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Die F.D.P. an der Schwelle zum neuen Jahrhundert | Parteien | bpb.de

Parteien Editorial Zwischen Anpassung und Profilierung Kontinuität im Umbruch Profilkrise und Funktionswandel Die F.D.P. an der Schwelle zum neuen Jahrhundert Die PDS zwischen Kontinuität und Aufbruch

Die F.D.P. an der Schwelle zum neuen Jahrhundert

Jürgen Dittberner

/ 25 Minuten zu lesen

Seit der Bundestagswahl 1998 hat die F.D.P. ihre Funktion als Mehrheitsbeschaffer verloren. Sie ist nunmehr eine von vier Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag.

Einleitung

Am 27. September 1998 begann ein neuer Abschnitt in der Geschichte der F.D.P. Die Funktionspartei hatte ihre Funktion verloren. Was sich 1983 anbahnte, war 1998 vollzogen: Die F.D.P. wurde im deutschen Parteiensystem nicht mehr gebraucht, um Mehrheiten zu sichern oder Machtwechsel herbeizuführen. Seit die ,,Grünen" 1983 in den Deutschen Bundestag eingezogen sind , verlor die F.D.P. ihre Monopolstellung als kleine ,,dritte Kraft". 1998 wurde die Koalition zwischen der Union und den Liberalen abgewählt. Mit 6,2 Prozent Zweitstimmen konnte sich die F.D.P. aber im Bundestag behaupten. Dort ist sie nun, was sie in der Geschichte der Bundesrepublik selten und ungern war: Opposition. Von 1957 bis 1961, als die Union unter Konrad Adenauer als bisher einzige Partei in der Bundesrepublik über eine absolute Mehrheit verfügte, war sie dem ersten Bundeskanzler entbehrlich. Von 1966 bis 1969 reduzierte die große Koalition die parlamentarische Opposition auf die F.D.P. - Am Schluss der Ära Adenauer brachte sich die F.D.P. als Vehikel eines auch damals allgemein gewünschten Kanzlerwechsels wieder ins Spiel: Die Parole ,,Mit der CDU, aber ohne Adenauer" überzeugte 1961 12,8 Prozent der Wähler, aber der anschließende ,,Umfall" der F.D.P. bescherte Konrad Adenauer zwei weitere Kanzlerjahre. In der Zeit der großen Koalition hatten die Liberalen immerhin das Monopol der parlamentarischen Opposition, und mit ihrem Widerstand gegen die Notstandsgesetze sowie dem Wunsch nach einer Versöhnungspolitik gegenüber dem europäischen Osten bereitete sie den Wechsel zur sozialliberalen Koalition vor.

1998 wurde der Kanzlerwechsel von den Wählern herbeigeführt und von SPD und den Grünen vollzogen. In der Opposition ist die liberale Partei neben CDU/CSU und PDS eine von dreien. In einer solchen Konstellation fällt eine eigene Profilierung schwer. Zwar schien das alte Muster noch zu gelten, als die F.D.P. Anfang 1999 wieder in den hessischen Landtag einzog und dort zusammen mit der CDU die bisherige SPD-geführte Regierung ablöste. Doch danach wandelten sich die Verhältnisse. Der offensichtliche Mangel an Professionalität und der abrupte Abgang Oskar Lafontaines potenzierten zwar den normalen Regierungsmalus für ,,Rot-Grün", doch der sich daraus ergebende Wählerumschwung kam nicht der F.D.P., sondern im ,,bürgerlichen Lager" ausschließlich der CDU zugute.

So wurde bei den Landtagswahlen im Herbst 1999 die Verlustserie der SPD begleitet von einer Niederlagenserie der F.D.P. Die Stimmen für die F.D.P. lagen zwischen 2,6 und 1,1 Prozent! Das manifestierte einen rapiden Absturz vor allem im Osten Deutschlands, wo die F.D.P. beispielsweise in Thüringen 1990 noch 9,1 Prozent erzielt hatte, 1994 waren es 3,7 und 1999 ganze zwei Prozent. Zur Jahrtausendwende ist die F.D.P. in keinem ostdeutschen Bundesland im Landtag vertreten, und auch im Westen ist sie in sechs Landtagen nicht präsent, darunter im so wichtigen Nordrhein-Westfalen. Bei den letzten allgemeinen Wahlen des Jahrhunderts, den Kommunalwahlen im ,,liberalen Stammland" Baden-Württemberg am 20. Oktober 1999, erzielte die F.D.P./DVP in den Gemeinderäten 2,8 und in den Kreisen 3,9 Prozent.

Die eigentliche Hiobsbotschaft für die liberale Stammpartei der deutschen Nachkriegspolitik traf Mitte Oktober 1999 ein: Für das ZDF-,,Politbarometer" war ermittelt worden, dass 47 Prozent der Wähler in Deutschland der CDU/CSU ihre Stimme geben würden, wenn Wahlen wären . Das wäre damals die absolute Mehrheit der Stimmen für die Union im Deutschen Bundestag gewesen. Ende 1999 war die F.D.P. auf ihre Stammwählerschaft geschmolzen. Niemals in der Geschichte der Bundesrepublik wurde das Sterbeglöcklein für die F.D.P. mit mehr Berechtigung geläutet als unmittelbar an der Schwelle zum neuen Jahrhundert.

Ist also die Zeit gekommen, im Hinblick auf die Bundestagswahlen 2002 Material für fällige Nachrufe auf eine der verdienstvollsten Parteien der ,,Bonner Republik" zu sammeln, oder hat die Partei - wie ihr erster Generalsekretär Karl-Hermann Flach einst formulierte - ,,noch eine Chance" ? Um Antworten auf diese Fragen geben zu können, ist es wichtig, zu rekapitulieren, wie es kam, dass die Partei des Liberalismus zu Beginn der ,,Berliner Republik" in ihre womöglich finale Existenzkrise geriet.

I. Werdegang einer Funktionspartei

Die Verfassung des nach 1945 gegründeten westdeutschen Staates war urliberal. Zwar hatte die F.D.P. kein Monopol auf deren Liberalismus, aber dessen Hüterin war sie doch wie bei den persönlichen Freiheitsrechten, beim Parlamentarismus und der Marktwirtschaft. Im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik hatte sie sich jedoch von der genuin liberalen Rolle gelöst. Sie entwickelte sich zur Mehrheitsbeschafferin. Nachdem sie darin ihre Monopolstellung verloren hatte, warf sie in ihrer Not verfassungsliberale Grundsätze über Bord: Sie ermöglichte die Einschränkung des Asylrechtes und hielt den ,,Lauschangriff" für wichtiger als die Unverletzlichkeit der Wohnung. Selbst für ihre eigene innere Organisation ermöglichte die Partei des repräsentativen Parlamentarismus den Mitgliederentscheid, das Plebiszit. In der Wirtschaft orientierte sie sich nicht hauptsächlich am freien Mittelstand, sondern mehr und mehr an der Großindustrie. Als sie sich als die ,,Partei der Besserverdienenden" darstellte, untergrub sie damit im Osten Deutschlands ihre Stellung völlig. Gerade dort hatte man auf die Marktwirtschaft und ihre Partei gesetzt. Aber die Gerechtigkeit sollte dabei nicht untergehen. Die F.D.P. verkannte diesen im Osten lebendigen Gedanken, obwohl er zum liberalen Erbe gehört.

Der linke Flügel der F.D.P. verkümmerte. Sowohl für sie als auch für ihre innerparteilichen Gegenspieler war der Rücktritt der verfassungsliberalen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Dezember 1995 ein Symbol für die Machtlosigkeit der ,,Linken" in der F.D.P. Die Parteiführung um Wolfgang Gerhardt war überzeugt, dass für alte sozialliberale Positionen kein Platz mehr in der F.D.P. sei. Der Parteivorsitzende und seine Anhänger sahen es so: Die Bürger fürchteten den Staat nicht als Bedrohung für ihre persönlichen Freiheiten. Im Gegenteil, der Staat sei zu libertinär und müsse energischer werden, damit er seine Bürger besser gegen Kriminalität, multikulturellen Werteverfall sowie Steuern- und Abgabengier schützen könne. Mit dieser Linie hatte die F.D.P. erstmals nach einer langen Durststrecke 1996 tatsächlich drei Landtagswahlen gewonnen, und zwar im Westen Deutschlands.

Die zahlreichen Schwierigkeiten vor Augen, hatte die F.D.P. seit dem Herbst 1994 über sich, den Liberalismus und die politischen Zeitläufe nachgedacht. Die Zahl der aus der Partei kommenden Manifeste, Memoranden und Thesen war unüberschaubar. Die in den Jahren 1994 und 1995 vorhandene Sehnsucht vieler Parteimitglieder nach Analyse, Theorie und Programm sollte die scheinbar ausweglose Lage der F.D.P. verdrängen.

In der alten Bundesrepublik hatte die F.D.P. als kleine Partei eine besondere Position inne: Sie war Mehrheitsbeschafferin und zugleich Funktionspartei . Diese Rolle des scheinbar ewigen Juniorpartners und Korrektivs einer der beiden Hauptparteien war der Partei zugewachsen, von ihr zunächst weder erdacht noch gewollt. Die Liberalen im Lande wollten nach 1945 gerade nicht in die große bürgerliche Union gehen, weil ihnen der Klerikalismus der CDU zuwider war, sie vom christlichen Sozialismus eine Verwässerung der Marktwirtschaft befürchteten und von ihren entschieden nationalen Vorstellungen nicht lassen mochten. Und dass die Liberalen Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre vom bürgerlichen Lager zu den Sozialdemokraten wechselten, hatte nicht hauptsächlich mit Taktik und Finessen zu tun, sondern mit dem Wunsch organisierter Liberaler, eine Politik der Aussöhnung in Osteuropa sowie der Chancengleichheit und Demokratisierung im Inneren zu ermöglichen. Die Metamorphose der Regierung Brandt/Scheel zum Kabinett Schmidt/Genscher erst bewirkte den eindeutigen Wandel der F.D.P. von einer Programm- zu der Funktionspartei. In der nachfolgenden Ära Kohl wurde das Funktionsprinzip perfektioniert.

Der diese Ausrichtung der Partei verordnete, war Hans-Dietrich Genscher. Er hatte sich die F.D.P. nach seinen Vorstellungen geformt: Dieses Instrument wurde von ihm perfekt gehandhabt. Das Publikum nahm Anteil - mal empört wie beim Kanzlerwechsel von Schmidt zu Kohl, mal entzückt wie bei der beherzten Annahme des historischen Geschenks der deutschen Einheit. Liberale Programme bedeuteten in der tatsächlichen Politik wenig: Das sozialliberale ,,Freiburger Programm" wurde durch die konservativeren ,,Kieler Thesen" ersetzt, als es aus der Sicht der Koalitionspolitik an der Zeit war. Die F.D.P. schien ein Rezept für ewiges Leben gefunden zu haben als immer währende, mitregierende und über die Zweitstimmen stets regenerierbare ,,Partei der zweiten Wahl" . Im Laufe der Jahre wurde die Sache zu artifiziell. Mit Genschers Rücktritt vom Amt des Außenministers und Parteivorsitzenden wandelte sich auch das Erscheinungsbild der F.D.P.

Dieses Instrument war von den Nachfolgern nicht mehr zu handhaben. Auserwählte Kronprinzen erwiesen sich als problematisch. Einzig Klaus Kinkel konnte für einige Zeit die Doppelrolle als Vorsitzender und Minister ausfüllen. Doch die Frage nach dem Sinn des eigenen Daseins wurde für die F.D.P. immer dringender. Hinter Kinkel hatte sich mit Hermann Otto Solms ein Fraktionsvorsitzender etabliert, der eigenständige Impulse aus Partei und Fraktion im Interesse der Regierungspolitik abblockte und damit die F.D.P. fast zu einem Teil der ,,Machtmaschine Kohl" machte. Was aber bei Genscher Unterhaltungswert gehabt hatte, wurde bei Solms nicht registriert. Klaus Kinkel musste nach der Wahlniederlage im ,,Stammland" Nordrhein-Westfalen Mitte 1995 Wolfgang Gerhardt als Parteivorsitzendem weichen. Dieser und der neue Generalsekretär Guido Westerwelle definierten die F.D.P. als Deregulierungs- und Steuersenkungspartei und verschafften sich so gegenüber der CDU - wenigstens vorübergehend - etwas Luft.

Dass die F.D.P. 1994 und 1995 den Einzug in mehrere Landtage nicht schaffte und sich in Hessen und im Bund nur mit dem Funktionsargument rettete - ,,F.D.P., damit Kohl Kanzler bleibt" -, war auch eine Folge der Tatsache, dass es bis 1998 - als Berliner Studenten durch ,,Masseneintritte" dort die Übernahme der Partei planten - seit der Studentenbewegung von 1968 keine soziale Bewegung mehr gegeben hatte, die die F.D.P. wenigstens teilweise an sich gebunden hätte. Den Grünen und der Bürgerbewegung begegnete man seinerzeit - wie die Union und die SPD ebenfalls - mit der Arroganz des repräsentativen Establishments. Den Ostdeutschen wollte man die westdeutsche F.D.P. einfach überstülpen. Für die in Deutschland lebenden Ausländer hätte eine liberale Partei natürlicher Zufluchtsort sein können, schließlich postuliert der klassische Liberalismus verschiedene Formen menschlicher Kultur und sieht hierin eine Bereicherung. Aber durch ihre Wankelmütigkeit in der Ausländerpolitik und ihre Unterordnung unter die heimliche Koalition zwischen CDU und SPD auf diesem Feld wurde die F.D.P. nicht zur ersten Adresse für die in Deutschland lebenden Ausländer. Da half es auch nicht, dass die Satzung lange schon die von der Nationalität unabhängige Mitgliedschaft kennt.

Über den Zustand ihrer Partei hatten sich viele Mitglieder lange hinweggetäuscht: Entweder partizipierten sie im Bund, in den Ländern, den Kreisen und den Gemeinden selber an der Macht, waren davon beseelt und ausgefüllt, oder sie produzierten in innerparteilichen Zirkeln liberale Papiere, die nur wenige zur Kenntnis nahmen. Erst der persönliche Verlust des Amtes nach dem Wahlmarathon 1994/95 hat manche F.D.P.-Mitglieder wachgerüttelt. Viele sind seitdem auf der Suche nach den liberalen Zielen der Gegenwart. Dass die Partei seit dem 27. September 1998 weiterhin - wenn auch geschwächt - im Bundestag vertreten ist, erscheint zur Jahrhundertwende weniger als ,,Chance" denn als ,,Galgenfrist".

Nach 1945 hatte sich das Ziel alliierter Lizenzierungspolitik, in Deutschland parlamentarisch-demokratische Verhältnisse zu verankern, mit dem Bemühen deutscher Nachkriegspolitiker getroffen, alle Mängel des Weimarer Systems, welche nach damaliger Meinung die nationalsozialistische Machtergreifung ermöglicht hatten, zu vermeiden. Die Nichtberücksichtigung plebiszitärer Elemente im Grundgesetz, die starke Stellung des vom Bundestag gewählten Kanzlers und die Fünf-Prozent-Klausel waren rechtliche Reaktionen auf die Zerstörung der Weimarer Republik. Das Verhältniswahlrecht wurde verbunden mit Elementen des Persönlichkeitswahlrechtes: Das war der eigentliche rechtliche Nährboden für die F.D.P. Das personalisierte Verhältniswahlsystem war 1957 zusammen mit der Fünf-Prozent-Klausel in Kraft getreten und ist die Reaktion auf die Parteienvielfalt in den Weimarer Reichstagen von 1919 bis 1933. Der neue Parlamentarismus der ,,Bonner Republik" fand in der Bevölkerung schnell Akzeptanz. Dieses System garantierte den Bürgern Stabilität und Wohlstand. Die bürgerlichen Koalitionsregierungen der ersten Legislaturperioden hatten hierfür mit einer Politik die Weichen gestellt, die mit den Schlagworten ,,Wirtschaftswunder" und ,,Westintegration" in die Geschichte eingegangen ist.

Mit dem Versprechen von Stabilität und Wohlstand wurde die westdeutsche parlamentarische Demokratie als gut und richtig verinnerlicht. Von den kleinen Parteien des Jahres 1949 überlebte mit der F.D.P. nur die größte, zuletzt in der Rolle des Juniorpartners der CDU/CSU, und ihre Zukunft ist ungewiss.

Dass die F.D.P. nach 1945 neben der Union als einzige bürgerliche Partei bestehen konnte, hatte seine Ursachen in der freisinnig-antiklerikalen, zugleich marktwirtschaftlichen und nationalen Ausrichtung dieser Partei. Aber vor der Jahrtausendwende sind diese Kategorien nicht mehr relevant. Der Nationalismus ist eine Ideologie des 19. Jahrhunderts und hatte als Gegenbewegung zur dynastischen Erstarrung seinen liberalen Sinn gehabt. Seit der Vereinigung des Saargebietes und der DDR mit der Bundesrepublik ist nun keine nationale Tat mehr zu vollbringen. Marktwirtschaft wollen mittlerweile alle, sogar die PDS. Die Klerikalisierung der Politik gehört der Vergangenheit an. Selbst die konservativsten katholischen Bischöfe trauen sich nicht mehr, ihre ,,Schäflein" in Hirtenbriefen zur Wahl der Union aufzufordern. Der F.D.P. sind ihre traditionellen politischen Betätigungsfelder abhanden gekommen. Konnte sie aber neue erschließen?

II. Frei schwebendes Parteiprogramm

Viele Mandatsträger der F.D.P. sagen, ihre Partei hätte das beste aller Parteiprogramme, nur würde das in der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen. Gemeint sind die ,,Wiesbadener Grundsätze. Für die liberale Bürgergesellschaft", die auf dem Bundesparteitag am 24. Mai 1997 beschlossen wurden . In seiner deklamatorischen Art schwebt dieses Programm jedoch über den Niederungen des politischen Alltags. Die ,,vier Fundamente des modernen Liberalismus" - ,,Verantwortung", ,,Vielfalt", ,,Fortschritt" und ,,Zukunftsverträglichkeit" - sollen das begründen, was die Partei in den beiden späteren Kapiteln ,,die liberale Bürgergesellschaft" und ,,das Prinzip Verantwortung für die nächsten Generationen" nennt. Die ,,Fundamente des modernen Liberalismus" werden dabei auf einem undurchschaubaren Grund errichtet, so dass schwer nachgeprüft werden kann, ob das gezeichnete Gebäude des Liberalismus überhaupt der Wirklichkeit entspricht. So ist in dem ,,Fundamente"-Kapitel immer wieder die Rede davon, die Politik habe ,,ein Trugbild gezeichnet, wonach der Staat Freiheit und Sicherheit in allen Lebenslagen garantieren könne". Aber nirgendwo findet sich ein Hinweis auf einen empirischen Beleg für diese doch sehr gewagte Behauptung. Wenn es an anderer Stelle heißt: ,,Gegen alle Zukunftsangst setzen Liberale die Zuversicht, durch Wandel neue Möglichkeiten zu eröffnen", so drängt sich dem Beobachter der Verdacht auf, dass es jedenfalls Ende der neunziger Jahre allenfalls die Stammwählerschaft von drei Prozent war, die diese Zuversicht der liberalen Partei teilte: Gerade die Zukunftsängste waren es doch, welche der CDU/CSU und der PDS die Wähler zutrieben.

Schwer verständlich ist ebenfalls, warum das Programm auf der einen Seite den Abbau von Regelungen, Bürokratien und das Zurückdrängen des Staates zugunsten der Freiheit der Bürger postuliert, dann aber kryptische Forderungen in ihr Programm aufnimmt wie: ,,Alle politischen Entscheidungen müssen . . . einer Zukunftsverträglichkeitsprüfung unterworfen werden." Glauben die Autoren dieses Programms, das ohne zusätzliche bürokratische Strukturen erreichen zu können? Ähnlich überraschend sind Forderungen nach einem ,,Zuwanderungskontrollgesetz" oder nach Aufnahme eines Artikels in das Grundgesetz, der die ,,Neuverschuldung" des Staates einfach verbieten soll. In derartigen Formulierungen kommen die Widersprüchlichkeiten der Partei zum Ausdruck, die darin bestehen, dass diese sich in der Bundesrepublik zwar zur pragmatischsten aller politischen Parteien entwickelt hat, dennoch aber nicht Abschied nehmen möchte von der Vorstellung, unter der Fahne eines hehren idealistischen Ziels - des ,,Liberalismus" - zu streiten.

Mit dem Begriff von der ,,liberalen Bürgergesellschaft", die keine Funktionärs- und auch keine ,,Staatskundengesellschaft", sondern eine ,,Teilhabergesellschaft" sei, versucht die Partei, eine neue Begrifflichkeit ihren Mandatsträgern an die Hand zu geben. Doch diese Begriffe bleiben blass. Sie reihen sich in die Inflation der Worthülsen moderner Werbestrategen ein. So ist das Plädoyer der F.D.P. für die Markwirtschaft nicht neu. Aber viele Fragen tun sich auf, wenn es heißt: ,,Marktwirtschaft vermittelt Chancen auf Teilhabe. Wer nicht teilhaben kann, ist nicht frei." In einer Marktwirtschaft, die seit Jahren nicht von der Massenarbeitslosigkeit wegkommt bei gleichzeitig explodierenden Unternehmensgewinnen, klingt der als Freiheitsargument gemeinte Satz ,,Wer nicht teilhaben kann, ist nicht frei" im politischen Alltag eher zynisch. Zweideutig ist auch eine Formulierung wie: ,,Nicht der Staat gewährt den Bürgern Freiheit, sondern die Bürger gewähren dem Staat Einschränkungen ihrer Freiheit." Abgesehen davon, dass diese Aussage gerade in Deutschland historisch zweifelhaft ist, klingt sie von der F.D.P. kommend wie eine Rechtfertigung oder Entschuldigung für die Entscheidungen beim ,,großen Lauschangriff" und bei der Einschränkung des Asylrechts.

Für die F.D.P. ist es schwierig, ein visionäres Programm zu formulieren, das zudem von einer Kritik an den von der Partei selber mit geschaffenen Zuständen ausgeht. Zwar versucht die F.D.P., sich in den ,,Wiesbadener Grundsätzen" gegen diesen Einwand zu immunisieren, indem sie erklärt: ,,Auch wir haben zu oft mitgemacht bei der Gefälligkeitspolitik." Aber Strahlkraft für die angedeuteten Visionen kann durch eine derartige Selbstkritik nicht erreicht werden. Das gilt für die ,,Bürgergesellschaft" ebenso wie für den neu in den liberalen Themenkanon aufgenommenen Bereich ,,Verantwortung für die nächsten Generationen". Wie im Übrigen fast immer bei Parteiprogrammen, im Falle der gegenwärtigen F.D.P. aber besonders, sind Wähler mit solchen Proklamationen kaum zu gewinnen. Das lässt sich auch aus der Tatsache ablesen, dass es die Union ist, die einen Zulauf junger Bürger hat, und nicht die F.D.P., obwohl diese das Generationenthema durch ihren Generalsekretär besonders personalisiert.

Dass Funktionäre der F.D.P. beklagen, ihr ,,gutes" Programm würde in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, dokumentiert somit einen gewissen Realitätsverlust in den Führungsetagen der Partei. Dort sollte man wissen, dass die Partei mit der längsten Regierungsbeteiligung in der Bundesrepublik eher praktische Politikvorschläge machen muss als Visionen zu entwickeln, deren Verbindlichkeit man der Partei nicht abnimmt. Zumindest kommt es in der öffentlichen Auseinandersetzung auf das Programm gar nicht an, solange dadurch kein Politikwechsel der Gesamtpartei einschließlich der Fraktion erkennbar ist, das politische Personal im Wesentlichen bleibt und sich außerhalb der Zirkel der Partei keine Gruppierungen und keine intellektuellen Kreise finden, welche die Ideen des Programms aufnehmen oder sich gar darin wiederfinden. Im Unterschied zu den ,,Wiesbadener Grundsätzen" war das ,,Freiburger Programm" immerhin ein Text, der in linksintellektuellen Kreisen seiner Zeit gelesen und heiß diskutiert wurde. Die Grundsätze aus der hessischen Landeshauptstadt werden hingegen nirgendwo diskutiert. Sie schweben frei über dem politischen Alltag der F.D.P. So gesehen sind die ,,Wiesbadener Grundsätze" nicht die Schrift, mit der anstelle der verloren gegangenen neue politische Betätigungsfelder erschlossen würden.

III. Schwache Organisation

Selbst wenn eine Partei ihre politischen Betätigungsfelder gefunden hat, benötigt sie eine Organisation, um diese Felder zu bearbeiten. Ohne ihre Organisation beispielsweise hätte die Union Anfang 1999 ihre politisch erfolgreiche Unterschriftensammlung zur Einbürgerung nicht durchführen können. Parteiapparat und Mitgliederorganisation der F.D.P. dagegen befinden sich zur Jahrhundertwende in einem Zustand zunehmender und sich gegenseitig bedingender Schwäche.

Die von Bonn nach Berlin umgezogene Bundesgeschäftsstelle wird seit Jahren verkleinert. Im Geschäftsbericht 1977 bis 1999 gibt die Partei 38 Mitarbeiter an - ,,unter Einschluss aller Teilzeitkräfte". Doch auch dieser Stamm soll reduziert werden: ,,Aufgrund der sich nach wie vor schwierig gestaltenden Finanzlage der Bundespartei wird in der zukünftigen Bundesgeschäftsstelle eine Zielstruktur von 29 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern angestrebt." Zuvor war der Umzug von Bonn nach Berlin eine Gelegenheit, bei der die Partei sich bereits von 17 Mitarbeitern getrennt hatte. Die Bundesgeschäftsstelle will aus ihrer finanziellen und personellen Not eine Tugend machen, indem sie für die Zukunft ,,stärker auf Projekt- und Kampagnearbeit" setzt. Das bedeutet, dass es für wichtige politische Themenbereiche höchstens temporäre Zuarbeit für die Partei aus der Geschäftsstelle geben wird. Ähnlich schwierig stellt sich die Situation generell dar. Insbesondere im Osten Deutschlands, aber auch in einigen westlichen oder südlichen Gebieten wie beispielsweise Bayern verfügt die F.D.P. nur über rudimentäre Geschäftsstellen. Und diese könnten ohne Unterstützung aus der Bundespartei auch nicht existieren. Im Landesverband Berlin beispielsweise besteht das hauptamtliche Personal der Partei seit Jahren aus drei Sachbearbeitern. Die Aufgaben eines Pressesprechers oder eines Landesgeschäftsführers werden - wenn überhaupt - ehrenamtlich wahrgenommen.

Da, wo Fraktionen existieren, können diese in den ihnen gesteckten Grenzen Aufgaben des schwächer werdenden Parteiapparates übernehmen. Doch das ist nur in Hessen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und im Bund der Fall. Die 43 Personen umfassende Bundestagsfraktion kann dabei vor allem Logistik und den Einsatz ihrer Mitglieder bei Partei- und Wahlveranstaltungen anbieten. Jedoch müssen die Bundestagsfraktion ebenso wie die Fraktionen der Länder darauf achten, dass es nicht zu einer Vermischung von Partei- und Fraktionsarbeit kommt, und darüber hinaus gibt es in der Partei ein verbreitetes Bedürfnis, die Fraktion im Verhältnis zum Vorstand nicht zu mächtig werden zu lassen.

Wie die anderen politischen Parteien auch, leidet die F.D.P. an geringem Zulauf und schwacher Aktivität in der Mitgliederorganisation. Die Zahlungsmoral der eingeschriebenen Mitglieder ist gering und verbessert sich trotz wiederholter Appelle der Schatzmeister nicht. Die Versammlungen der Ortsverbände sind schlecht besucht, und insbesondere in jenen Gebieten, in denen die F.D.P. über keine Mandatsträger verfügt, wissen die Vorstände nicht, mit welchen Themen und welchen Personen sie die Mitglieder locken sollen. In den strukturschwachen Organisationen kommt es immer wieder vor, dass sich nicht genügend Parteimitglieder finden, um die zur Verfügung stehenden innerparteilichen Delegiertenmandate wahrzunehmen. Oft haben untere Parteigliederungen Schwierigkeiten, eine ausreichende Zahl von Unterschriften für die Unterstützung ihrer Wahlkandidaten zu sammeln.

Die Mitgliederzahl im Osten ist stärker rückläufig als im Westen. 1997 und 1998 war der Landesverband Berlin der einzige, der per Saldo Mitglieder hinzugewinnen konnte. Das war die Auswirkung der Beitrittskampagne Berliner Studenten: Mit dem ,,Projekt absolute Mehrheit" (,,PAM") verfolgten die Studenten das Ziel, die Bildungspolitik der F.D.P. zu verändern . Mittlerweile ist dieses Projekt erloschen, und auch die Berliner F.D.P. verliert wie alle anderen Landesverbände wieder Mitglieder.

Besonders drastisch ist der Mitgliederrückgang der Gesamtpartei in den letzten zehn Jahren. Die 1990 in Hannover vollzogene Vereinigung der F.D.P. mit der LDP und NDPD (,,Bund Freier Demokraten"), der ,,Deutschen Forum Partei" und der ,,F.D.P. in der DDR" brachte der Partei einen Mitgliederzuwachs auf fast das Dreifache (1990: 178 625 Mitglieder). Dieser Zuwachs war Mitte der neunziger Jahre jedoch schon wieder vertan (1996: 81 200 Mitglieder). Insbesondere die Mitglieder der ehemaligen Blockparteien hatten bald erkannt, dass die Partei der Marktwirtschaft und der Eigenverantwortung nicht ihre politische Heimat ist. Die Göttinger Politologen Peter Lösche und Franz Walter meinen, die F.D.P. habe mit ihrer ,,westdeutschen Attitüde" ,,ihre vielleicht letzte oder vorletzte Chance" ausgeschlagen, sich ein dezidiertes Milieu zu schaffen: ,,Die ostdeutsche F.D.P. der frühen neunziger Jahre war national orientiert, altmittelständisch, volkstümlich, auch ein wenig sozialliberal . . . und mit zahlreichen Bürgermeistern fest in der Kommunalpolitik verankert." Zweifellos hat die F.D.P. dieses Milieu durch ihre westdeutsche Art sowie durch ihre Personalpolitik in den neuen Ländern verprellt ; es ist jedoch zu vermuten, dass dies ein DDR-Milieu war, das in der gesamtdeutschen Realität mittlerweile ohnehin dahingeschmolzen ist. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts wird die gesamtdeutsche F.D.P. etwa ebenso viele Mitglieder haben wie die westdeutsche Partei vor der Wiedervereinigung im Jahre 1989 (65 485 Mitglieder). Die F.D.P. hat in den neunziger Jahren im Osten nicht nur die Mehrheit ihrer Wähler verloren, sondern auch die Mehrheit der Mitglieder. Der auch im Westen stattfindende Auszehrungsprozess ist hier unübersehbar.

IV. Die bitteren Wahrheiten

Nach der Serie der Niederlagen bei den Herbstwahlen 1999 geben sich die Verantwortlichen der F.D.P. weiterhin Illusionen hin. So kokettiert die Partei damit, nicht bei ihr eingetragene ,,Prominente" an die Spitze von Wahllisten zu setzen. In Hamburg sollte die Rettung vom Modemacher Wolfgang Joop kommen. Doch ist fraglich, ob das Publikum sein zweifellos großes Bedürfnis nach Unterhaltung ausgerechnet bei einer politischen Partei befriedigen möchte. Im Übrigen müsste das Scheitern von Jost Stollmann bei der SPD der F.D.P. deutlich gemacht haben, dass ,,Paradiesvögel" sehr schnell von professionellen Raubtieren der Politik vertilgt werden.

Eine andere Vorstellung der F.D.P. ist, sie müsse nur eine gesellschaftliche Unterstützung aus dem Bürgertum organisieren, dann würde sie zumindest in den Stadtstaaten zum Erfolg kommen. Als die F.D.P. 1995 in Berlin nur 2,5 Prozent der Stimmen erreichte, hieß es, das habe an der verweigerten Unterstützung durch eine liberale Wählerinitiative gelegen. 1999 war eine solche Initiative aktiv, und das Ergebnis war schlechter als vier Jahre zuvor. Wenn die Mannschaft permanent schlecht spielt, nützt auch ein Fan-Club nichts.

Eine weitere Fehlannahme besteht im Glauben, durch Autosuggestion dem Untergang entgehen zu können. Vor jeder Wahl verbreitet die F.D.P.-Führung Zweckoptimismus. Im Saarland, so versicherten F.D.P.-Politiker, hätten sie eine Chance, denn sie würden als Mehrheitsbeschaffer für den Machtwechsel gebraucht. Die CDU dort schaffte die Ablösung der SPD aber ohne die F.D.P. Eine Lageanalyse der F.D.P. blieb aus, und zur Landtagswahl in Schleswig-Holstein Anfang 2000 wurde nunmehr die These ausgegeben, jetzt werde man erfolgreich sein, denn in Deutschlands Norden sei die Partei im Landtag vertreten und das sei ein erheblicher strategischer Vorteil. Es schien vergessen zu sein, dass die F.D.P. bereits aus zwölf Landtagen - in denen sie überall einmal Fraktionen hatte - herausgewählt wurde.

Diese Beispiele zeigen, dass die F.D.P.-Führung selber die bitteren Wahrheiten über ihren Zustand nicht zur Kenntnis genommen hat. So konstatiert der Journalist Albert Schäffer: ,,Die F.D.P. gleicht mehr und mehr einem Kranken, der in seiner Verzweiflung auf Wunderdoktoren hofft, nachdem die Schulmedizin keine Linderung gebracht hat." Wenn sie aber überhaupt Aussichten auf ,,Linderung" haben will, muss der erste Schritt der Therapie der Partei darin bestehen, dass sie die bitteren Wahrheiten über ihren Zustand zur Kenntnis nimmt und diese nicht weiter verdrängt. Die bitteren Wahrheiten der F.D.P. sind:

- In der Ära Kohl hat die F.D.P. ihre Seele für den Machterhalt verkauft und war am Ende nur noch Mehrheitsbeschaffer. Kräftig daran mitgewirkt haben einige aus der Parteiführung mit ihrem Engagement für den bereits erwähnten ,,großen Lauschangriff", also die elektronische Überwachung von Wohnungen nach richterlichem Beschluss mit dem Ziel, die organisierte Kriminalität zu bekämpfen. Hier war abzuwägen zwischen dem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung und dem Interesse von Justiz und Polizei bei der Strafverfolgung. Konservative und Sozialdemokraten mochten sich für das Behördeninteresse entscheiden - eine sich ,,liberal" nennende Partei jedoch hätte als Anwalt für die Grundrechte auftreten sollen. So votierte der Bundesparteitag der F.D.P. zweimal gegen die beabsichtigte Beschneidung der Grundrechte. Aber die Parteiführung wollte es anders, um die Stellung in der Koalition mit der CDU/CSU nicht zu schwächen. Also legte man der F.D.P. einen plebiszitären Mitgliederentscheid vor, der endlich das ersehnte grüne Licht für den ,,Lauschangriff" brachte . Daraufhin trat die liberale Justizministerin von ihrem Amt zurück. Beim Publikum schwand der Eindruck, die F.D.P. sei ,,Hüter der Verfassung". Das stolze Wort ,,Im Zweifel für die Freiheit" nahmen der F.D.P. immer weniger Bürger ab. Diesen liberalen Substanzverlust konnte auch Generalsekretär Westerwelle nicht wettmachen, als er der Partei die Steuersenkung als ,,Alleinstellungsmerkmal" verordnete. Das Publikum spürte, dass das eine Maske war, hinter der sich unausgesprochen Existenzangst verbarg.

- Der Fall ,,Lauschangriff" zeigt weiterhin, dass die F.D.P. ihre einstige Fähigkeit verloren hatte, wirtschafts- und verfassungsliberale, rechts- und linksliberale Strömungen in sich zu vereinigen. Der Niedergang des politischen Liberalismus in der Weimarer Zeit hatte auch damit zu tun, dass die verschiedenen Strömungen des Liberalismus vor 1933 in unterschiedlichen Parteien organisiert waren. Gehörten einerseits die linkere ,,Deutsche Demokratische Partei" (DDP), ab 1930 in ,,Deutsche Staatspartei" umbenannt, und andererseits die ,,Deutsche Volkspartei" (DVP) von 1919 bis 1928 in unterschiedlichen Koalitionen zu den tragenden Parteien der Weimarer Republik, so waren sie 1933 in Gestalt der ,,Staatspartei" auf zwei Prozent Stimmenanteil geschmolzen. Die Organisation des deutschen Liberalismus in mehreren Parteien hatte sich nicht bewährt. Der F.D.P. nach 1945 war es dann gelungen, das ,,liberale Schisma" in eine Organisation zu transformieren. Zwar gab es stets eine Dominanz der einen Strömung - meist der ,,rechten" -, aber die jeweils andere wurde nicht eliminiert. Zumindest in einigen Landesverbänden konnte sich die jeweils ,,zweite Stimme" halten. Das war von Vorteil für die Partei, denn nicht nur unter den Mitgliedern, sondern auch unter den Wählern gab es stets liberal Orientierte, von denen die einen mehr die Freiheit des Marktes (,,Rechtsliberale"), die anderen aber mehr die Freiheit des Bürgers gegenüber dem Staat betonten (,,Linksliberale"). Letztere Gruppe wurde nach und nach aus der Partei verdrängt. Der erste linksliberale Exodus geschah Anfang der achtziger Jahre, als mit Günter Verheugen, Helga Schuchardt, Ingrid Matthäus-Meier und Andreas von Schoeler zahlreiche ,,Linke" die F.D.P. verließen. Die verbliebenen Protagonisten dieser Richtung wie Gerhart Baum oder Burkhard Hirsch wurden in der Folgezeit politisch aufgerieben, und deren Flügel war nach dem Rücktritt von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger praktisch nicht mehr existent. Die Parteiführung gefiel sich fortan darin, zu erklären, es gäbe keinen ,,Bindestrichliberalismus". Währenddessen schrumpfte ihre Organisation zusammen, und die liberalen Linken im Lande fanden ihre Heimat bei der SPD und bei den ,,Grünen", oder sie gesellten sich zur ,,Partei der Nichtwähler".

- Die Erklärung einiger F.D.P.-Politiker, die F.D.P. sei die ,,Partei der Besserverdienenden", führte zu einem totalen Einbruch im Osten Deutschlands. Dort gelten soziale Gerechtigkeit und Gleichheit mehr als Individualität und Konkurrenz. Auch im Westen des Landes ist die Schar derer, die sich zu den Besserverdienenden hingezogen fühlen, eher gering. Die Partei versuchte, die Relevanz des Begriffes herunterzuspielen oder zu leugnen: Niemals habe ein offizielles Gremium der Partei sich den Titel ,,Besserverdienende" zu eigen gemacht. Die Formulierung kam aber aus den Führungszirkeln der Partei in die Öffentlichkeit und stützte das dort vorherrschende Bild von der Klientelpartei der Reichen. Nicht durch die soziale Struktur ihrer Mitgliederschaft, vielmehr durch die Inhalte ihrer Politik hatte die Partei sich dieses Bild in den neunziger Jahren ,,erarbeitet". Es kommt selten vor, dass eine Partei einen gegen sie verwendeten Kampfbegriff selber liefert! Kein Parteivorsitzender oder Generalsekretär hat bisher ernsthaft versucht, Abbitte zu leisten für den Fehltritt mit den ,,Besserverdienenden".

- Seit die F.D.P. nicht mehr Mehrheitsbeschaffer ist, verblasst die Partei medial und elektoral. Es klingt nicht gerade überzeugend, wenn ehemalige Minister erklären: ,,Opposition macht Spaß." Es ist nur schwer vorstellbar, dass die deutsche Öffentlichkeit ihnen diese Rolle abnimmt. Die Tragik der Partei ist: Sie ist zum Regieren da, aber zur Opposition verdammt. Hat die F.D.P. angesichts ihrer derzeitigen bitteren Lage noch einmal eine Chance?

Die Auseinandersetzungen mit den bitteren Wahrheiten könnte dann zur Rettung führen, wenn anschließend Hilfe ,,von außen" kommen würde. Die Partei braucht ,,Fortüne". Im Bund, in Nordrhein-Westfalen oder erneut in Baden-Württemberg müsste sie als Partner beim Regieren benötigt werden. Oder sie müsste sich vor dem Hintergrund der zu erwartenden Schwierigkeiten der CDU infolge der ,,Kiep-Kohl-Affäre" als bürgerliche Alternative zur Union profilieren. Aber auch unabhängig davon bleibt der Partei nichts anderes übrig, als an sich zu arbeiten. Sie könnte versuchen, liberale Antworten auf die Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und nach Bürgerrechten in unserer globalisierten und deregulierungsträchtigen Zeit zu geben. Dabei genügt es nicht, auf das vorhandene Parteiprogramm zu verweisen. Vielmehr muss der Weg gefunden werden, die eigenen Konzepte dort vorzuleben, wo immer die F.D.P. noch agieren kann - vor allem auf kommunaler Ebene. Die Partei könnte sich im Osten Deutschlands neu organisieren und für dieses Gebiet eine eigenständige Politikplattform schaffen . Sie müsste sodann vor allem klären, mit wem sie sich in der Politik überhaupt verbünden will: Mit der SPD oder der Union, vielleicht auch mit den Grünen? Und welche Haltung will sie zur PDS einnehmen? Erst nach solcher Selbstfindung mag die Partei sich um Mannschaftsaufstellungen kümmern und einige derjenigen in den Vordergrund stellen, die jetzt in der zweiten Reihe auf ihre Chance warten. Bleibt die F.D.P. hingegen bei ihrem Immobilismus und redet sie sich weiter die Lage von Niederlage zu Niederlage schön, dann ist es wahrscheinlich, dass sie bei der Bundestagswahl 2002 absteigt und im ,,Schatten der Macht" verschwindet.

Gibt es denn in der ,,Berliner Republik" keinen Bedarf an liberalen Politikentwürfen? Sollte es da nicht eine Partei geben, die in die Diskussion über den Umbau des Sozialsystems liberale Positionen einbringt? Gerade angesichts der wachsenden Macht übernationaler Behörden müsste es doch einen verlässlichen Hüter der Bürgerrechte geben. Und wie sehr braucht unsere mediale Spaßgesellschaft Orte, an denen der rationale Diskurs über allgemeine Fragen des Zusammenlebens hoch im Kurs steht. Wenn es nicht die F.D.P. schafft, in diese Rollen zu schlüpfen, wird es andere Parteien geben, die diese Lücken füllen. Die F.D.P. müsste schon aus Eigeninteresse und in Verantwortung für das Gesamte bereit sein, mit diesen bitteren Wahrheiten offensiv umzugehen.

Als ein anderer Weg zur Rettung der Partei wird oft eine ,,Haiderisierung" empfohlen. Die Göttinger Politikwisssenschaftler Peter Lösche und Franz Walter halten das für eine ernsthafte Perspektive, denn ,,rechts ist viel Platz frei" . Der Ruck nach rechts würde eine Tradition des deutschen Liberalismus aufnehmen, die keinesfalls im Rechtsradikalismus münden müsste. Aber, so die Autoren, die F.D.P., wie sie geworden ist, befinde sich mitten im Bürgertum und tauge nicht zum ,,populistischen Opponieren". Auch sei ein ,,deutscher Haider . . . nirgendwo zu erkennen." Diese Einschätzung ist zutreffend, zumal nationalliberale Versuche in der Partei bisher stets gescheitert sind . Die Voraussetzungen wie in Österreich mit der Dominanz einer großen Koalition auf Dauer sind in Deutschland obendrein gar nicht gegeben.

So bleibt nur noch die Chance einer ,,Koalitionspartei im Wartestand" . Da ist allerdings einiges im Fluss, wie sich schon daraus ableiten lässt, dass Hans Vorländer noch Anfang 1999 meinte, feststellen zu können, ,,die strukturelle Mehrheitsposition der SPD" sei ,,in der Bundespolitik vorerst so gefestigt . . ., dass die Sozialdemokraten die F.D.P. als Koalitionspartei nicht benötigen" . Es ist zwar vorstellbar, dass die SPD nach einem neuen Koalitionspartner sucht, bei der im Verlauf des Jahres 1999 aufgetretenen Schwäche der SPD ist es jedoch fraglich, ob von dort überhaupt noch Hilfe für die F.D.P. kommen könnte. Für diese ist dadurch die Lage zum Beginn des neuen Jahres noch ernster geworden, als sie es zu Beginn des Jahres 1999 war. Die F.D.P. ist in der Rolle eines Fußballclubs, der Spiele in Serie verloren hat, nun abstiegsgefährdet ist und den Abstieg nicht mehr aus eigener Kraft abwenden kann, sondern es nur dann schafft, wenn die anderen günstig für den Club spielen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Pikanterweise wurden diese Bundestagswahlen 1983 vorgezogen, um das 1982 im Parlament mit Hilfe der F.D.P. durchgeführte konstruktive Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt und für Helmut Kohl durch die Wähler legitimieren zu lassen. Ausgerechnet diese Wahl wurde zum Entree für die ,,Grünen".

  2. Vgl. Der Tagesspiegel vom 16. 10. 1999, S. 1 und 5.

  3. Karl-Hermann Flach, Noch eine Chance für die Liberalen. Eine Streitschrift, Frankfurt/M. 1971.

  4. Vgl. Jürgen Dittberner, Neuer Staat mit alten Parteien? Die deutschen Parteien nach der Wiedervereinigung, Opladen - Wiesbaden 1997, S. 201 ff.

  5. Ders., F.D.P. - Partei der zweiten Wahl. Ein Beitrag zur Geschichte der liberalen Partei und ihrer Funktionen im Parteiensystem der Bundesrepublik, Opladen 1987.

  6. Vgl. ders., Die ,,PAM" und die F.D.P.: Teilhabe statt Übernahme; in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 30 (1999) 2, S. 389 ff.

  7. F.D.P. Bundesgeschäftsstelle (Hrsg.), Wiesbadener Grundsätze. Für die liberale Bürgergesellschaft, Bonn 1997.

  8. Ebd., S. 50.

  9. Vgl. Anm. 6.

  10. Peter Lösche/Franz Walter, Die F.D.P. Richtungsstreit und Zukunftszweifel, Darmstadt 1996, S. 199.

  11. So übernahmen in Brandenburg beispielsweise zwei westdeutsche F.D.P.-Mitglieder die ministerielle Verantwortung im ersten Kabinett der Ampelkoalition Manfred Stolpes, und der aus Brandenburg stammende Wirtschaftsstaatssekretär wurde bald durch einen ,,Westler" ersetzt.

  12. Albert Schäffer, Die Kompromiss-Schere im Kopf; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 10. 1999, S. 1.

  13. Vgl. Jürgen Dittberner, Vom Irrweg des innerparteilichen Plebiszits, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 29 (1998) 2, S. 352.

  14. Vgl. ders., Erneuerung der F.D.P. Vielfalt statt Bürokratismus und letzte Wahrheiten, in: liberal, 41 (1999) 3, S. 5ff.

  15. Manfred Rowold, Im Schatten der Macht. Zur Oppositionsrolle der nicht-etablierten Parteien in der Bundesrepublik, Düsseldorf 1974.

  16. P. Lösche/F. Walter (Anm. 10), S. 210.

  17. Vgl. J. Dittberner (Anm. 4), S. 250 ff.

  18. Hans Vorländer, Die F.D.P. nach der Bundestagswahl 1998: Koalitionspartei im Wartestand?, in: Oskar Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 1998, Opladen 1999, S. 103.

  19. Ebd., S. 116.

Dr. rer. pol., geb. 1939; 1986-1993 Staatssekretär in Berlin und Brandenburg; seit 1993 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Potsdam.

Veröffentlichungen u. a.: F.D.P. - Partei der zweiten Wahl. Ein Beitrag zur Geschichte der liberalen Partei und ihrer Funktionen im Parteiensystem der Bundesrepublik, Opladen 1987.