Einleitung
Nach der Bundestagswahl von 1998 stand für Christian Wulff fest: ,,Die CDU muß eine Reform an Haupt und Gliedern erfahren." Bei der Union sollte seiner Meinung nach ,,alles auf den Prüfstand: das Personaltableau . . . , die Organisation und die Inhalte, um wieder den Anspruch, Volkspartei zu sein, auch tatsächlich auszufüllen"
Bereits im folgenden Jahr schien sich das Blatt wiederum gewendet zu haben. Kaum war Helmut Kohl zurückgetreten und die rot-grüne Regierung im Sattel, glänzte die CDU/CSU bei nicht weniger als sieben Landtagswahlen, zwei Kommunalwahlen und der Europawahl mit Erfolgen. Sie erreichte selbst dann Spitzenergebnisse, wenn sie keine zugkräftigen Kandidaten vorweisen konnte
Sowohl die Spendenaffäre als auch ein genauer Blick auf die Wahlen von 1999 verraten jedoch, dass die Union die von Wulff geforderte Generalinspektion nicht aus den Augen verlieren sollte. Die CDU/CSU profitierte vor allem von der extrem niedrigen Wahlbeteiligung, die sich aus der Unzufriedenheit mit der rot-grünen Bundesregierung ergab. Trotz ihrer Siege verlor die Union häufig an absoluten Stimmen
Zudem zeigen die soziodemographischen Wahldaten, dass die Union ihre Erfolge von 1999 hauptsächlich ihren Kernwählergruppen verdankt. Insbesondere bei den Katholiken, den Selbständigen und den über Sechzigjährigen (vor allem den Frauen) baute sie ihre ohnehin hohen Stimmanteile weiter aus. Angesichts der niedrigen Wahlbeteiligung profitierte die Union von jenen Bevölkerungsteilen, bei denen die Wahlpflicht noch fest zum staatsbürgerlichen Tugendbewusstsein gehört. Mit Stammwählern allein kann jedoch keine Bundestagswahl mehr gewonnen werden. Bei jenen wahlentscheidenden mittleren Jahrgängen, die bei der letzten Bundestagswahl der Union ihre Stimme entzogen, blieben auch 1999 die Zugewinne gering oder sogar aus. Die CDU legte dafür zwar durchgängig bei den Erst- und Jungwählern zu. Aufgrund der geringen Parteibindung, Größe und Wahlbeteiligung dieser Gruppe ist dies jedoch mehr als Signal denn als Polster zu deuten. Die Wählerwanderungsbilanzen verraten schließlich, dass der Wechsel von der SPD zur CDU seltener blieb, als die prozentualen Ergebnisse vermuten lassen. Auch bei ihrem Triumph in Hessen gewann sie vornehmlich Stimmen von der FDP, deren Erosion ihre Regierungsfähigkeit zugleich gefährdet
Insofern bleibt die Frage, welche Neuansätze die CDU seit der Bundestagswahl ausbildete, weiterhin relevant. Gerade wenn man das Jahr 1998 nicht nur isoliert als ein Anti-Kohl-Plebiszit betrachtet, sondern in langfristige gesellschaftliche Wandlungsprozesse einordnet, wird der Handlungsbedarf deutlich
I. Sanfte Übergänge: Die Führungsspitze der CDU/CSU
1. Kohls Rücktritt
Die wohl deutlichste und schnellste Veränderung vollzog die CDU/CSU an ihrer Führungsspitze. Der sofortige Rücktritt des Parteivorsitzenden Kohl erscheint heute wie selbstverständlich. Vergegenwärtigt man sich jedoch, wie langwierig und quälend etwa der politische Abschied von Konrad Adenauer verlief, wird die relative Schärfe dieses Einschnittes erkennbar. Während Adenauer sich weiterhin an den Vorsitz klammerte
Dennoch konnte auch im Jahr nach der Niederlage die parteipolitische Bedeutung von Helmut Kohl kaum unterschätzt werden. Erstens blieb der Ehrenvorsitzende innerparteilich immer noch so präsent, dass eine freie Aussprache über die Defizite seiner Regierungszeit nur verklausuliert vorgenommen werden konnte. Nach wie vor nahm er regelmäßig an den Sitzungen von Präsidium und Bundesvorstand teil
2. Die Diadochen
Der personelle Neuanfang der CDU/CSU wurde zudem durch den unerwartet schnellen Rücktritt führender Spitzenpolitiker wie Manfred Kanther und Theo Waigel erleichtert. Letzterer hielt sich ebenso wie Kohl fast ein Jahr öffentlich zurück, bezog dann aber ebenfalls wieder vereinzelt kritisch Stellung zur CSU. Die neue Führungsgruppe unter dem Vorsitzenden Schäuble und der Generalsekretärin Merkel steht für die Kontinuität im Umbruch. Das gute Wahlergebnis der beiden Kohlzöglinge spiegelte den Wunsch nach einem sanften Wechsel ebenso wie die schlechten Resultate, die Kohl-Kritiker auf dem ersten Parteitag nach der Niederlage erhielten. Norbert Blüm oder Peter Müller konnten etwa bei der Stellvertreter- und Präsidiumswahl nur verhältnismäßig wenige Stimmen auf sich vereinen, Klaus Escher und Rita Süssmuth fielen ganz durch. Verbundenheit mit Helmut Kohl, wie sie etwa Roland Koch gezeigt hatte, wurde dagegen von den Delegierten klar belohnt. Die zum Teil harte verbale Kritik an den Abweichlern ergänzte dieses Bild: ,,Die undisziplinierten Äußerungen zur falschen Zeit und am falschen Ort einiger junger Wilder oder anderer Kritiker haben erhebliche Schuld an der Wahlniederlage", wurde ihnen immerhin vorgeworfen
Ein ähnlich sanfter Wechsel wie beim Parteivorsitz zeichnete sich bei der im Vorfeld hart umkämpften Stellvertreterwahl ab. Rühe, Wulff, Schavan und Blüm setzten im Jahr nach ihrer Wahl kaum Akzente, sondern fielen eher durch ihre bundespolitische Abwesenheit auf
Wie dreißig Jahre zuvor führte der Regierungsverlust zu einer Aufwertung der Fraktion. Aus ihr heraus kamen 1999 Impulse von CDU-Politikern, die - wie Friedrich Merz oder Hans-Peter Repnik - bislang eher unbekannt waren und keine hohen Parteiämter innehaben. Um die so genannten ,,jungen Wilden" wurde es dagegen still. Einerseits, weil sie nicht mehr mit ihren medienkompatiblen Spitzen gegen Kohl glänzen konnten, sondern eigene Ansätze vorbringen mussten. Andererseits verteilten die Landtagswahlen die neuen Rollen: Ole von Beust, Christian Wulff, Christoph Böhr oder Günther Oettinger fehlten die nötigen Wahlerfolge, um Gehör zu finden. Roland Koch und Peter Müller wiesen als Ministerpräsidenten zwar optimale Ausgangspositionen auf, hatten aber zugleich auch weniger Anlass, sich für eine Reform der Bundespartei zu engagieren. Durch kritische Profilierung trat dagegen Jürgen Rüttgers hervor. Mit Rüttgers, Schäuble und Rühe wurden nunmehr drei potentielle Kanzlerkandidaten gehandelt, die als ehemalige Kohl-Minister ebenfalls für einen Neuanfang innerhalb des alten Rahmens standen. Still wurde es dagegen um Edmund Stoiber, der durch die CDU-Wahlerfolge und die LWS-Affäre ins Abseits rückte. Die Harmonie in der CDU-Führungsriege konnte dadurch gewahrt werden, dass die Union konsequent auf alle Spekulationen über den Kanzlerkandidaten verzichtete. Fällt die Wahl nicht auf Schäuble, muss die CDU/CSU einen strahlenden Landtagswahlsieger finden, der zugleich eine integrative Verankerung in der Partei selbst aufweist. Denn genau das war die Stärke von Helmut Kohl und die Schwäche von Gerhard Schröder. Sollte die CDU/CSU diese Entscheidung tatsächlich bis 2001 verschieben, wird dem Kanzlerkandidaten wenig Zeit für eine bundespolitische und innerparteiliche Profilierung bleiben. Nach dem souveränen Wechsel der Führungsspitze steht der wirklich kritische Machtwechsel weiterhin aus.
II. Partielle Neuansätze: Die Organisationskultur der Union
1. Proporz- und Gruppenbildung
Ermöglicht wurde der glatte Führungswechsel sowohl durch die Loyalität in der Partei als auch durch das gezielte Management der alten Parteispitze. Um Harmonie und Ausgleich zu wahren, wurden bei der Vorsitzenden- und der Stellvertreterwahl nur abgezählte Kandidaten aufgestellt. Für die sieben Präsidiums- und 26 Bundesvorstandsplätze waren lediglich je drei Kandidaten mehr zugelassen worden, als Posten zur Verfügung standen. Beides wurde von einigen Delegierten mit dem Hinweis auf den fehlenden demokratischen Wettbewerb kritisiert: ,,Wir hätten gern eine Wahl des Bundesvorstandes gehabt, denn auch der Bundesvorstand darf kein closed shop sein", klagte eine Parteitagsrednerin. ,,Nicht diejenigen, die an der falschen Stelle kandidieren, sondern wir alle schädigen unsere Partei, wenn wir uns selbst die Wahl nehmen."
Denn ein wesentlicher Erfolgsschlüssel der CDU/CSU lag gerade in ihrer Fähigkeit, als ,,große Volkspartei der Mitte" unterschiedliche Gesellschaftsteile nebeneinander zu bündeln. In einem lockeren Geflecht von relativ unabhängigen Gremien und Vereinigungen konnten sich die Gruppen sammeln und ihre zum Teil konträren Forderungen artikulieren. Mit Beginn des neuen Jahrtausends stellt sich allerdings die Frage, wie zukunftsfähig dieses bislang konservierte System noch ist. Einstmals wichtige CDU-Vereinigungen wie der EAK (Evangelische-Arbeitskreis), die OMV (Ost- und Mitteldeutsche Vereinigung) oder auch die CDA (Christlich-Demokratische-Arbeitnehmerschaft) haben ihre Vorfeldfunktion längst eingebüßt. Sie sind Kinder einer spezifischen Nachkriegssituation, in der sie Protestanten, Vertriebene und katholische Arbeiter zur CDU führten. Sie existieren aber nach wie vor. Spätestens seit den achtziger Jahren prägten neue Themengebiete die politische Landschaft, auf welche die CDU/CSU organisatorisch kaum reagierte. Sie setzte weiter auf die alten Organisationen und kreierte beispielsweise keine ,,ökologische Vereinigung", um umweltbewußte Jungwähler zu integrieren. Bei der Reorganisation ihres Gruppensystems steht die Union somit vor einer dreifachen Aufgabe: Sie sollte weiterhin notwendige Organisationen revitalisieren, unzeitgemäße Gremien ersetzen und neue Kommunikationsformen finden, die jenseits des Vereinigungs- und Ausschusswesens liegen.
2. Die Union und die Arbeitnehmer
Zu den Organisationen mit Revitalisierungsbedarf gehört die Arbeitnehmervertretung der Union. Die CDA kann in ihrem derzeitigen Zustand kaum das Arbeitnehmervorfeld integrieren. Ihr Bedeutungsverlust spiegelt sich zunächst in ihrer Mitgliederstärke, die sich seit den sechziger Jahren um fast die Hälfte verringerte, obwohl sich die Gesamtmitgliederzahl der Union mehr als verdoppelte
3. Die Union und die Frauen
Einen ähnlich massiven Umbruch wie bei den Arbeitnehmern verzeichnete die CDU/CSU bei dem weiblichen Teil der Bevölkerung. Seit der Parteigründung bildeten die Frauen die treueste Wählergruppe der Union. Bis 1972 entschieden sich rund zehn Prozent mehr Frauen für die CDU/CSU als Männer
Die viel umkämpfte ,,neue Mitte" besteht eben nicht nur aus Angestellten mittleren Alters, sie ist vor allem auch weiblich. Da Frauen häufiger keiner Partei eine größere Problemlösungskompetenz zuschreiben und eine größere Distanz zum politischen System aufweisen
Erst das 1996 mühsam errungene ,,Quorum", das eine Drittelbeteiligung der Frauen einforderte, leitete Verbesserungen ein
4. Auf dem Weg zur ,,Bürgerpartei"?
Die Union muss generell überdenken, wie sie ihre Basis und ihr politisches Vorfeld neu organisiert. In der ersten Oppositionsphase vollzog die CDU den Schritt von der Volkspartei zur ,,modernen Volkspartei"
Zunächst setzte die CDU ganz auf die neuen Medien. Auf die Frage nach ihren drei Wünschen für die Parteireform antwortete Angela Merkel: ,,Erster Wunsch: Jedes Mitglied bekommt Internet und ist damit auch mit der CDU vernetzt."
Gleichzeitig deutet einiges darauf hin, dass die CDU auch ihre traditionelle Ortsverbandsarbeit verbesserte. Wegweisend für die ,,Bürgerpartei" sind jedoch die Kampagnen, die die CDU/CSU zur Wahlkampfmobilisierung startete. Die insbesondere in Hessen durchgeführte Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft leitete bekanntlich ihre Wahlsiege ein. Es folgte die Rentenkampagne, bei der nicht nur Unterschriften gesammelt wurden, sondern täglich eine Telefon-Hotline zur Verfügung stand, die Bürgerkontakt demonstrierte. Zugleich wandte sich die CDU in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß per Post an Nicht-Mitglieder. Im Zuge der Rentenkampagne erhielten rund sieben Millionen Rentner von Schäuble unterzeichnete Anschreiben
Prinzipiell könnten die Kampagnen den Parteien jene demokratische Anbindung zurückgeben, die sie durch Mitgliederverluste zunehmend einbüßten. Dies gilt selbst für den Bereich der Parteienfinanzierung. Die CDU/CSU, die durch die Reform des Parteienfinanzierungsgesetzes von 1994 Spenden-Einbußen verzeichnete und ,,wegen des sich verdichtenden Verdachts krimineller Handlung" die kommerzielle Spendenwerbung einstellte, fand in der Form des ,,direct mailing" eine neue Form der Geldersammlung
III. Kontrollierte Harmonie: Programmatische Selbstvergewisserungen
1. Eine neue Diskussionskultur?
Parteiprogramme und programmatische Diskussionen spielten in der CDU/CSU stets eine untergeordnete Rolle. Sowohl unter Adenauer als auch unter Kohl gab die Regierungspolitik die eigentlichen Richtlinien vor
Programmatische Debatten erhalten ihre Anstöße häufig nicht durch Parteitage, sondern durch provokative Presse-Statements der Parteieliten. Aber auch auf dieser Ebene kam es im ersten Oppositionsjahr zu wenigen Tabubrüchen. Wenn sie auftraten, folgten trotz der angekündigten neuen Offenheit innerparteiliche Disziplinierungen. Dies bekam vor allem Jürgen Rüttgers zu spüren, nachdem er in verschiedenen programmatischen Artikeln forderte, sich in der Bildungs-, Familien- und Drogenpolitik auf die ,,neuen Wirklichkeiten" einzulassen. Sowohl im Präsidium als auch in öffentlichen Stellungnahmen der Bundes- und Landesparteispitzen erhielt er für seinen Diskussionsbeitrag Dämpfer, bevor die Themen schrittweise in die Gremien verlagert wurden. Vorstöße, die eine generelle politische Neuausrichtung der Union forderten, blieben weitgehend aus
2. Partei des hohen ,,C"
Die Union wurde 1945 im Zeichen des ,,C" gegründet. Die ,,christliche Ethik" bildete seither die positiv formulierbare Klammer, unter der sich in der CDU unterschiedliche politische Richtungen vereinten, die sich ansonsten vornehmlich durch ihren gemeinsamen Antikommunismus auszeichneten
Ähnlich wie Adenauer mahnte Helmut Kohl in seinem politischen Testament, ,,niemals die Bedeutung des ,C' im Namen unserer Partei" zu vergessen, da dies ,,das Fundament unserer Identität als Partei" und ,,die Voraussetzung unserer Zukunftsfähigkeit" sei
Die CDU ist gut beraten, auf ihrem Weg ins 21. Jahrhundert am C festzuhalten. Kirchennahe Wähler, insbesondere die katholischen, stellen nach wie vor eine nicht unbeträchtliche Stammwählerschaft dar. Wie die Wahlen von 1999 zeigten, kommt diesen Gruppen gerade in Zeiten geringer Wahlbeteiligung eine große Bedeutung zu. In den neuen Bundesländern bilden sie zwar nur eine recht kleine, dafür aber umso zuverlässigere Wählerschaft
3. Partei der sozialen Marktwirtschaft
Die CDU/CSU reüssierte zudem als die Partei, der über Jahrzehnte hinweg die größere Wirtschaftskompetenz zugeschrieben wurde, obwohl die CDU/CSU seit 1966 keinen Wirtschaftsminister mehr stellte. Denn im kollektiven Gedächtnis blieb sie fest als Partei des ,,Wirtschaftswunders" verankert. Die in der Rezessionsphase liegende SPD-Regierung verstärkte dagegen den sozialdemokratischen Nimbus der wirtschaftspolitischen Unzuverlässigkeit. Die CDU-Wirtschaftspolitik fand breite Zustimmung, weil die Union eben nicht unter wirtschaftsliberalen Auspizien antrat, sondern als Partei der sozialen Marktwirtschaft. Insbesondere Adenauer, weniger Erhard, hatte immer wieder auf soziale Kompensationen gedrängt und vor den Wahlen Rentner, Flüchtlinge oder Familien mit großzügigen Geschenken bedacht. Die Wahlniederlage von 1998 resultierte nicht zuletzt daraus, dass die Wähler die soziale Komponente nicht mehr ausreichend vertreten sahen. Die Union erschien als Partei der ,,sozialen Kälte". Wie reagierte die Parteiführung auf diese Verschiebung?
Unmittelbar nach der Wahlniederlage machte sich in der CDU ein neuer Sprachgestus breit, der eine öffentliche Distanz von der ,,kalten Wirtschaftspartei" signalisierte. Wolfgang Schäuble forderte ,,soziale Wärme", Roland Koch ,,Wärme und Solidarität" und Christian Wulff betonte Defizite ,,in der Welt der Gefühle". Auch in den Wahlkämpfen des Jahres 1999 setzte die CDU betont emotionale Akzente. Jürgen Rüttgers polarisierte, ,,der Mensch Rüttgers und der Macher Clement stehen als Alternative zur Auswahl", während Peter Müller vertrauensbildend seine Steuerakte offen legte. Angesichts des rot-grünen Sparkurses fiel es der Union leicht, sich populistisch als Partei mit sozialem Gewissen zu präsentieren. Ihre Kritik an den sozialen Kürzungen reichte immerhin so weit, dass sie sich von der bürgerlichen Presse häufiger den Vorwurf einhandelte, sie überhole die SPD von links
Ihre Bundesratsmehrheit zwang die Union, auf die rot-grüne Politik zu reagieren. Seit 1998 zählte die Formulierung, man werde keine generelle Blockadepolitik betreiben, zum festen Standardvokabular der CDU-Politiker. Die Union suggerierte damit Handlungsbereitschaft und staatliches Verantwortungsbewußtsein. Eine klare Linie, bis zu welchen Grenzen Verhandlungsbereitschaft bestand, ließ sich jedoch bei der Union bis zum Herbst 1999 nicht erkennen. Ebenso gelang es der CDU nur mühsam, sich mit der Schwesterpartei CSU auf eine gemeinsame Linie zu einigen. Die Öffentlichkeit erwartet von der Union nun eigene Lösungsmodelle, die über die populistische Forderung von Steuersenkungen hinausgehen. Unter dem Vorsitz von Christian Wulff setzte die CDU zwar eine programmatische Kommission namens ,,Sozialstaat 21" ein. Diese soll jedoch erst zum Parteitag 2001 ein konsistentes Gesamtmodell entwickeln. Damit dethematisierte die Union ein aktuelles Thema.
4. Familienpolitischer Reformbeginn
Im Bereich der Familienpolitik ließ sich dagegen bereits der tatsächliche Wille erkennen, programmatische Reformen zu wagen. Das auf den ersten Blick unscheinbare Thema hat für die christlich fundierte CDU/CSU hohen Symbolwert. Das einst von Franz-Josef Wuermeling geprägte Familienministerium galt lange als das Ressort, aus dem heraus die Union ihre christlichen und insbesondere katholischen Leitideen verbreitete. Auch im aktuellen Grundsatzprogramm von 1994 sieht die CDU in der Familie ,,das Fundament der Gesellschaft" (Art. 43). Durch die veränderten Lebenswirklichkeiten, die blasse Familienpolitik unter Claudia Nolte und die demonstrative Kindergelderhöhung der rot-grünen Regierung entstand für die Union ein gewisser Handlungsbedarf.
Ein unter Angela Merkels Vorsitz erarbeiteter Antrag des Bundesvorstandes benannte nicht nur ausführlich die ,,neuen Lebenswirklichkeiten", sondern enthielt bereits einige Kurskorrekturen. Insbesondere kam es zu einer Neudefinition des Begriffes Familie, der nun auch Alleinerziehende einschloss
IV. Kontinuität im Umbruch
Der Transformationsprozess der Union wäre sicherlich ohne die Schwäche der SPD und die daraus resultierenden CDU-Siege nicht derartig harmonisch verlaufen. Trotz des Regierungsverlustes gelang ihr eine ,,Kontinuität im Umbruch". Hierdurch sicherte sie sich ihre innerparteiliche Einheit. Zugleich zeichnete sich bereits im ersten Oppositionsjahr ein vorsichtiger ,,Umbruch in der Kontinuität" ab, wobei personalpolitisch, organisatorisch und programmatisch neue Akzente herausgearbeitet wurden, die die alten Strukturen ergänzten.
Die ,,CDU nach Kohl" war zugleich eine ,,CDU mit Kohl". Sowohl seine fast bis jetzt fortbestehende Präsenz als auch die gezielte Wahl Kohl-naher Amtsträger signalisierte dies. Personelle Gewichtsverlagerungen entstanden vor allem durch unkalkulierbare Entwicklungen: Sei es, weil Landtagswahlerfolge CDU-Politikern Autorität verschafften, weil sich in der Fraktion neue Profilierungschancen boten oder weil Ziehkinder von Helmut Kohl unerwartet eigenständige Signale in der Parteiführung setzten. Ebenso ambivalent lässt sich die organisatorische Reform der Partei bewerten. Die CDU/CSU hielt an ihrer überlieferten Organisationsstruktur fest, obwohl Teilbereiche wie ihr Vereinigungswesen sich als durchaus überholungsbedürftig erweisen. Defizite lassen sich vor allem bei der Einbindung der Arbeitnehmer und der Integration der weiblichen Wähler aufzeigen. Bei der Berücksichtigung von Frauen sind leichte Verbesserungen erkennbar. Darüber hinaus gelang es der Union, parallel zur alten Organisationsstruktur den angestrebten Übergang von der Mitglieder- zur ,,Bürgerpartei" einzuleiten. Die direkte Ansprache der Wähler durch Kampagnen, Briefkontakte, elektronische Medien und durch unkonventionelle Vorfeldarbeit verlief weitgehend erfolgreich. Sie zeigte, dass auch im Zeitalter der Massenmedien direkte, von der Partei organisierte Kommunikationsstrukturen vonnöten sind. Auf der programmatischen Ebene wies die Union zunächst die geringsten Reformpotentiale auf. Die vielfach geforderte offene Diskussion blieb aus. Programmatische Schriften besannen sich weitgehend auf ein ,,back to the roots". Das C, die Vertretung der Mitte und die soziale Marktwirtschaft bilden weiterhin das Koordinatenkreuz der Union, das lediglich durch einen neuen Sprachgestus der ,,sozialen Wärme" ergänzt wurde. Erst seit dem September 1999 lässt sich eine Diskussionskultur erkennen, die entlang der familienpolitischen Grundsätze neue Akzente andeutet. Sollten alle Reformkommissionen ähnliche Anstöße geben, dürfte sich auch im programmatischen Bereich ein Wandel ankündigen.
Die CDU/CSU hat die Erosion ihrer langfristig gewachsenen Loyalitäten erkannt und hierauf partiell reagiert. Im Vergleich zu anderen Ländern verfügt die Union weiterhin über ein verhältnismäßig großes Stammwählerpolster, das den spontanen Wechsel zur liberalen Konkurrenz scheut. Inwieweit sie mit neuen Köpfen, direktem Bürgerkontakt und programmatischen Akzentverschiebungen auch die wahlentscheidenden Randbereiche mobilisieren kann und zugleich die Spenden-Affäre übersteht, bleibt abzuwarten.