I. Einleitung
Es war kein halbes Jahr vergangen seit dem Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung, als sich Bündnis 90/Die Grünen einer Serie von Tests auf ihre Krisenfestigkeit unterziehen mußten. Dem herben Stimmenverlust von vier Prozent bei der Hessenwahl im Februar 1999 folgte die innerparteiliche Zerreißprobe aufgrund des Bundeswehrengagements im Kosovo-Konflikt. Nachdem die Partei darauf hin die Europawahl vom Juni 1999 noch mit 6,4 Prozent der Stimmen (zuvor 10,1 Prozent) überstanden hatte, scheiterte sie in den Landtagswahlen von Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Die erhoffte Erholung im Osten ist in weite Ferne gerückt. Auch im Saarland sank man weit unter die Fünf-Prozent-Marke, und selbst in der einstigen Hochburg Berlin kam es zu einem Aderlass im nun schon üblichen Umfang von drei Prozentpunkten.
Die Mithaftung für zahlreiche Fehler der neuen Regierung, eine unglückliche Zwischenbilanz des grünen Umweltministers, das Wagnis der Befürwortung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr und die schwierige Rolle des Juniorpartners in einer Regierung mit widersprüchlichen Reformzielen - das alles scheinen Gründe genug, um das schlechte Image im Wahljahr 1999 zu erklären. Doch die Liste der Ursachen für heftige Selbstzweifel und das Wiederaufflammen des alten Richtungsstreits ist länger. Waren die so lange auf die Oppositionsrolle abonnierten Grünen tatsächlich vorbereitet, Regierungsverantwortung zu übernehmen? Bestehen nicht erhebliche Diskrepanzen zwischen den Erwartungen von Mitgliedschaft und Parteiaktiven auf der einen Seite und den Realitäten der Entscheidungsproduktion und -verantwortung in der Regierung auf der anderen? Eine tief greifende Selbstreform scheint unabweisbar, wenn die Grünen wieder als realitätstüchtig wahrgenommen werden wollen.
Das erste Jahr der Regierungsbeteiligung auf Bundesebene hat den Grünen nicht nur das Erfordernis einer gründlichen Parteireform eingebracht, sondern auch eine Reihe von Diagnosen und Therapievorschlägen, die der früher üblichen Neigung zu Polarisierung und Selbstlähmung entsagen. Allerdings bemessen sich die Chancen einer Reform der Partei auch nach den strukturellen Bedingungen der Ausgangslage und dem ,,Altbestand" an Krisenfaktoren. Gleichwohl lässt sich eine Option der Selbstgestaltung ausmachen, welche die Rückkehr in eine günstige Wettbewerbsposition verspricht
II. Die neue Wettbewerbssituation der Bündnisgrünen
Weder das zeitweilige Stimmungstief der amtierenden Regierung noch die Probleme der Profilschärfung, welche den Grünen zu schaffen machen, lassen sich ohne einen Blick auf die prekäre Situation zeitgenössischer Mitte-Links-Regierungen verstehen. Damit ist zunächst die seit Ende der siebziger Jahre grundlegend veränderte Situation der westeuropäischen Sozialdemokratie angesprochen. Sozialdemokratische Parteien hatten ihren Zenit als Organisatoren eines Kompromisses zwischen Wirtschaftsinteressen und organisierter Arbeiterschaft schon bald nach den Ölpreisschocks der siebziger Jahre überschritten. Das war jedoch nicht nur der Krise keynesianischer Wirtschaftspolitik geschuldet, wie oft vermutet wird, sondern auch dem soziodemographischen Wandel
Die deutsche rot-grüne Regierung verdankt ihren Wahlsieg ausschließlich der Erschöpfung des Amtsvorgängers. Die Signale, für ,,Innovationen" und ,,soziale Gerechtigkeit" zu sorgen und gleichwohl ,,nicht alles anders, aber vieles besser" machen zu wollen, waren der Versuch, die geschrumpfte Stammwählerschaft um ein Maximum der als ,,Neue Mitte" titulierten Wechselwähler zu ergänzen. Der Verzicht auf ein schlüssiges Politikprogramm ergab sich aber auch als Folge der prekären Machtbalance zwischen dem traditionell orientierten Parteivorsitzenden und dem diffus modernistischen Kanzlerkandidaten. Die Wahl wäre weder mit einem der ,,Neuen Mitte" angepassten Liberalisierungsprogramm noch mit dem Vorhaben einer ,,Reform" der Weltfinanzmärkte zu gewinnen gewesen. Allerdings verhinderte das wahltaktisch erfolgreiche Bündnis einen Regierungsstart auf der Basis klarer Ziele und Mittel.
Der Kompromiss beim Wahlkampfkonzept setzte sich im Zick-Zack-Kurs zwischen Nachwahlgeschenken, innovationsfeindlicher Regulation (Stichwort 630-DM-Jobs) und unvermittelten Sparbeschlüssen fort. Gleichzeitig adoptierte der Kanzler Topoi der liberalen Wirtschaftsrhetorik, vor deren Hintergrund Tony Blair als Robin Hood der Globalisierungsopfer erscheint. Letzterem bescheinigt immerhin die Frankfurter Allgemeine Zeitung, ,,die Macht der Begabungen der vielen gegen die Macht der Privilegien der wenigen" stärken zu wollen.
Auf eine Regierungsbeteiligung unter derart ungünstigen Umständen waren die Bündnisgrünen nicht vorbereitet. Abgesehen von Joschka Fischer, der sich für die Rolle des Außenministers vorbereitet hatte, war der Eintritt in die Regierung ein Sprung ins eiskalte Wasser. Unübersehbare Mängel der politischen Planung, der Parteiorganisation und der fachpolitischen Koordination auf der einen Seite, die Begleitrhetorik vom ,,rot-grünen Reformprojekt" und dem vermeintlichen Aufbruch in eine ,,neue Republik" auf der anderen - das ergab eine peinliche Diskrepanz zwischen Prätention und Kompetenz. In welch ungünstiger Verfassung die Bündnisgrünen Regierungspartei geworden waren, ließ sich allerdings nur für wenige Monate ohne Wahlen verdrängen.
Vor ihrem Scheitern in der ,,Einheitswahl" von 1990 konnten die Grünen auf Bundesebene mit sechs bis acht Prozent der Stimmen rechnen. Ihre Ablehnung der deutschen Einheit ließ die Partei unter die Fünf-Prozent-Marke rutschen und kostete den Wiedereinzug in den Bundestag. Doch als dann der Auszug der Fundamentalisten eine Phase der realpolitischen Konsolidierung ermöglichte, steigerte die Partei ihren potenziellen Stimmenanteil binnen zweier Jahre auf 10 bis 12, zeitweise sogar 14 Prozent
Der im Ergebnis der Bundestagswahl von 1998 (6,7 Prozent) zutage getretene und in den Wahlen von 1999 bestätigte Wählerverlust datiert seit Frühjahr 1998. Er ist nicht den Schwierigkeiten der neuen Regierungspartei zuzuschreiben. Das zeigt die Entwicklung der laufend erhobenen Wählersympathien, die bereits im Prozess der Programmentwicklung zurückgehen und nach der Verabschiedung des Bundestagswahlprogramms im März 1998 auf das frühere Niveau absinken. Das Programm, das außer dem ominösen Fünfmark-Beschluss in Sachen Benzinpreis auch eine Absage an das SFOR-Mandat der Bundeswehr in Bosnien enthielt, wurde von potentiellen (und insbesondere vielen jüngeren) Wählern der Grünen als Rückfall in die Rolle einer auf ihre Innenansicht konzentrierten, nach außen bevormundenden Partei verstanden. Wenige Wochen nach Verabschiedung des Programms hatte die Wahlbereitschaft zugunsten der Grünen den Tiefpunkt erreicht
Die Feststellung mangelnder Vorbereitung auf die Regierungsrolle gründet noch auf einem weiteren Sachverhalt. Entstehung und Aufstieg der Grünen vor 20 Jahren verdankten sich ja nicht nur dem Umweltbewusstsein der Bürger, sondern auch der Unzufriedenheit mit der in etatistisch-technokratischer Attitüde erstarrten Sozialdemokratie. Nachdem diese 1982 auf die Oppositionsbänke zurückgekehrt war, bereitete sie die Wiedergewinnung der Regierungsmacht u. a. dadurch vor, dass sie (ebenso wie später die PDS) größereTeile des grünen Themenkatalogs adoptierte. Während die Grünen die fundamentalistische Systemkritik durch pragmatische Reformkonzepte ersetzten, rückten die Sozialdemokraten durch Programmrevisionen in Sachen Umwelt- und Friedenspolitik, Frauengleichstellung u. a. m. auf ,,grünes" Terrain vor. So wurden die heutigen Koalitionspartner zwar füreinander akzeptabel, aber auch - in den Augen vieler Wähler - tendenziell austauschbar. Berücksichtigt man noch, dass viele ,,grüne" Anliegen häufiger als früher die Zustimmung der Öffentlichkeit und teilweise sogar institutionellen Niederschlag fanden, wird das strukturelle Dilemma der grünen Regierungspartei sichtbar. Einerseits ist ihre Wählerschaft zu schmal, um ,,großen" Gesten beim Konflikt mit der SPD (z. B. in Sachen Atomausstieg) den nötigen Nachdruck zu verleihen. Andererseits lassen sich die Erwartungen der Wähler nicht allein durch gutes Politikhandwerk und demonstrative Koalitionstreue erfüllen
III. Strukturprobleme
Die innerparteiliche Debatte wird von konkurrierenden Problemdiagnosen und Therapievorschlägen bestimmt. Drei Faktoren - Ziele, Organisationsstruktur und Personal - werden verdächtigt, die Grünen immer wieder in Krisen zu stürzen.
1. Tatsächlich ist die Programmentwicklung der Grünen noch stärker als bei anderen Parteien von Identitätsfragen und der Einflusskonkurrenz der Parteiflügel belastet
Unter dem Einfluss vieler naturwissenschaftlich gebildeter DDR-Bürgerrechtler hat auch der einstmals konstitutive Technikpessimismus an Boden verloren. Nachdem die moderne Informationstechnologie ihre Anhänger auch unter den Grünen fand, hat sich der Tenor der Technikkritik gewandelt. Bedingungslose Ablehnung erfährt nur noch die Nukleartechnologie. Über andere technologische Risiken wird mit großer Sachlichkeit geurteilt; Innovationsbefürworter finden ebenso Gehör wie passionierte Kritiker
Verschiedenen Versuchen der Selbstmythisierung zum Trotz war das Prinzip unbedingter Gewaltlosigkeit niemals unbestrittener Teil grüner Identität. Während die einen ,,Waffen für El Salvador" forderten und konsequente Pazifisten wie Petra Kelly eine entschiedene Gegenposition markierten, plädierte die Mehrheit für eine aktive friedenspolitische Rolle Deutschlands, aber nicht für unbedingten Pazifismus. Die Forderung nach militärischer Enthaltsamkeit gründete auf zwei anderen Motiven: zum einen ,,antiimperialistischem" Misstrauen gegenüber NATO und USA, zum anderen einem Verantwortungspazifismus, der sich auf die unheilvolle Rolle Deutschlands in zwei Weltkriegen berief. Schließlich hat auch der Gründungsmythos, dem zufolge die Grünen Produkt und Repräsentant sozialer Bewegungen seien, einem pragmatischen Selbstbewusstsein Platz gemacht. Die Überbleibsel der Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung, die heute überwiegend institutionellen Charakter haben, werden zwar nach wie vor wohlwollend, aber als das wahrgenommen, was sie sind: die Lobby der Umweltbewegung.
Angesichts dieser Selbsterziehung, in deren Verlauf eine ganze Reihe gemeinschaftsbildender Deutungen und Mythen zugunsten komplexerer politischer Diagnosen aufgegeben wurden, können die Bündnisgrünen als eine von fixen Weltanschauungen relativ unbelastete politische Kraft gelten. Damit unterscheiden sie sich sowohl von der CDU/CSU, die auf die Vereinbarkeit konservativ-familialer Werte mit dem individualistischen Ökonomismus schwört, als auch von jenem Teil der SPD, dessen Denkrahmen noch in Zeiten der Globalisierung von den Interessendefinitionen des 19. Jahrhunderts und den Sozialinstitutionen der Nachkriegszeit bestimmt ist. Allein, die Entmythisierung scheint den Grünen Probleme bei der Integration ihrer Mitgliedschaft zu bereiten: Teile der Basis sehen im Ersatz weltanschaulicher Formeln durch rationale Argumente Anzeichen eines Identitätsverlustes.
2. Die These einer Strukturkrise der Partei bezieht sich nicht auf das Grundmerkmal der Bündnisgrünen, dass ihre Organisationsstruktur in ungewöhnlichem Maße ,,basisbestimmt" ist. Während die Trennung von Amt und Mandat sowie die aus Gründen der Geschlechterparität eingeführte Doppelung von Führungspositionen die Vervielfachung von wechselseitig entkoppelten Entscheidungspositionen bewirkten, sorgten einst ,,basisdemokratisch" strukturierte Parteitagsdebatten für die unvermittelte Konfrontation zweier ungleicher Erfahrungswelten. Die Organisationsverfassung inflationiert den Koordinationsaufwand innerhalb und zwischen den Führungsgremien der Partei, während der betont antihierarchische Zug das Verdunsten persönlicher Verantwortung begünstigt: Wer mag schon schwierige Fragen ansprechen, wenn der Widerspruch der Amtskollegin gewiss ist?
Immerhin hat sich das viel kritisierte Vorpreschen von Joschka Fischer, welcher der Partei Anfang 1999 erneut das heiße Eisen einer Führungsreform servierte, zumindest teilweise ausgezahlt. Im Oktober 1999 übernahm der Länderrat die Vorschläge einer Reformkommission, in denen die Trennung von Amt und Mandat zumindest für einen Teil der Vorstandsmitglieder abgeschafft ist. Außerdem soll der erst 1998 geschaffene Parteirat zugunsten eines Präsidiums entfallen, dem die Spitzen der Bundestagsfraktion, des Parteivorstandes, die grünen Bundesminister und Vertreter der Landesverbände angehören.
Dagegen dürfte die ,,Doppelspitze" noch auf längere Zeit unantastbar sein. Sie ist nicht nur Realisation der Frauenquote, sondern auch ein Instrument des Strömungsproporzes, das nur mittels einer satzungsändernden Zweidrittelmehrheit der Parteitagsdelegierten, d. h. mit der Zustimmung beider Strömungen, abgeschafft werden kann. Immerhin würde schon die Reform von Vorstand und Parteirat eine Abkehr vom bisherigen Kurs der Parteientwicklung bedeuten: Statt durch Schaffung immer neuer Gremien und Posten nach ,,innen" zu wachsen, würde sich die Partei erstmals nach Gesichtspunkten der effektiven Repräsentation (nach innen wie außen) organisieren. Dieses Vorhaben scheint aber nur solange aussichtsreich, wie die Strukturdebatte von der Debatte über ein neues ,,inhaltliches" Parteiprofil abgekoppelt bleibt und sich ,,Linke" wie ,,Realpolitiker" einen Steuerungsvorteil ausrechnen können
3. Die These der Unzulänglichkeit des politischen Personals kehrte jüngst in der Kritik zweier Nachwuchspolitiker an den ,,Alt-68ern" wieder. Diese mögen doch aufhören, ,,die Republik mit den Geschichten von damals zu nerven . . . Erwartet nicht von uns Jungen, dass wir so sind wie ihr."
Die Grünen entstanden und wuchsen in einer Ära der Massenarbeitslosigkeit, wie sie Deutschland seit der Weimarer Republik nicht gekannt hat. In der Blütezeit von Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegungen wuchs auch die Zahl der von den Grünen errungenen Mandate und parteiinternen Ämter. Dank der direkten und indirekten Parteienfinanzierung wurde die grüne Parteikarriere zur annehmbaren Option für viele, die auf der Suche nach Lebenssinn und Arbeitseinkommen waren. So manifestiert sich die Konsolidierung der Partei in einer Vielzahl von Biographien, deren Inhaber(innen) wenig Gelegenheit hatten, Wirklichkeitsbereiche jenseits von Elternhaus, Schule, Universität und Wohngemeinschaft kennenzulernen. Ihre Sozialisation in den Gremien der Partei dürfte erheblich zur Verstärkung jenes Phänomens geführt haben, das in der Parteiensoziologie als ,,Radikalität der mittleren Funktionärsebene"
IV. Die Strategiedebatte
Der Absturz in der Wählergunst, den die Umfrage- und Wahlergebnisse seit Anfang 1998 belegen, kann nicht allein durch eine Strukturreform korrigiert werden. Effizientere Führungsstrukturen mögen zwar helfen, das ,,Kommunikationsproblem" zwischen Partei und Wählern anzugehen, und dafür sorgen, dass die ,,grünen Erfolge" frühzeitig und unverkürzt bei der Wählerschaft ,,ankommen"
In den neunziger Jahren ist die Verallgemeinerung ,,grüner" Themen recht weit voran geschritten. Das brachte der letzten grünen Oppositionsfraktion im Bundestag viel Anerkennung nicht nur seitens der Sozialdemokratie, sondern auch mancher damaliger und heutiger Gegner ein. Als Kehrseite der breiten Akzeptanz vieler grüner Themen und Vorschläge ergab sich jedoch eine gewisse Unschärfe des Parteiprofils. Bildeten einst die Themen Umwelt, Frieden, Dritte Welt, Frauengleichstellung, partizipative Demokratie u. a. den ,,harten" Kern der grünen Programmatik, so sind sie heute - in vielerlei Varianten - Allgemeingut geworden. Es genügt, sich die Lehrpläne der Schulen sowie sozial- und naturwissenschaftliche Curricula anzusehen, um die Verbreitung (nicht unbedingt: Popularität) der ,,neuen" Themen, und das heißt auch: die ,,Veralltäglichung des grünen Charismas", zu bemerken
Wurden grüne Parteien einst als Verfechter ,,neuer" Politikinhalte jenseits der traditionellen Rechts-links-Achse des Parteienwettbewerbs verortet
Dank der Popularität ihrer thematischen Anliegen sind die Grünen in eine ,,unkomfortable strategische Position" geraten
Vor dem Hintergrund dieses buchstäblich existenziellen Problems gilt es, die Beiträge zur aktuellen Strategiedebatte auf Lösungsvorschläge abzuklopfen. Den Auftakt machte die erwähnte Polemik junger Realpolitiker, die eine Entrümpelungsaktion auf dem geistigen Dachboden der Partei empfehlen und in der Abkehr vom latenten Etatismus und Anti-Kapitalismus der ,,lieben 68er" eine ,,zweite Chance" der Grünen sehen
Eine nicht minder engagierte Replik des ,,linken" Parteinachwuchses weist das Ansinnen der Realpolitiker zurück und plädiert in der Tendenz für eine Rückwende zu radikaleren Problemdiagnosen und Politikzielen. Die Grünen müssten sich unzweideutig links von der SPD verorten, nicht zuletzt um ,,die Glaubwürdigkeitslücke der SPD (zu) nutzen und mit grünen Konzepten (zu) füllen"
Beide Strategiepapiere kranken an einer Überfrachtung mit gegnerbezogener Polemik und Identitätssignalen an das eigene Lager
Die Option der Linksprofilierung brächte der Partei kaum weniger Integrationsprobleme als ein programmatischer Ruck zur ,,Mitte". Zudem wird bezweifelt, dass die Bündnisgrünen in der Mitte genügend ungebundene Wähler antreffen, um ihr Überleben zu sichern
Die Voraussetzungen für ein Positivsummenspiel von SPD und Grünen sind jedoch sehr unsicher. Einerseits sieht es nicht so aus, als wäre die SPD imstande, ein Modernisierungskonzept zu entwickeln, das die eigenen Stammwähler und CDU-nahe Wechselwähler anspricht. Andererseits wären die Grünen am linken Rand des Parteienspektrums nicht allein, sondern in eine Konkurrenz mit der PDS verwickelt, die offensichtlich Chancen hat, auch im Westen Fuß zu fassen. Dort ist sie zum Leidwesen der Grünen noch mehr als im Osten genötigt, den ,,grünen" Anstrich ihres Linkstraditionalismus zu betonen.
Ein weiterer Nachteil eines Rucks nach links ist, dass die Entfaltungschancen von dezidiert linken Parteien wegen der oben beschriebenen sozialstrukturellen Veränderungen nicht übermäßig groß sind. Sie belaufen sich im Westen vielleicht auf vier bis sieben Prozent der Wählerstimmen, im Osten auf 15 bis 20 Prozent. Ließen sich nun PDS und Grüne auf einen Radikalitäts- und Überbietungswettbewerb ein, so würde das Realitätsdefizit der ,,radikalen" Politikvorschläge umso deutlicher zutage treten und das gemeinsame Wählerreservoir empfindlich schrumpfen lassen.
Die Situation ist also komplizierter, als viele ,,Realos" und ,,Linke" meinen. Das belegen auch die weniger spektakulären Beiträge zur Strategiedebatte. Hier werden die akuten Probleme nicht einer ,,falschen" Positionierung, sondern dem Strömungsproporz zugeschrieben, der klare Mehrheitsentscheidungen über Inhalte und Strategie vereitelt
Hinsichtlich der wahlstrategischen Verortung halten sich die inhaltlich profilierten Diskussionsbeiträge zurück. Zwar kommt auch das Plädoyer zum Bezug der ,,Mitte" vor, allerdings in der Variante, daß es gelte, mit der SPD um die linke Mitte zu konkurrieren und ,,programmatisch das Projekt ,Neue Mitte' selbst zu definieren"
Das Gesamtbild der Debatte, an der sich die prominenteren Führungspersonen kaum beteiligten, offenbart eine Ungleichverteilung sowohl der diagnostischen als auch der kurativen Kompetenz zum Nachteil des linken Flügels. Nachdem man in der Kosovodebatte erfahren hatte, wie wenig Widerstand Mitglieder dieser Strömung gegen eine konsequenzenbedachte Sicht der Dinge aufzubringen bereit sind, scheint die grüne Linke mit weiteren Einflussverlusten zu rechnen und hält sich bedeckt. Das begründet jedoch keine Hoffnung auf eine baldige Überwindung des Strategiedilemmas. Vielmehr präsentieren sich die Grünen im Strategiekonflikt immer noch als ,,zwei Parteien in einer"
V. Auf dem Weg in eine günstigere Wettbewerbsposition?
Die Etablierung der Grünen im westdeutschen Parteiensystem der achtziger Jahre gelang nicht aufgrund, sondern trotz der innerparteilichen Konflikte zwischen Ökosozialisten und Ökolibertären, Fundamentalisten und Realpolitikern. Der Kampf der Ideologien und Weltbilder, waren sie sozialistischen, libertären oder naturphilosophischen Ursprungs, sowie die wiederkehrenden Demonstrationen ,,radikalen" Wollens sicherten den Grünen zwar die Aufmerksamkeit der Medien, aber nicht die Unterstützung der Wählerschaft. Eher war es der Eindruck wichtiger positiver Wirkungen, den die Grünen durch den Positionsbezug auf einer zweiten Dimension der Problemdiagnose und des politischen Wettbewerbs begründeten. Ihr Engagement für die ,,neuen" Themen wirkte hinreichend attraktiv, um dem ideologisch amorphen Neuling solide Start- und Konsolidierungschancen zu verschaffen.
Das Insistieren auf wichtigen Sachthemen warf sogar ein freundliches Licht auf manche ideologische Kontroverse. Mit einem Schuss Wohlwollen konnte man sie als Bemühungen um richtige Antworten auf wichtige Fragen interpretieren; war es doch angemessen, zur Bearbeitung gravierender Probleme alle in Frage kommenden Optionen in Betracht zu ziehen, passende wie unpassende, sozialistische wie kapitalistische sowie ,,dritte Wege" in alle möglichen Richtungen.
Dass die ,,in viele Richtungen zugleich"
Nüchtern betrachtet, sind die Bündnisgrünen von keinem der Übel frei, die als Eigenbeitrag der Parteien zur verbreiteten ,,Parteienverdrossenheit"
Weil die Grünen keiner Weltanschauung und keiner selbstinteressierten Klientel verpflichtet sind, scheinen sie besser als ihre Konkurrenten imstande, ein auf komplexe Sachprobleme fokussiertes Funktionsverständnis auszubilden. Sie müssen weder den Interessennetzwerken der Wirtschaft und Berufsgruppen Tribut zollen noch dem Besitzstandsegoismus der Sozialstaats- und Bildungsinstitutionen huldigen. Statt dessen könnten sie die schon ansatzweise demonstrierte Fähigkeit zur diskursiven Klärung politischer Optionen weiterentwickeln und zu ihrem Markenzeichen machen. Bekanntlich wird in der Wettbewerbsdemokratie die Auswahl von policies regelmäßig der Wettbewerbslogik der politics untergeordnet, was dazu führt, dass die Konkurrenten selbst überlegene Politikvorschläge ihrer Gegner als unangemessen denunzieren ,,müssen", um ihre Wettbewerbsposition zu wahren. Auf der Strecke bleibt immer wieder die vergleichende Betrachtung aller sachlich gebotenen Alternativen, die Explikation der sozialen Konsequenzen im nationalen und internationalen Kontext sowie die Berücksichtigung eines ausreichend weiten Zeithorizonts. In diesem Bedarf der Gesellschaft an ,,politischer Rationalität" liegt nach wie vor die Existenzchance der Grünen.
Gewiss sind auch kleinere Parteien nicht gegen die dem Parteienwettbewerb inhärente Opportunismusversuchung gefeit. Anders als die ,,großen" können sie jedoch auf das Vorhandensein eines Wählersegments bauen, das das Engagement zur exakten Bestandsaufnahme anstehender Probleme und zur Sondierung der in Frage kommenden Politikoptionen zu würdigen weiß. Dass die Bündnisgrünen prinzipiell in der Lage sind, diese Funktion im Parteiensystem zu übernehmen, zeigen ihre Beiträge zur Debatte über die deutsche Beteiligung am Kosovokonflikt. Wohlmeinende Beobachter glauben sogar, darin eine Stellvertreterfunktion für weniger diskursfähige und problem-sensible Akteure zu erkennen.
Der hier als Möglichkeit aufgezeigte Funktionswandel zu einer Art Kollektivexperten für politische Rationalitätsgewinne ist nicht im Selbstlauf der Parteientwicklung realisierbar. Er ist schwierig, fast unwahrscheinlich. Selbst wenn es gelänge, bereits in der aktuellen Strategiedebatte eine entsprechende Weichenstellung vorzubereiten, bliebe das Projekt noch lange Zeit umstritten. Die objektiven Schwierigkeiten schließen jedoch nicht aus, dass die Etablierung einer neuen Wettbewerbsdimension mit den Polen ,,Partikularismus" und ,,Universalismus" angesichts der geleisteten Vorarbeit als ein lohnendes Entwicklungsziel erkannt wird. Immerhin würde es einer Riege kompetenter und weithin geachteter Fachpolitiker/innen den nötigen Entfaltungsraum sichern und gäbe ihnen darüber hinaus die Chance, Einfluss auf das künftige Parteiprofil zu nehmen. Wesentlich ungewisser ist das Verhalten jenes Teils der Mitgliedschaft, der die Grünen als Weltanschauungsgemeinschaft betrachtet und den Entmythisierungsprozess nicht als Gewinn an Entscheidungsvermögen, sondern als Wertverlust verbuchte.
Verstünden es die Grünen, ihre Eignung als Forum des reformpolitischen Sachverstands bewusst auszuspielen, wozu auch die Revision von Stil und Mitteln der politischen Kommunikation bis hin zum Habitus der Amts- und Mandatsträger zählt, so könnten sie dem strategischen Dilemma entkommen, in welchem ,,sowohl Profilierungen nach links als auch zur Mitte hin wenig erfolgversprechend sind"