I. Die Asymmetrie des Parteiensystems der Bundesrepublik
Im Rückblick auf die über fünfzigjährige Parteiengeschichte der Bundesrepublik erweist sich die SPD als die zweite Partei im Wettbewerb um Wählerstimmen und staatlich-administrative Macht. Dass sie die Unionsparteien in den bislang 14 Bundestagswahlen zweimal überflügeln konnte (1972 und 1998), widerspricht dem keineswegs. An der Tatsache, dass die Machtchancen zwischen CDU/CSU und SPD ungleich verteilt sind, ist nicht zu rütteln. Dies hat sich auch nach der deutschen Einheit nicht geändert. Die Hoffnungen, dass diese Asymmetrie mit der Verschmelzung von alter Bundesrepublik und dem ,,Kernland der deutschen Arbeiterbewegung" beendet sein würde, haben sich nicht erfüllt
Dieses zugegebenerweise schlichte Ranking-Verfahren, das der SPD pauschal den zweiten Platz im Parteienwettbewerb zuweist, lenkt den Blick auf Probleme von historischer Bedeutung. Denn die Rechnung erstreckt sich auf ein halbes Jahrhundert und legt es nahe, in ihrem Resultat eine Gesetzmäßigkeit zu vermuten. Aber worauf gründet sie sich? Welche langfristig wirksamen Faktoren könnten die SPD auf die Rolle der zweiten Partei im Parteienwettbewerb der Bundesrepublik festlegen - und dies auch noch mit einem nahezu konstanten Durchschnittsergebnis vor und nach der deutschen Einheit von rund 37 Prozent? Welche Prognose ergibt sich daraus für die gegenwärtig regierende rot-grüne Koalition? Wie erklären sich dann die genannten beiden Abweichungen von der Regel? Bei der Bundestagswahl 1972 übertraf die SPD ihre Konkurrentin mit dem Spitzenergebnis von 45,8 Prozent (CDU/CSU: 44,9 Prozent) um immerhin 0,9 Prozentpunkte. Bei der vergangenen Bundestagswahl 1998, die nach sechzehnjähriger konservativ-liberaler Regentschaft den dritten Machtwechsel in der Geschichte der Bundesrepublik herbeiführte, betrug der Abstand sogar 5,8 Prozentpunkte, wobei die SPD ,,nur" 40,9 Prozent der Zweitstimmen erreichte (CDU/CSU: 35,1 Prozent).
II. Die Erfolgsbedingungen der SPD
Die dauerhafte Benachteiligung der SPD gegenüber der CDU/CSU im Parteienwettbewerb hat externe und interne Ursachen. Wenn auch beide Ursachenkomplexe eng miteinander verzahnt sind, konzentrieren wir uns zunächst auf die externen Erfolgsbedingungen der SPD und wenden uns später ihrem Programmangebot zu. Dass die Sozialstruktur der Bundesrepublik eher die Union als die SPD begünstigt, ist bekannt und bedarf daher keiner weiteren Vertiefung. Zudem wirken sich der soziale Wandel, die ,,Enttraditionalisierung der industriegesellschaftlichen Lebensformen" und die ,,Individualisierung sozialer Ungleichheit"
Das permanente Handicap der SPD im Parteienwettbewerb besteht folglich zunächst einmal darin, dass sie die sozialstrukturell begünstigte Union nur ein- oder gar überholen kann, wenn diese politisch versagt und sie selbst in Topform ist und über nachfragerelevante Alternativangebote verfügt. In den Fünfzigerjahren mangelte es der SPD nicht an Profil, für ihr sozialistisches Modell bestand aber keine hinreichende Nachfrage außerhalb ihrer Stammklientel, so dass die Partei in ihrem ,,Dreißig-Prozent-Turm" gefangen blieb. In den Achtzigerjahren vertrat die SPD beileibe keine abwegigen Positionen, von attraktiven sozialdemokratischen Alternativen konnte jedoch keine Rede sein. Unter dem Gesichtspunkt von Wahlerfolgen bilden Anpassung und Profilierung zwei Seiten einer Medaille, aus der Perspektive der politisch-programmatischen Praxis handelt es sich dabei allerdings um einen Widerspruch, der sich nur unter günstigen Wettbewerbsbedingungen lösen lässt. Damit wären wir beim Programmangebot der SPD angelangt, dessen Betrachtung aber noch etwas zurückgestellt werden soll, um zunächst den Blick auf die Ausnahmewahlergebnisse von 1972 und 1998 zu richten.
III. Der Wahlsieg der SPD
bei der Bundestagswahl 1998
Dass die SPD die genannten Erfolgsbedingungen 1972 erfüllte, ist bekannt
Der Wahlkampf 1998 fand unter anderen Ausgangsbedingungen statt: CDU/CSU und FDP hatten nach ihrem grandiosen Wahlsieg von 1990, den sie ihren Verdiensten um die deutsche Einheit verdankten, kontinuierlich an Zustimmung in der Bevölkerung verloren. Die Differenz zwischen den Zweitstimmenergebnissen von 1990 und 1998 betrug für beide Parteien zusammen in Westdeutschland knapp elf und in Ostdeutschland sogar 24 Prozentpunkte. Im selben Zeitraum verbesserte sich die SPD im Westen um nahezu sieben Prozentpunkte und im Osten um rund elf
Die Stimmung der Bevölkerung war 1997/98 stark durch Politik- und Systemverdrossenheit sowie durch Zukunftspessimismus geprägt. Selbst Teile des Regierungslagers drängten auf personelle und sachliche Veränderungen. Der Wunsch nach einem Wechsel war weit verbreitet. Die SPD hatte ihre Wahlkampagne professionell und mediengerecht organisiert und die öffentliche Meinung war ihr außerordentlich wohlgesonnen. Für die erfolgreiche Umsetzung der Wahlkampf-Doppelstrategie (Stammwähler halten, Wechselwähler gewinnen) hatte sich die SPD personell und programmatisch gerüstet: Während der Parteivorsitzende Oskar Lafontaine eher das sozialdemokratische Stammpublikum ansprach, zielte der Kanzlerkandidat Gerhard Schröder primär auf unzufriedene Unionsanhänger. Mit der Doppelforderung nach sozialer Gerechtigkeit und Innovation wurden die Interessen sowohl von ,,traditionalistischen" als auch von ,,modernisierungsorientierten" Wählerschichten, die Interessen also der gewerkschaftlichen Arbeitnehmerschaft und der ,,neuen Mitte", berücksichtigt
Dieser ,,historische Wahlsieg"
IV. Die Akzeptanzkrise der SPD nach der Bundestagswahl 1998
Entgegen der üblichen Nachwahleuphorie, die der Siegerpartei stimmungsmäßig nützt, ging der Anteil der SPD-Anhänger in den ersten Wochen nach der Wahl zurück und die Union gewann an Boden. Danach folgte eine kurzzeitige Erholungsphase um die Jahreswende, doch nach der Landtagswahl in Hessen vom 7. Februar 1999 mit dem klaren Wahlsieg der CDU (trotz leichter SPD-Gewinne) überholte die Union die SPD in der politischen Stimmung auch bundesweit. Der Rücktritt Oskar Lafontaines führte zu einem weiteren kurzzeitigen SPD-Abschwung, danach stabilisierten sich die Werte auf niedrigem Niveau und bei der Bürgerschaftswahl im kleinen Stadtstaat Bremen am 6. Juni konnte die SPD zusammen mit ihrem Koalitionspartner CDU sogar einen Erfolg verbuchen. Kurz danach jedoch, bei der Europawahl am 13. Juni, die wie immer zum nationalen Stimmungstest stilisiert wurde, zeigte sich die deutliche Mobilisierungsschwäche der SPD erstmals in einem bundesweiten Wahlergebnis
Die Landtagswahlen brachten dann eine Niederlage nach der anderen: Bei der Wahl in Brandenburg am 5. September musste die SPD erdrutschartige Verluste von 14,8 Prozentpunkten hinnehmen, bei der gleichzeitig stattfindenden Wahl im Saarland verlor sie 5,0 Prozentpunkte, eine Woche später in Thüringen erlebte sie ein erneutes Debakel mit einem Verlust von 11,1 Prozentpunkten, am 19. September in Sachsen rutschte sie um 5,9 Prozentpunkte ab und der SPD-Verlust bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl vom 10. Oktober 1999 fiel mit 1,2 Prozentpunkten nur deshalb relativ moderat aus, weil die Partei in der Bundeshauptstadt schon bei der vorherigen Wahl mit 23,6 Prozent einen historischen Tiefststand erreicht hatte und gar nicht viel tiefer hätte fallen können
Bundesweit hatte die SPD etwa ein Jahr nach der Bundestagswahl fast die Hälfte, im Osten sogar fast drei Fünftel ihrer Wählerschaft von 1998 verloren
Maßgeblich für diese enormen Verluste an Zustimmung waren zunächst die schwierigen Beziehungsstrukturen der Führungs-Troika Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping. Die permanente Krise der Regierung begann damit, ,,dass das Zweckbündnis Lafontaine/Schröder mit dem Tag des Machtwechsels zerbrach"
Da sich auch innerhalb der SPD große Unzufriedenheit mit dem Erscheinungsbild und der Politik der Bundesregierung angestaut hatte, bemühte sich der Bundeskanzler und Parteivorsitzende, seine Politik im Vorfeld des Berliner Parteitages (7.-9. Dezember 1999) auf vier Regionalkonferenzen zu verteidigen, und betonte dabei vor allem den sozialdemokratischen Grundwert soziale Gerechtigkeit, was Balsam für die Herzen der enttäuschten Sozialdemokraten war
V. Das programmatische Dilemma der SPD
Sozialdemokratie bedeutet nach Thomas Meyer die ,,historische Verpflichtung auf die innere und unauflösliche Verbindung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit"
Die SPD provoziert mit ihren beiden Fundamentalzielen einen enormen Erwartungsdruck bei den Teilen der Bevölkerung, die mit dem Status quo unzufrieden sind und auf grundlegende politische Reformen (heute vor allem auf dem Gebiet der sozialen Gerechtigkeit) hoffen. Diese Erwartungen sind mit der Existenz der SPD schlechthin verbunden und lassen sich auch nur zum Preis des Identitätsverlusts revidieren. An ihnen wird sie gemessen, unabhängig davon, ob sie (bzw. die Politik) überhaupt strukturell und finanziell in der Lage ist, die erwarteten sozioökonomischen Steuerungsleistungen zu erbringen. Die SPD kann daher nicht erfolgreich sein, wenn sie den Weg des geringsten Widerstands geht und dem Reformdruck durch Anpassung ausweicht. Sie muss ihre historische Mission im Parteiensystem erfüllen. An der Schwelle zum neuen Jahrtausend muss sie vor allem die Frage beantworten, wie sie ihrer ,,Verpflichtung auf die innere und unauflösliche Verbindung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit" nachzukommen gedenkt, wenn der Gestaltungsspielraum der Politik gegenüber der Wirtschaft immer enger wird. Gingen im ,,goldenen Zeitalter"
Dass die SPD auch in den goldenen Jahren des sozialdemokratischen Jahrhunderts nur die zweite Position im Parteiensystem der Bundesrepublik einnahm, lag in erster Linie daran, dass der demokratische Sozialstaat im Nachkriegsdeutschland vor allem das Werk der CDU/CSU und der Gewerkschaften bzw. Unternehmerverbände war. Die SPD stand der sozialen Marktwirtschaft zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüber und söhnte sich mit ihr offiziell erst im Godesberger Programm (1959) aus. Mit dieser Anpassung war der Grundstein für eine Wählerkoalition aus Arbeiterschaft und Mittelschichten gelegt, die freilich erst dann zur Blüte gelangte, als die Union zu Beginn der Sechzigerjahre innen- und außenpolitisch versagte und die SPD mit ihrer keynesianisch orientierten Wirtschaftskonzeption und mit ihrer entspannungsorientierten Ostpolitik eine eigenständige, innovative und attraktive Alternative anbot.
Dies galt nicht für 1998/99. Die programmatische Bringschuld der SPD mündete auch deshalb bei ihren Mitgliedern und Anhängern in ein ,,Orientierungsvakuum"
Bereits Mitte der siebziger Jahre hatte eine massive antietatistische und monetaristische Kritik am sozialdemokratischen Keynesianismus eingesetzt, der angesichts der damaligen ,,stagflationären"
Dieser Anpassungsprozess muss aber auch im Zusammenhang mit dem Aufstieg der Grünen gesehen werden, die mit ihren postmaterialistischen, antietatistischen und fortschrittskritischen Vorbehalten gegenüber dem sozialdemokratischen ,,Modell Deutschland" erfolgreich jüngere Mittelschichtwähler des linken Spektrums mobilisierten. Nach dem Machtwechsel von 1982 (die Grünen rückten erstmalig in den Deutschen Bundestag ein) geriet die SPD in eine komplizierte Wettbewerbslage: Sie musste sich gegenüber den Parteien der Regierungskoalition unter Helmut Kohl abgrenzen, die im Vergleich zu den Regierungen in Großbritannien und den USA einen eher moderaten neoliberalen bzw. neokonservativen Kurs steuerten, und sie musste sich gegenüber den Grünen behaupten, die sich nun gemeinsam mit der SPD die Opposition im Bundestag teilten. Erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik war der SPD eine ernsthafte Konkurrenz im linken Lager erwachsen, die ihre scheinbar auf Lebenszeit verliehene Hegemonie in diesem politischen Spektrum beendete. Und dies auch noch zu einem Zeitpunkt, wo die SPD politisch-programmatisch gescheitert war. Anstatt eine inhaltliche Gegenposition zur ,,geistig-moralischen" und ökonomischen Wendepolitik der Unionsparteien in Form eines ,,rot-grünen" Reformprojekts als Machtalternative zu entwickeln, schwankte sie hilflos und von Selbstzweifeln geplagt zwischen neoliberalen, sozialen und ökologischen Zielsetzungen hin und her, wobei ihr offenbar die Abgrenzung gegenüber den Grünen wichtiger erschien als die Ablösung der Kohl-Regierung.
Das Grundsatzprogramm der SPD von 1989 (welches das Godesberger Programm ablöste) und die darauf gegründeten Projekte
VI. Die Herausforderung des Neoliberalismus
Das Berliner Programm blieb nicht zuletzt auch deshalb folgenlos, weil es keine spezifische Orientierung für die Gestaltung der inneren Einheit Deutschlands, insbesondere für die ökonomische Transformation der neuen Bundesländer, und schon gar keine Alternative zum Konzept der Bundesregierung bot. Gleichzeitig erwuchs der SPD in der PDS eine weitere Konkurrenz im linken Spektrum des Parteiensystems, die den Begriff ,,demokratischer Sozialismus" für sich vereinnahmen konnte, weil sich die (Ost-)SPD gerade von ihm verabschiedet hatte. Mehr noch: Seit Mitte der neunziger Jahre wurde die PDS in Ostdeutschland zunehmend mit dem Grundwert soziale Gerechtigkeit identifiziert. Dass dies mittelfristig eine Schwächung der Konfliktposition der SPD
Nach der Bundestagswahl 1998 geriet die SPD in Sachen Grundsatzprogrammatik unter massiven Handlungsdruck. Wegen der sinkenden Zustimmungswerte und der Wahlniederlagen verdichtete sich die Kritik der vermeintlichen ,,Traditionalisten" an den angeblichen ,,Modernisierern", weil letztere dem sozialdemokratischen Grundwert soziale Gerechtigkeit zu wenig Bedeutung beimaßen. Abgesehen davon, dass beide Begriffe wechselseitig in polemischer Absicht verwendet werden, ist die Terminologie auch sachlich unzutreffend, denn die Notwendigkeit einer ,,Modernisierung" von Programm und Praxis der SPD ist nicht umstritten. Unterschiedliche Auffassungen bestehen jedoch über den künftig einzuschlagenden Weg. Die ,,Traditionalisten" verkörpern ebenso wenig die Stammwählerschaft der SPD, wie die ,,Modernisierer" die Wechselwähler oder gar eine ,,neue Mitte" repräsentieren. Als ,,Modernisierer" gelten die Sozialdemokraten, die mit dem marktorientierten Kurs von ,,New Labour" unter Tony Blair in Großbritannien sympathisieren und sich vorzugsweise auf Anthony Giddens
Das Schröder-Blair-Papier vom Juni 1999 ist insoweit neoliberal geprägt, als es sich gegen ,,massive staatliche Interventionen", für eine ,,angebotsorientierte Agenda", für die ,,notwendige Kürzung der staatlichen Ausgaben", für ,,Steuerreformen und Steuersenkungen", für die Senkung der Lohnnebenkosten, für die Erweiterung des unternehmerischen Handlungsspielraums und für die Modernisierung des Sozialstaats ausspricht. Zugleich grenzen sich beide Staatsmänner aber gegenüber dem Laissez-faire-Neoliberalismus ab und fordern eine ,,neu definierte Rolle für einen aktiven Staat".
Die Kritiker dieses Papiers glauben, dass sich seine Autoren dem Neoliberalismus zu stark angepasst, es mit der Verlagerung ehemals staatlicher Aufgaben auf die Bevölkerung zu weit getrieben und der sozialen Gerechtigkeit zu wenig Beachtung geschenkt haben. In der ,,Berliner Erklärung" heißt es beispielsweise: ,,Eine moderne Sozialdemokratie muss sich darüber im Klaren sein, dass wir es mit einem neuen Typ von Kapitalismus zu tun haben. Daher wäre es auch falsch, die im ,sozialdemokratischen Zeitalter' der Nachkriegszeit entwickelten Ansätze unverändert in die neue Realität zu übertragen. Genauso wenig aber kann es um einen Bruch mit den wirtschaftspolitischen Instrumenten, ArbeitnehmerInnenrechten sowie wohlfahrtsstaatlichen und demokratischen Errungenschaften gehen. Sie müssen weiter entwickelt werden. Es muss uns gelingen, die Auswirkungen der Globalisierung sozialpolitisch abzufedern und gleichzeitig die Autonomie der Individuen zu stärken, um die Überforderung des Sozialstaates einzudämmen und gleichwohl Gerechtigkeit walten zu lassen." Hinsichtlich der Vorrangigkeit von Innovation oder Gerechtigkeit heißt es in der Erklärung klipp und klar: ,,Die Identität der Sozialdemokratie wurzelt im Streben nach sozialer Gerechtigkeit."
Die Diskussion über das Verhältnis von Politik und Ökonomie in der globalisierten Informationsgesellschaft wird die SPD noch einige Zeit beschäftigen. Anliegen des Schröder-Blair-Papiers war es, die Debatte medienwirksam auf die Tagesordnung der SPD zu bringen. Die Reaktionen darauf fielen im Sommer/Herbst 1999 mit Blick auf die anstehenden Wahlen teilweise panisch und polemisch aus und erwiesen sich letztlich als wenig hilfreich für die Selbstdarstellung der Partei. Eine ernsthafte und sachbezogene Grundsatzdebatte muss allerdings mehr leisten als die Anpassung der Programmatik der SPD an die veränderten weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gegebenheiten. Die SPD muss sich zugleich eine attraktive Alternative zum Neoliberalimus erarbeiten und ein deutliches Profil gegenüber den Unionsparteien gewinnen. Diese neigen keineswegs zum Marktradikalismus, sind durchaus auf ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit bedacht und streben ebenfalls eine zukunftsorientierte Bildungspolitik an (es sei daran erinnert, dass Bayern auf diesem Gebiet sehr ambitionierte Ziele verfolgt). Angesichts der Tatsache, dass sich die ,,neue soziale Frage" zu einer bedeutsamen Konfliktlinie im bundesdeutschen Parteiensystem entwickelt
VII. Fazit
An der Schwelle zum neuen Jahrhundert befindet sich die SPD in einer prekären Lage. Sie hat bei der letzten Bundestagswahl einen außerordentlichen Sieg erreicht, scheint die darauf folgende Akzeptanzkrise überwunden zu haben und kann nun alles daran setzen, ihre 1998 erworbene Majorität zu bewahren. Das muss ihr allerdings unter den Bedingungen asymmetrischer Machtchancen gelingen. Als zweite Partei im Parteienwettbewerb kann sie nur erfolgreich sein, wenn sie dem neoliberalen Mainstream nicht durch Anpassung nachgibt, sondern eine profilierte Alternative anbietet, die neben innovativen Projekten eine moderne Version von sozialer Gerechtigkeit umfasst, die den gesellschaftlichen Marginalisierungstendenzen wirksam begegnet. Dass die SPD bislang zumeist als ,,zweiter Sieger" abgeschnitten hat, folgt gewiss keinem Naturgesetz, ist aber auch kein Zufall. Selbst wenn sie ihre Wettbewerbsnachteile durch ein auch für Wechselwähler attraktives Programm, durch hohe Kompetenzzuweisungen und populäre Spitzenkandidaten kompensiert, wird sie ihre Majorität nur so lange aufrechterhalten können, wie sich die Unionsparteien in schlechter politischer Verfassung befinden. Sollte die CDU/CSU wieder auf den (,,ihren") ersten Platz vorrücken, wäre damit nicht notwendigerweise ein Machtwechsel verbunden. Denn die SPD kann die Asymmetrie des Parteiensystems durch eine vorausschauende Bündnispolitik unterlaufen.