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Editorial | Zehn Jahre deutsche Einheit | bpb.de

Zehn Jahre deutsche Einheit Editorial Bürgerinnen und Bürger der Einheit Zehn Jahre deutsche Einheit: Von Häusern und Utopien Neues Deutschland Zehn Jahre deutsche Einheit Deutschland an der Jahrtausendwende

Editorial

Bundeszentrale für politische Bildung

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Zehn Jahre nach der Deutschen Einheit geht es ums Erinnern und um Bilanzen: Wie ist die politische Stimmung in Ost und West?

Über die Zeit unmittelbar vor der Wende, im Herbst 1989, berichtet Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. "Im September 1989 reisten in drei Tagen 15'000 Bürgerinnen und Bürger der DDR über Ungarn in die Bundesrepublik; fast 50 000 folgten bis zum 9. November über die CSSR. Im Oktober 1989 war die Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Leipziger Montagsdemonstrationen auf über 100 000 angestiegen, im November dann auf 500 000 in Leipzig und in Ost-Berlin." Diese Zahlen seien beeindruckend, fährt der Autor fort, der gleichfalls auf die Motive der BürgerInnen eingeht.

Für Rita Süssmuth reißt auch zehn Jahre nach dem Fall der Mauer die Debatte um den Stand der deutschen Einheit, um Fortschritt und Rückschritt nicht ab. In immer kürzeren Abständen werde gefragt, inwieweit sich Ost- und Westdeutsche in Bezug auf Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit, in ihren Einstellungen zur Demokratie, zu ihrer Zugehörigkeit zu Deutschland einander angeglichen oder voneinander entfernt haben. Das Vermessen nehme kein Ende. Und offen bleibe, wie viel Unterschiedlichkeit, wie viel Pluralität akzeptiert, ja erwünscht sei.

Eine sehr persönliche und vor allem ehrliche Sichtweise offenbart der Bericht von Regina General, Redakteurin der Ost-Berliner Wochenzeitung "Sonntag": "So war das auch in diesem bedrückenden Frühjahr, diesem bedrückenden Sommer des Jahres 1989, in dem scheinbar alles lief, wie in den Jahren zuvor: Januar, die Luxemburg/Liebknecht-Demo; der Eklat ganz am Ende, Verhaftungen von Bürgerrechtlern, die meisten Demonstranten hatten nichts gemerkt. Wahlen, die üblichen Prozente, höchstens in den Zehnteln anders. Fälschungen. Sie veränderten nichts. Wer fälschte wozu? Krenz beteuert, er wusste von nichts, aber was heißt das konkret? Dass die kleinen Leute die Diktatur des Proletariats allein durchsetzten, quasi im Selbstlauf? Wohl kaum. Gorbatschows Europäisches Haus faszinierte, vielleicht gerade deshalb, weil Glasnost und Perestroika um die DDR einen Bogen zu machen schienen.

Der beängstigende Abwärtstrend war von jedem zu spüren, die Aushöhlung der Ideale beschleunigte sich; allerdings umweht von einem bislang unbekannt-frischen Lüftchen, das aus unterschiedlichen Richtungen kam: aus der Bürgerrechtsecke, von den östlichen Nachbarn, aus den Grüppchen und Gruppen, die sich Umweltschützer, Freunde des Sputnik oder sonst wie nannten, aus den Kirchen. Die Dummheit einer bornierten Führung setzte weiter auf Verbieten, Reglementieren, Erziehen, Ausweisen und sogar Verhaften. Aber, anders als früher, schreckte das nicht mehr dauerhaft ab."

"Wo waren Sie, als die Mauer fiel?" Dieser Frage geht Susanne Gaschle nach. Nahezu jede Tageszeitung, jeder Rundfunksender habe mit Zeitzeugenbefragungen aufgewartet, als sich im November 1999 die deutsche Einheit zum zehnten Mal jährte. Es gebe Momente, so die Autorin, die sich tief in das kollektive Gedächtnis selbst so moderner, fragmentierter Gesellschaften, wie wir eine sind, eingraben würden: "Wenigstens im Nachhinein möchte jeder sich vergewissern, dass er sie erlebt hat. So berichten Amerikaner einander, wie sie vom Attentat auf Kennedy, und Beatles-Anhänger, wie sie vom Tode John Lennons erfuhren. Die deutschen Zeitungsleser, Rundfunkhörer und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens erzählten sich zum Einheits-Jubiläum ihre Wende-Erlebnisse": Wie sie beispielsweise hatten weinen müssen, als plötzlich Trabbis auf der Autobahn nach Bremen auftauchten. Am häufigsten aber: wie ein Freund, eine Freundin, ein Kollege angerufen und gesagt hatte: ,,Mach' den Fernseher an, die Mauer ist auf." Mach' den Fernseher an." Die Erinnerung an diese Bilder werde bleiben wie diejenige an die Bilder von der ersten Mondlandung.

Der Mitbegründer des Neuen Forum, Jens Reich, gehörte zu denen, die im Herbst 1989 in der DDR voller Hoffnung und Erwartungen bei der Reformbewegung mittaten und dabei keinen Moment lang ernsthaft an die Möglichkeit der deutschen Wiedervereinigung zu diesem Zeitpunkt glaubten. "Ich bin in Deutschland geboren (in Göttingen), bin in meinen ersten Lebensjahren in dieses Land, diese Sprache, in diese Kultur ,,hineinsozialisiert" worden, kam 1945 mit meinen Eltern in den Teil, der erst von den Amerikanern besetzt und später gemäß dem Jalta-Potsdam-Abkommen den sowjetischen Truppen übergeben wurde. Wir wurden ungefragt "Ostzone", dann ungefragt DDR, und ich wurde in meinen Jugendjahren ohne allzu ausdrückliche Belehrung dahin geprägt, dass die deutsche Spaltung nach dem Krieg und allen Verbrechen und Grausamkeiten unvermeidbare Strafe war und wir uns damit abzufinden hätten.

Wann immer sich Protest gegen die Einverleibung Mittel- und Osteuropas in das sowjetische System regte - am 17. Juni 1953, den ich bewusst miterlebte, im Budapester Oktober von 1956, im Prager Frühling von 1968, im blutigen Danziger Winter von 1970, im aufregenden polnischen Solidarnosc-Jahr von 1981 -, stets wurden die verschiedenen Ansätze zu Reformen und zu einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz niedergewalzt. Unsere größte Sorge im Herbst 1989 war daher - mit dem Pekinger Tienanmin-Massaker vom Juni jenes Jahres als unmittelbarem Anschauungsunterricht -, dass die Machthaber wiederum zuschlagen könnten und alles in Gewalt ersticken würden."

Im zehnten Jahr nach der Vollendung der staatlichen Einheit befinde sich Deutschland in politisch schlechter Laune, analysiert Wolfgang Bergsdorf. Die Euphorie der Jahre 1989/90 sei einer Alarmstimmung gewichen, wie sie für ,,Wendezeiten der Geschichte" (Karl Dietrich Bracher) kennzeichnend sein dürfte. Der Einsturz der kommunistischen Strukturen habe die alten Berechenbarkeiten und Denkgewohnheiten beiseite gefegt. Die grundlegenden Umwälzungen in einer so kurzen Zeitspanne, die die Verarbeitungskapazität mehrerer Generationen in Anspruch genommen hätte, würden weniger als Herausforderung denn als Überforderung erscheinen. Noch nie zuvor hätten die Demoskopen einen so hohen Grad an Beunruhigung über die politische Situation gemessen wie im letzten Jahr des alten Jahrhunderts. Die deutsche Bevölkerung sorge sich um die Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit ihrer Regierung. Sie sorge sich um die Leistungsfähigkeit des politischen Systems. Mit dem Resultat: "Das Land befindet sich im politischen Stress."