuierte er immer wieder die vordringliche Rolle der humanitären Hilfe. Das neu hinzugekommene Mandat der UNO in Afghanistan unterstreiche lediglich die Notwendigkeit internationaler Hilfe beim Wiederaufbau des Landes zu gegebener Zeit; den "Aufbau einer Post-Taliban-Regierung schließe dies jedoch eindeutig nicht ein. UN Information Centre, Press Conference by the SRSG for Afghanistan, Mr. Lakhdar Brahimi, 1. November 2001, http://www.reliefweb.int/w/rwb.nsf/vID/F4C8D67D94A6346985256AF7005AA14F?OpenDocument, am 9. 11. 2001.

  8. Brahimi sagte in diesem Zusammenhang, die Afghanen seien ein stolzes Volk, das es nicht möge, Ausländer in seinem Land zu sehen, vor allem wenn diese Uniformen trügen. Nikola Krastev, Afghanistan: Envoy Says UN "Not Seeking" Nation-Building Role, http://www.rferl.org/nca/features/2001/10/18102001082138.asp, am 22. 10. 2001.

  9. Annan machte unmittelbar im Zusammenhang mit der Resolution, die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach den Terroranschlägen vom 11. September verabschiedet wurde (Resolution Nr. 1368 [2001] vom 12. September 2001), den Vorschlag, die "legitime militärische Selbstverteidigung" gegen den Terrorismus von der UNO führen zu lassen. Nach Beginn des Krieges forderte er die USA dringlich auf, die "Legitimität" durch Beschlüsse des Sicherheitsrats herzustellen. Das lehnte die US-Regierung ab. In der Folgezeit drängte Annan mehrfach und nachdrücklich auf eine "Limitierung der militärischen Angriffe. Vgl. u. a. Press Conference by the SRSG for Afghanistan, Mr. Lakhdar Brahimi, 1. November 2001, UN Information Centre, 1. November 2001.

  10. Vgl. Guy Dinmore/Hubert Wetzel/Christian Rohde, Uno arbeitet an Plan für Nachkriegszeit, in: Financial Times Deutschland vom 25. 10. 2001, S. 9.

  11. Vgl. "Rumsfeld: Krieg gegen Afghanistan wird nicht Jahre dauern", in: FAZ vom 6. November 2001, S. 2.

  12. Press Conference by the SRSG for Afghanistan, Mr.'Lakhdar Brahimi, 1. November 2001, UN Information Centre, 1. November 2001.

  13. Gegen eine einseitige und nicht kontrollierbare Entwicklung in Afghanistan schlug er zugleich vor, eine neue Regierung unter Beaufsichtigung der UNO solle afghanische Minister aller Volksgruppen umfassen. "Moves to agree post-Taliban rule stepped up", in: Financial Times vom 24. Oktober 2001, S. 1.

  14. Vgl. "Neue Bemühungen um Bildung einer Allianz vor dem Fall Kabuls", in: FAZ vom 25. Oktober 2001, S. 8.

  15. Als wichtigste Pläne wurden von verantwortlichen Politikern benannt: Die UNO sollte die Schaffung einer möglichst breit gefächerten und repräsentativen Koalition unter Einschluss aller Volksgruppen gewährleisten. Ein anderer Vorschlag ging dahin, den ehemaligen Präsidenten Rabbini, der von den Taliban 1996 aus Kabul vertrieben worden war, an der Spitze der Nordallianz die Herrschaft in Kabul übernehmen und sie dann an eine von der UNO geführte "Übergangsadministration" übergeben zu lassen. Eine weitere Variante besagte, die prospektive UN-Übergangsadministration solle eine Loya Jirga einberufen, also eine traditionelle Versammlung der tribalen, religiösen und politischen Repräsentanten, die dann über die Zukunft Afghanis"tans zu entscheiden hätte, möglicherweise mit von der UNO organisierten Wahlen nach einem Jahr.

  16. Allein die USA hatten mit dem Planungsdirektor im Außenministerium, Richard Haass, dem Balkan-Spezialisten James Dobbins und die für Südostasien zuständige Christina Rocca drei Persönlichkeiten, die dafür zuständig erklärt wurden. Bei der UNO sind es der Sonderbeauftragte Lakhdar Brahimi und der Afghanistan-Beauftragte Francese Vendrelli. Die EU versuchte sich ebenso als eigenständigen Akteur ins Spiel zu bringen wie die Arabische Liga und andere internationale Organisationen. Neben den Beauftragten der einzelnen Länder gab es auch die unterschiedlichsten Gesprächs-, Konsultations- und Abstimmungsforen, in denen nichtafghanische Akteure um Einflussnahme rangen, etwa die "Sechs-plus-zwei-Gruppe", bestehend aus China, Pakistan, Iran, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan, Russland und den USA. Dazu fanden auf den unterschiedlichsten Ebenen und in den unterschiedlichsten Kontexten Kontaktaufnahmen und Gespräche zwischen Vertretern der Nordallianz, anderen Vertretern afghanischer Gruppen und exilierten afghanischen Politikern mit den bereits genannten Akteuren statt.

  17. Vor allem der pakistanische Staatschef Musharraf warnte, dass wenn bis zum 17. November die Bombardements nicht eingestellt würden, die Stimmung in den islamischen Ländern gegenüber den USA noch erheblich aggressiver werden könnte. Generell hatte er sich mehrfach mit Hinweis auf die wachsende Empörung der muslimischen Bevölkerung über die zivilen Opfer der Luftangriffe für ein rasches Ende der Bombenangriffe auf Afghanistan ausgesprochen.

  18. Vgl. Hubert Wetzel, Erste Zweifel an der US-Militärstrategie, in: Financial Times Deutschland vom 29. Oktober 2001, S. 10; Erhard Haubold, Die westliche Allianz kommt in Afghanistan nicht weiter, in: FAZ vom 29. Oktober 2001, S. 3. Präsident Putin und andere russische Politiker meinten vor dem Hintergrund zunehmender Kritik an der US-Kriegführung in westlichen Ländern, Russland unterstütze die USA bei ihrem militärischen Vorgehen besser und zweifelsfreier als alle NATO-Länder.

  19. Vgl. "Angebote aus aller Welt für eine ,Streitmacht der Freiwilligen"", in: FAZ vom 16. November 2001, S. 1. "Die Taliban-Führung droht mit der Zerstörung Amerikas", in: FAZ vom 16. November 2001, S. 2

  20. "Angebote aus aller Welt für eine ,Streitmacht der Freiwilligen"", in: FAZ vom 16. November 2001, S. 1.

  21. Ebd., S. 1.

  22. Brahimi reaktivierte die "Gruppe 21", der die sechs Anrainerstaaten Afghanistans, die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats sowie Japan, Deutschland, Indien, Kanada, Italien, die EU-Ratspräsidentschaft und einige andere Länder angehören. Damit sollten die vielen diplomatischen Aktivitäten gebündelt werden, die sich auf den unterschiedlichsten Ebenen mit dem Thema befassten. Nach einem von Brahimi vorgelegten Fünf-Punkte-Plan sollten sich UN-Vertreter mit Sprechern der Nordallianz treffen, um den politischen Rahmen für die Zukunft des Landes abzustecken. Sobald wie möglich sollten diese Gespräche durch Vertreter anderer ethnischer Gruppen ergänzt werden. Dieses Forum soll dann Vorschläge unterbreiten, um einen Vorläufigen Rat einzuberufen, der die Grundlagen einer Übergangverwaltung samt "Regierungsprogramm" ausarbeiten soll. Eine große Versammlung der Repräsentanten von Stämmen und Clans, eine Loya Jirga, sollte diese Übergangsverwaltung und deren Vorhaben billigen. Schließlich sollte eine in einem Zeitraum vom zwei Jahren auszuarbeitende Verfassung von einer weiteren Loya Jirga bestätigt und danach eine neue Regierung gebildet werden. Vgl. Friederike Bauer, Klares Konzept, unklare Wirklichkeit, in: FAZ vom 16. November 2001, S. 16.

  23. FAZ vom 17. November 2001, S. 6.

  24. "Die Taliban-Führung droht mit der Zerstörung Amerikas", in: FAZ vom 16. November 2001, S. 2.

  25. Als wesentliche politische Dimensionen des von der UNO angestrebten State-building werden in dem eingangs genannten Projekt (vgl. Anm. 1) folgende Sachbereiche genannt: "primary responsibility for policing", "primary responsibility for referendum", "primary responsibility for election", "executive power", "legislative power", "judicial power", "treatymaking power".

  26. Das Büro des Hohen Repräsentanten (OHR) ist die leitende Behörde für die Friedensimplementierung in Bosnien-Herzegowina. Im Abkommen von Dayton vom Dezember 1995 wurde dem OHR im Auftrag der internationalen Gemeinschaft die Aufsicht über die Implementation der zivilen Aspekte des Abkommens übertragen.

  27. Vgl. Mats Berdal/Michael Leifer, Cambodia, in: James Mayall (Hrsg.), The New Interventionism 1991-1994. United Nations experience in Cambodia, former Yugoslavia and Somalia, Cambridge - New York - Melbourne 1999, S. 25.

  28. Erhard Haubold weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass man in Paris vier Fraktionen an einen Tisch gezwungen habe, die noch gar nicht friedensbereit gewesen seien. Daneben habe das UN-Personal später an fehlenden Kenntnissen über die Region gelitten. Erhard Haubold, Die Ergebnisse sind miserabel. Der UN-Friedensprozess in Kambodscha ist gescheitert, in: FAZ vom 24. Mai 1994, S. 14.

  29. Vgl. Ioan Lewis/James Mayall, Somalia, in: J. Mayall (Anm. 27), S. 94.

  30. Vgl. Institute for Global Dialogue, UN intervention in Somalia and Mozambique: why success is not always cast in stone, in: Global Dialogue, Volume 5, 1. May 2000, http://www.igd.org.za/publications/global_dialogue/africa/somalia.html, am 9. 11. 2001.

  31. In diesem Zusammenhang wird keineswegs nur von den Extremisten, sondern insgesamt von der islamischen Welt darauf verwiesen, dass kuffar - Ungläubige - "heiligen Boden" nicht zu betreten hätten. Dahinter verbirgt sich einer der Gründe, weshalb die Front gegen die USA nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb Afghanistans über die (diplomatisch vollständig isolierten) Taliban hinausreicht.

  32. Am 19. August 1919 Unabhängigkeit von der britischen Kontrolle über die auswärtigen Angelegenheiten Afghanistans. Vgl. CIA, World Fact Book, http://www.cia.gov/cia/publications/factbook/, am 14. 11. 2001. 1973 wurde erstmals die afghanische Republik ausgerufen. Eine Chronik der afghanischen Geschichte, http://www.afghan-german.de/d/gesch/geschich.htm, am 14. 11. 2001.

  33. Vgl. CIA, World Fact Book 2000. Afghanistan, http://www.odci.gov/cia/publications/factbook/geos/af.html, am 14. 9. 2001.

  34. Vgl. Citha D. Maass, Der Afghanistan-Konflikt: Konfliktmerkmale als Ansatz für ein UN-Vermittlungskonzept, in: Conrad J. Schetter/Almut Wieland-Karimi (Hrsg.), Afghanistan in Geschichte und Gegenwart. Beiträge zur Afghanistanforschung, Frankfurt/M. 1999, S. 153.

  35. Vgl. Open Doors International, Landes-Info Afgha"nistan, http://www.offene-grenzen.de/afghanistan.html, am 9. 11. 2001.

  36. Vgl. University of Nebraska at Omaha, Afghanistan Atlas Project, http://www.unomaha.edu/afghanistan_atlas/data.html, am 9. 11. 2001.

  37. Vgl. "Mit vierzig Jahren ein alter Mann", in: FAZ vom 16. Oktober 2001, S. 13.

  38. Vgl. J. Hippler (Anm. 6).

  39. Vor allem die Europäische Union betonte mehrfach, in einer künftigen afghanischen Regierung müssten alle wichtigen ethnischen Gruppen repräsentiert sein und sie dürfe nicht in Widerspruch zu den Interessen eines oder mehrerer Nachbarstaaten stehen. Vgl. z. B. FAZ vom 18. Oktober 2001, S. 7.

  40. Auch vor diesem Hintergrund war - vor allem nach den in den ersten Kriegswochen ausbleibenden sichtbaren militärischen Erfolgen gegen die Taliban - immer wieder eine mögliche Teilung Afghanistans im Gespräch. Der nördliche Teil könnte demnach unter UN-Verwaltung stehen, im südlichen könnten die Taliban an der Macht bleiben. Vgl. FAZ vom 8. November 2001.

  41. Mazar-i-Sharif z. B. fiel erst 1998 an die Taliban.

  42. Besonders prekär war die mangelnde Unterstützung durch die Paschtunen im Süden Afghanistans. Die Rückschläge in der Einbeziehung der Paschtunen in eine Front gegen die Taliban (mit der Perspektive einer Beteiligung an einer breiten, multiethnischen Nachkriegsregierung) gipfelten Ende Oktober in der Ermordung des Oppositionskommandeurs Abdul Haq, der mit Hilfe der CIA eine paschtunische Widerstandsbewegung organisieren sollte, durch die Taliban. Auch dies veranlasste die USA, sich mehr und mehr auf die Nordallianz als Verbündeten zu konzentrieren, deren Führer jedoch nur den kleineren Teil der Bevölkerung repräsentieren und daher nur begrenzt eine tragfähige Lösung versprechen.

  43. Ins Rampenlicht geriet zumal der pakistanische Geheimdienst ISI im Zusammenhang mit Vermutungen über seine Verwicklung in die Ermordung Abdul Haqs. Der ISI hatte die Taliban jahrelang gestützt und zudem auch direkt mit Bin Ladin zusammengearbeitet. Erst nach dem Anschlag auf den paschtunischen Oppositionskommandeur und die damit verbundenen Vorwürfe, der ISI habe die Taliban mit diesbezüglichen Informationen versorgt, ergriff der pakistanische Präsident Maßnahmen zur Entlassung des Geheimdienstchefs und weiterer Mitarbeiter. Trotz des Wissens über die zweideutige Rolle des ISI sind die USA jedoch vor dem Hintergrund der Militäraktion gegen Afghanistan weiterhin auf seine Informationen angewiesen. Vgl. Udo Ulfkotte, Wer hat Abdul Haq verraten?, in: FAZ vom 2. November 2001, S. 6.

  44. Vgl. Winrich Kühne, Einsatz in Afghanistan, in: FAZ vom 27. November 2001, S. 10.

  45. Zu den Erfahrungen und Erkenntnissen über "kleine Kriege" mit asymmetrischem Charakter und zur Leistungsfähigkeit "überlegener" Streitkräfte in solchen Konflikten vgl. Christopher Daase, Kleine Kriege - große Wirkung. Wie unkonventionelle Kriegführung die internationale Politik verändert, Baden-Baden 1999.

Dr. phil., geb. 1949; Professor für Politikwissenschaft am Institut für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr Hamburg.

Anschrift: Universität der Bundeswehr Hamburg, 22043 Hamburg.
E-Mail: august.pradetto@unibw-hamburg.de

Veröffentlichungen u. a.: Eliten in postkommunistischen Ländern: Die neue Generation von Präsidenten. Studien zur Internationalen Politik, Hamburg 2000; Israel 2000: Identität, Transformation, Sicherheit, Studien zur Internationalen Politik, Hamburg 2001.