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Zwischen Anpassung und Profilierung | Parteien | bpb.de

Parteien Editorial Zwischen Anpassung und Profilierung Kontinuität im Umbruch Profilkrise und Funktionswandel Die F.D.P. an der Schwelle zum neuen Jahrhundert Die PDS zwischen Kontinuität und Aufbruch

Zwischen Anpassung und Profilierung Die SPD an der Schwelle zum neuen Jahrhundert

Richard Stöss Oskar Niedermayer Oskar Richard / Niedermayer Stöss

/ 24 Minuten zu lesen

Im Parteiensystem der Bundesrepublik sind die Machtchancen ungleich verteilt. Die SPD belegt im Parteienwettbewerb dauerhaft den zweiten Platz, woran auch die deutsche Einheit nichts geändert hat.

I. Die Asymmetrie des Parteiensystems der Bundesrepublik

Im Rückblick auf die über fünfzigjährige Parteiengeschichte der Bundesrepublik erweist sich die SPD als die zweite Partei im Wettbewerb um Wählerstimmen und staatlich-administrative Macht. Dass sie die Unionsparteien in den bislang 14 Bundestagswahlen zweimal überflügeln konnte (1972 und 1998), widerspricht dem keineswegs. An der Tatsache, dass die Machtchancen zwischen CDU/CSU und SPD ungleich verteilt sind, ist nicht zu rütteln. Dies hat sich auch nach der deutschen Einheit nicht geändert. Die Hoffnungen, dass diese Asymmetrie mit der Verschmelzung von alter Bundesrepublik und dem ,,Kernland der deutschen Arbeiterbewegung" beendet sein würde, haben sich nicht erfüllt , jedenfalls bis jetzt nicht. Aber der Abstand zwischen beiden Großparteien ist geringer geworden. Vor 1990 erreichte die SPD bei Bundestagswahlen durchschnittlich 37,7 Prozent der Zweitstimmen (CDU/CSU: 45,1 Prozent), zwischen 1990 und 1998 betrug der entsprechende Wert für die SPD nahezu unverändert 36,9 Prozent (CDU/CSU: 40,1 Prozent), und im Durchschnitt aller bisherigen Bundestagswahlen brachte es die Sozialdemokratie auf 37,5 Prozent (CDU/CSU: 44,1 Prozent). Daraus ergibt sich eine durchschnittliche Zweitstimmendifferenz zwischen beiden Parteien (Asymmetrie) von 7,4 Prozentpunkten für die Bundestagswahlen vor 1990, von 3,2 Prozentpunkten für die Bundestagswahlen seit 1990 und von 6,6 Prozentpunkten für alle Bundestagswahlen. Dass sich der Abstand zwischen Union und SPD nach der deutschen Einheit verringert hat, beruht also nicht etwa darauf, dass die SPD aufgeholt hat, sondern dass die Unionsparteien schwächer geworden sind.

Dieses zugegebenerweise schlichte Ranking-Verfahren, das der SPD pauschal den zweiten Platz im Parteienwettbewerb zuweist, lenkt den Blick auf Probleme von historischer Bedeutung. Denn die Rechnung erstreckt sich auf ein halbes Jahrhundert und legt es nahe, in ihrem Resultat eine Gesetzmäßigkeit zu vermuten. Aber worauf gründet sie sich? Welche langfristig wirksamen Faktoren könnten die SPD auf die Rolle der zweiten Partei im Parteienwettbewerb der Bundesrepublik festlegen - und dies auch noch mit einem nahezu konstanten Durchschnittsergebnis vor und nach der deutschen Einheit von rund 37 Prozent? Welche Prognose ergibt sich daraus für die gegenwärtig regierende rot-grüne Koalition? Wie erklären sich dann die genannten beiden Abweichungen von der Regel? Bei der Bundestagswahl 1972 übertraf die SPD ihre Konkurrentin mit dem Spitzenergebnis von 45,8 Prozent (CDU/CSU: 44,9 Prozent) um immerhin 0,9 Prozentpunkte. Bei der vergangenen Bundestagswahl 1998, die nach sechzehnjähriger konservativ-liberaler Regentschaft den dritten Machtwechsel in der Geschichte der Bundesrepublik herbeiführte, betrug der Abstand sogar 5,8 Prozentpunkte, wobei die SPD ,,nur" 40,9 Prozent der Zweitstimmen erreichte (CDU/CSU: 35,1 Prozent).

II. Die Erfolgsbedingungen der SPD

Die dauerhafte Benachteiligung der SPD gegenüber der CDU/CSU im Parteienwettbewerb hat externe und interne Ursachen. Wenn auch beide Ursachenkomplexe eng miteinander verzahnt sind, konzentrieren wir uns zunächst auf die externen Erfolgsbedingungen der SPD und wenden uns später ihrem Programmangebot zu. Dass die Sozialstruktur der Bundesrepublik eher die Union als die SPD begünstigt, ist bekannt und bedarf daher keiner weiteren Vertiefung. Zudem wirken sich der soziale Wandel, die ,,Enttraditionalisierung der industriegesellschaftlichen Lebensformen" und die ,,Individualisierung sozialer Ungleichheit" eher nachteilig auf die Allianzen von Arbeit(nehm)erparteien und ihren gesellschaftlichen Referenzgruppen aus, die sich schon in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft der ,,entideologisierten" Nachkriegszeit weithin ,,verbürgerlicht" hatten. Infolge des Abschmelzens der Arbeitermilieus kann die SPD nur dann Wahlerfolge erzielen, wenn sie sich über die Vollmobilisierung ihrer Stammklientel hinaus Wechselwähler aus dem katholischen Milieu oder aus dem Bereich der Mittelschichten (im Wesentlichen also von der CDU/CSU) erschließt . Dies war ihr erstmals bei der Bundestagswahl 1961 gelungen und beweist, dass das in neuerer Zeit vielbeschworene Wahldilemma der SPD, nämlich eine Wählerkoalition aus Arbeiterschaft und Mittelschichten zustande zu bringen, ein altbekanntes Problem sozialdemokratischer Politikstrategie darstellt . Für die CDU/CSU resultiert daraus als Hauptaufgabe ihrer elektoralen Kampagnen, den Verbund von katholischen bzw. christlichen und/oder konservativen Arbeitern, Bürgern und Bauern geschlossen an die Wahlurnen zu bringen. Die Union muss vor allem verhindern, dass katholische Arbeitnehmer zur SPD überwechseln. Diese vereinfachte Darstellung der Wettbewerbssituation der beiden Großparteien erklärt, warum ,,die CDU/CSU Wahlen bisher in erster Linie mit einer Polarisierungsstrategie gewinnen konnte, die SPD hingegen eher mit einer auf die Mitte gerichteten Anpassungsstrategie" . Die für sozialdemokratische Wahlerfolge existenzielle Doppelstrategie (Stammwähler halten, Wechselwähler gewinnen) kann nur unter zwei Voraussetzungen zum Erfolg führen: Erstens muss die Union bei der Bewältigung wichtiger politischer Probleme dauerhaft versagen und damit nachhaltige Unzufriedenheit bei einem Teil ihrer bisherigen Wähler auslösen. Da frustrierte Parteianhänger zumeist nicht umstandslos zu einer anderen Partei überwechseln, sondern zunächst zu Wahlenthaltung neigen (weil sie immer noch über rudimentäre Bindungen an ,,ihre" Partei verfügen ), profitiert die SPD nicht automatisch von Integrationsverlusten ihrer Konkurrenz. Sie muss - dies ist die zweite Erfolgsbedingung - ihrerseits mit einem attraktiven und kompetenten Personal- bzw. Programmangebot aufwarten, das ihre eigenen Anhänger überzeugt und zugleich Zuwanderung (von anderen Parteien oder aus dem Lager der Nichtwähler) forciert. Sie muss mithin politische Projekte anbieten, die für potenzielle Wechsler so bedeutend sind, dass sie diese nicht nur gutheißen, sondern auch durch ihr Wahlverhalten unterstützen.

Das permanente Handicap der SPD im Parteienwettbewerb besteht folglich zunächst einmal darin, dass sie die sozialstrukturell begünstigte Union nur ein- oder gar überholen kann, wenn diese politisch versagt und sie selbst in Topform ist und über nachfragerelevante Alternativangebote verfügt. In den Fünfzigerjahren mangelte es der SPD nicht an Profil, für ihr sozialistisches Modell bestand aber keine hinreichende Nachfrage außerhalb ihrer Stammklientel, so dass die Partei in ihrem ,,Dreißig-Prozent-Turm" gefangen blieb. In den Achtzigerjahren vertrat die SPD beileibe keine abwegigen Positionen, von attraktiven sozialdemokratischen Alternativen konnte jedoch keine Rede sein. Unter dem Gesichtspunkt von Wahlerfolgen bilden Anpassung und Profilierung zwei Seiten einer Medaille, aus der Perspektive der politisch-programmatischen Praxis handelt es sich dabei allerdings um einen Widerspruch, der sich nur unter günstigen Wettbewerbsbedingungen lösen lässt. Damit wären wir beim Programmangebot der SPD angelangt, dessen Betrachtung aber noch etwas zurückgestellt werden soll, um zunächst den Blick auf die Ausnahmewahlergebnisse von 1972 und 1998 zu richten.

III. Der Wahlsieg der SPD

bei der Bundestagswahl 1998

Dass die SPD die genannten Erfolgsbedingungen 1972 erfüllte, ist bekannt . Anders als 1998, führte sie den Wahlkampf damals als Regierungspartei, die eine beachtliche Leistungsbilanz und mit Willy Brandt einen zugleich populären und umstrittenen Spitzenkandidaten vorweisen konnte und die mit ihren Reformprojekten die politischen Diskurse in der Bundesrepublik beherrschte. Dem außerordentlich konfrontativen und im Stil des ,,Kalten Kriegs" geführten Wahlkampf der politisch-programmatisch und personell ausgezehrten Unionsparteien setzte die SPD eine professionelle Kampagne entgegen, die ausgefeilte und pfiffige Methoden der Massenkommunikation einsetzte, um ihre Reformprojekte offensiv zu verteidigen, ihre Anhänger zu mobilisieren und der Union mit ihren Attacken den Wind aus den Segeln zu nehmen .

Der Wahlkampf 1998 fand unter anderen Ausgangsbedingungen statt: CDU/CSU und FDP hatten nach ihrem grandiosen Wahlsieg von 1990, den sie ihren Verdiensten um die deutsche Einheit verdankten, kontinuierlich an Zustimmung in der Bevölkerung verloren. Die Differenz zwischen den Zweitstimmenergebnissen von 1990 und 1998 betrug für beide Parteien zusammen in Westdeutschland knapp elf und in Ostdeutschland sogar 24 Prozentpunkte. Im selben Zeitraum verbesserte sich die SPD im Westen um nahezu sieben Prozentpunkte und im Osten um rund elf . Als wesentliche Ursache für die Verluste von CDU/CSU und FDP galt die gewachsene ,,Gerechtigkeitslücke" , für die die Regierungsparteien verantwortlich gemacht wurden.

Die Stimmung der Bevölkerung war 1997/98 stark durch Politik- und Systemverdrossenheit sowie durch Zukunftspessimismus geprägt. Selbst Teile des Regierungslagers drängten auf personelle und sachliche Veränderungen. Der Wunsch nach einem Wechsel war weit verbreitet. Die SPD hatte ihre Wahlkampagne professionell und mediengerecht organisiert und die öffentliche Meinung war ihr außerordentlich wohlgesonnen. Für die erfolgreiche Umsetzung der Wahlkampf-Doppelstrategie (Stammwähler halten, Wechselwähler gewinnen) hatte sich die SPD personell und programmatisch gerüstet: Während der Parteivorsitzende Oskar Lafontaine eher das sozialdemokratische Stammpublikum ansprach, zielte der Kanzlerkandidat Gerhard Schröder primär auf unzufriedene Unionsanhänger. Mit der Doppelforderung nach sozialer Gerechtigkeit und Innovation wurden die Interessen sowohl von ,,traditionalistischen" als auch von ,,modernisierungsorientierten" Wählerschichten, die Interessen also der gewerkschaftlichen Arbeitnehmerschaft und der ,,neuen Mitte", berücksichtigt . Jedenfalls gewann die SPD rund drei Millionen Zweitstimmen im Vergleich zur Bundestagswahl 1994 hinzu, vor allem ehemalige Wähler der CDU/CSU und frühere Nichtwähler. Damit wurde sie nicht nur Mehrheitspartei bei den Arbeitern (das war sie schon 1994), sondern auch bei den Angestellten .

Dieser ,,historische Wahlsieg" war jedoch mit erheblichen Risiken verbunden: Die SPD hatte mit ihrem Versprechen von Innovation und Gerechtigkeit hohe Erwartungen bezüglich der Schließung der Gerechtigkeitslücke geweckt, die sie kaum erfüllen konnte. Denn zum einen musste sie angesichts der hohen Einheitsschulden einen harten finanzpolitischen Konsolidierungskurs fahren und zum anderen war sie weder programmatisch noch politisch-konzeptionell auf die Regierungstätigkeit vorbereitet. Anders als 1972 verfügte die SPD 1998 nicht über attraktive Programmalternativen, sondern nur über den ,,kunstvoll aufgebauten Orientierungsrahmen ,Innovation und Gerechtigkeit'......" , der erst noch konkretisiert werden musste. Das Wahlergebnis von 1998 signalisierte nur, dass die Rahmenbedingungen für einen SPD-Erfolg (Versagen der Union) günstig waren. Die eigentliche Gratwanderung im politischen Alltagsgeschäft zwischen Anpassung und Profilierung stand der Partei noch bevor.

IV. Die Akzeptanzkrise der SPD nach der Bundestagswahl 1998

Entgegen der üblichen Nachwahleuphorie, die der Siegerpartei stimmungsmäßig nützt, ging der Anteil der SPD-Anhänger in den ersten Wochen nach der Wahl zurück und die Union gewann an Boden. Danach folgte eine kurzzeitige Erholungsphase um die Jahreswende, doch nach der Landtagswahl in Hessen vom 7. Februar 1999 mit dem klaren Wahlsieg der CDU (trotz leichter SPD-Gewinne) überholte die Union die SPD in der politischen Stimmung auch bundesweit. Der Rücktritt Oskar Lafontaines führte zu einem weiteren kurzzeitigen SPD-Abschwung, danach stabilisierten sich die Werte auf niedrigem Niveau und bei der Bürgerschaftswahl im kleinen Stadtstaat Bremen am 6. Juni konnte die SPD zusammen mit ihrem Koalitionspartner CDU sogar einen Erfolg verbuchen. Kurz danach jedoch, bei der Europawahl am 13. Juni, die wie immer zum nationalen Stimmungstest stilisiert wurde, zeigte sich die deutliche Mobilisierungsschwäche der SPD erstmals in einem bundesweiten Wahlergebnis . Der Schock der verlorenen Europawahl und vor allem das nachfolgende ,,Sommertheater" mit dem anhaltenden parteiinternen Streit um die Regierungspolitik schlugen sich in einem weiteren Rückgang der SPD-Anhängerschaft nieder und schon vor der Serie von Landtagswahlen im Herbst war die Partei in der Wählergunst so stark gesunken, dass ihr nicht einmal jeder fünfte Wahlberechtigte seine Stimme geben wollte .

Die Landtagswahlen brachten dann eine Niederlage nach der anderen: Bei der Wahl in Brandenburg am 5. September musste die SPD erdrutschartige Verluste von 14,8 Prozentpunkten hinnehmen, bei der gleichzeitig stattfindenden Wahl im Saarland verlor sie 5,0 Prozentpunkte, eine Woche später in Thüringen erlebte sie ein erneutes Debakel mit einem Verlust von 11,1 Prozentpunkten, am 19. September in Sachsen rutschte sie um 5,9 Prozentpunkte ab und der SPD-Verlust bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl vom 10. Oktober 1999 fiel mit 1,2 Prozentpunkten nur deshalb relativ moderat aus, weil die Partei in der Bundeshauptstadt schon bei der vorherigen Wahl mit 23,6 Prozent einen historischen Tiefststand erreicht hatte und gar nicht viel tiefer hätte fallen können . Wenn auch die Landtagswahlergebnisse des Wahlherbstes primär durch landesspezifische Faktoren bestimmt waren und die Mehrheit der Wähler ihre Wahlentscheidung nach landespolitischen Gesichtspunkten getroffen hatte, so zeigten die Wahlumfragen doch, dass die Bundespolitik gerade bei denjenigen, die die SPD diesmal nicht mehr gewählt haben, eine große Rolle spielte . In Bezug auf die Richtung der Wählerwanderungen ließ sich für die drei ostdeutschen Bundesländer ein klares Muster ausmachen: Die SPD verlor etwa zu gleichen Teilen an die Nichtwähler, die CDU und die PDS .

Bundesweit hatte die SPD etwa ein Jahr nach der Bundestagswahl fast die Hälfte, im Osten sogar fast drei Fünftel ihrer Wählerschaft von 1998 verloren . Von denen, die der Partei seither den Rücken gekehrt haben, waren jedoch gut drei Fünftel noch nicht zu einer anderen Partei abgewandert, sondern hinsichtlich ihrer Parteipräferenz unentschieden oder aber zur Nichtwahl entschlossen. Die restlichen zwei Fünftel haben sich größtenteils der CDU zugewandt, im Osten liebäugelte ein Achtel der Abwanderer mit der PDS. Fächert man die SPD-Verluste nach ausgewählten Berufsgruppen auf, so zeigt sich zunächst, dass die SPD flächendeckend und nicht nur bei einer spezifischen Gruppe verloren hat. Allerdings sind Abstufungen erkennbar: Die SPD verzeichnete die größten Verluste bei den Arbeitslosen und bei den Selbstständigen mit geringem bzw. mittlerem Einkommen, also bei den Gruppen, die durch die Politik der neuen Bundesregierung am stärksten enttäuscht wurden, da ein schneller Abbau der Arbeitslosigkeit nicht gelang und die kleinen und mittleren Selbstständigen durch die Gesetzesvorhaben zu den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen und die Scheinselbstständigkeit am stärksten betroffen waren.

Maßgeblich für diese enormen Verluste an Zustimmung waren zunächst die schwierigen Beziehungsstrukturen der Führungs-Troika Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping. Die permanente Krise der Regierung begann damit, ,,dass das Zweckbündnis Lafontaine/Schröder mit dem Tag des Machtwechsels zerbrach" . Im folgenden Machtkampf, der auch Rudolf Scharping beschädigte , wurde Lafontaine wegen seiner Dominanz in den Koalitionsverhandlungen und des Ausbaus des Finanzministeriums zu einem zweiten Machtzentrum neben dem Kanzleramt von der Medienöffentlichkeit zunächst immer stärker als eine Art ,,Gegenkanzler" stilisiert, sah sich dann aber durch das Kanzleramt unter Bodo Hombach zunehmend vom Informationsfluss abgeschnitten und mit der Tatsache konfrontiert, dass Schröder aufgrund seiner Richtlinienkompetenz als Kanzler am längeren Hebel saß. Nach Lafontaines Rücktritt am 11. März 1999 und der Übernahme des Parteivorsitzes durch Schröder schien der Machtkampf in der SPD-Führungsspitze endgültig beigelegt. Doch schon wenige Monate später wurde von den Medien ein neues Duell ausgemacht, indem nun Rudolf Scharping zum ,,Reserve-Kanzler" ausgerufen wurde, dessen Treueschwüre gegenüber dem Bundeskanzler ,,wie Kriegserklärungen" klängen . Die anfängliche Existenz zweier Machtzentralen in Gestalt des Kanzleramts und des Finanzministeriums, von Erhard Eppler als grundsätzlicher Konstruktionsfehler der rot-grünen Koalition bezeichnet , trug wesentlich zur zweiten Gruppe von Ursachen für die Schwierigkeiten der Bundesregierung bei: den prozeduralen Problemen in Gestalt von Koordinierungs-, Professionalitäts- und Vermittlungsdefiziten. Gravierende Koordinationsprobleme zeigten sich nicht nur innerhalb der Regierung, auch die Abstimmung zwischen Regierung, Partei, Fraktion und SPD-regierten Bundesländern funktionierte nicht. Es fehlte eine - in der heutigen extrem ausdifferenzierten Organisation des politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses funktional notwendige - Steuerungszentrale und ein eingespieltes Frühwarnsystem, mit dem Fehlentwicklungen frühzeitig hätten erkannt und korrigiert werden können. Zudem war die Regierungsarbeit immer wieder von handwerklichen Fehlern geprägt. Man wollte zu vieles zu schnell, so dass sich unzureichend vorbereitete Gesetzesentwürfe und in ihren Konsequenzen nicht ausreichend durchdachte politische Vorhaben mit späteren Korrekturen und ständigen Nachbesserungen häuften, wie die Beispiele Atomausstieg, Steuerreform, Ökosteuer, Rentenreform, 630-DM-Jobs, Scheinselbstständigkeit und in neuester Zeit das Verwirrspiel um die Gesundheitsreform verdeutlichen. Hinzu kam, dass mit dem Wahltag die Kommunikationsdisziplin aufgehoben war und dadurch die Vermittlung der Politik an die Bürger des Öfteren zum Fiasko geriet. Dass keine einheitliche Kommunikationsstrategie in der Politikvermittlung gefunden werden konnte, lag insbesondere daran, dass bei den beteiligten Akteuren über die politischen Inhalte kontroverse Auffassungen vorherrschten.

Da sich auch innerhalb der SPD große Unzufriedenheit mit dem Erscheinungsbild und der Politik der Bundesregierung angestaut hatte, bemühte sich der Bundeskanzler und Parteivorsitzende, seine Politik im Vorfeld des Berliner Parteitages (7.-9. Dezember 1999) auf vier Regionalkonferenzen zu verteidigen, und betonte dabei vor allem den sozialdemokratischen Grundwert soziale Gerechtigkeit, was Balsam für die Herzen der enttäuschten Sozialdemokraten war . Schröders Rettungsaktion für den Holzmann-Konzern, der harmonisch verlaufende Parteitag, auf dem über das Regierungsprogramm und über erste Schritte für ein neues Grundsatzprogramm der SPD beraten wurde, und schließlich die Parteispendenaffäre der CDU bewirkten einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung zugunsten der SPD . Partei, Bundestagsfraktion und Bundesregierung schienen unter der Ägide von Gerhard Schröder wieder vereint worden und gewillt zu sein, endlich gemeinsam die drängenden Fragen von Innovation und Gerechtigkeit anzugehen. Viele Parteimitglieder hoffen nun, dass die SPD das nach der Bundestagswahl 1998 verlorene Terrain zurückgewinnt und ihre Position als stärkste Bundespartei behaupten kann.

V. Das programmatische Dilemma der SPD

Sozialdemokratie bedeutet nach Thomas Meyer die ,,historische Verpflichtung auf die innere und unauflösliche Verbindung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit" . In diesem Geist seien die Wohlfahrtsstaaten unseres Jahrhunderts entstanden, welches Ralf Dahrendorf als ,,sozialdemokratisch" etikettiert hatte. Nun aber, so die umstrittene Weissagung des Liberalen aus dem Jahr 1983, ,,erleben wir das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts in der OECD-Welt" . Dass die weltweiten tiefgreifenden ökonomisch-sozialen Veränderungen die SPD vor existenzielle Herausforderungen stellen könnten, ahnten bis vor kurzem nur wenige weitsichtige Sozialdemokraten. Anders als die bedeutendsten ihrer europäischen Schwesterparteien, hatte die SPD die notwendige Grundsatzdebatte über das Verhältnis von Ökonomie und Politik in der globalisierten Informationsgesellschaft verdrängt. Im Zentrum ihrer Zukunftsdiskussionen standen eher Aspekte der Parteireform . Als sie im Herbst 1998 an die Macht gelangte, hatte sie folglich kein überzeugendes Konzept für soziale Gerechtigkeit und kein populäres Innovationsprojekt im Gepäck. ,,Zum Innovationsprojekt ist - der Not und Notwendigkeit gehorchend - die Sparpolitik avanciert." Und die Sparpolitik musste bald auch als Instrument zur nachhaltigen Gewährleistung von sozialer Gerechtigkeit herhalten.

Die SPD provoziert mit ihren beiden Fundamentalzielen einen enormen Erwartungsdruck bei den Teilen der Bevölkerung, die mit dem Status quo unzufrieden sind und auf grundlegende politische Reformen (heute vor allem auf dem Gebiet der sozialen Gerechtigkeit) hoffen. Diese Erwartungen sind mit der Existenz der SPD schlechthin verbunden und lassen sich auch nur zum Preis des Identitätsverlusts revidieren. An ihnen wird sie gemessen, unabhängig davon, ob sie (bzw. die Politik) überhaupt strukturell und finanziell in der Lage ist, die erwarteten sozioökonomischen Steuerungsleistungen zu erbringen. Die SPD kann daher nicht erfolgreich sein, wenn sie den Weg des geringsten Widerstands geht und dem Reformdruck durch Anpassung ausweicht. Sie muss ihre historische Mission im Parteiensystem erfüllen. An der Schwelle zum neuen Jahrtausend muss sie vor allem die Frage beantworten, wie sie ihrer ,,Verpflichtung auf die innere und unauflösliche Verbindung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit" nachzukommen gedenkt, wenn der Gestaltungsspielraum der Politik gegenüber der Wirtschaft immer enger wird. Gingen im ,,goldenen Zeitalter" der Sozialdemokratie soziale Gerechtigkeit und Innovation noch Hand in Hand, weil Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung auch den Arbeitnehmern zugute kamen (Wohlfahrtsstaat, Lohnerhöhungen), so findet in der postindustriellen Gesellschaft eine Entkoppelung von beidem statt: Die Modernisierung schafft nicht notwendigerweise neue Arbeitsplätze und von ihr profitiert nur ein Teil der Gesellschaft, eben die Modernisierungsgewinner. Die soziale Ungleichheit zwischen Gewinnern und Verlierern wächst, Unzufriedenheit, Politik- und Systemverdrossenheit sowie Rechtsextremismus breiten sich aus.

Dass die SPD auch in den goldenen Jahren des sozialdemokratischen Jahrhunderts nur die zweite Position im Parteiensystem der Bundesrepublik einnahm, lag in erster Linie daran, dass der demokratische Sozialstaat im Nachkriegsdeutschland vor allem das Werk der CDU/CSU und der Gewerkschaften bzw. Unternehmerverbände war. Die SPD stand der sozialen Marktwirtschaft zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüber und söhnte sich mit ihr offiziell erst im Godesberger Programm (1959) aus. Mit dieser Anpassung war der Grundstein für eine Wählerkoalition aus Arbeiterschaft und Mittelschichten gelegt, die freilich erst dann zur Blüte gelangte, als die Union zu Beginn der Sechzigerjahre innen- und außenpolitisch versagte und die SPD mit ihrer keynesianisch orientierten Wirtschaftskonzeption und mit ihrer entspannungsorientierten Ostpolitik eine eigenständige, innovative und attraktive Alternative anbot.

Dies galt nicht für 1998/99. Die programmatische Bringschuld der SPD mündete auch deshalb bei ihren Mitgliedern und Anhängern in ein ,,Orientierungsvakuum" , weil die Partei weithin vom neoliberalen Zeitgeist ergriffen war und es daher nicht verstand, sich in der Parteienlandschaft gegenüber ihren Konkurrentinnen zu profilieren. Im Bundestagswahlkampf wurde diese Profillosigkeit sogar kultiviert, um Wechselwähler von den Unionsparteien zu gewinnen (Verluste an die PDS nahm man offenbar in Kauf). Nach der Wahl sollte sich dieses Manko jedoch bitter rächen.

Bereits Mitte der siebziger Jahre hatte eine massive antietatistische und monetaristische Kritik am sozialdemokratischen Keynesianismus eingesetzt, der angesichts der damaligen ,,stagflationären" Tendenzen und der wachsenden Massenarbeitslosigkeit in eine heftige Krise geriet. Eine übertriebene wohlfahrtsstaatliche Politik - so die Kritiker - habe die öffentlichen Haushalte überlastet, die Selbststeuerungskräfte des Marktes geschwächt, unternehmerische Initiative behindert und damit der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft insgesamt schwer geschadet. Um ihr zu neuer Blüte zu verhelfen, müsse sie von ihren bürokratischen Fesseln befreit und staatliche Intervention auf das unbedingt notwendige Mindestmaß zurückgeschraubt werden. Für die Lösung der sozialen Probleme seien in erster Linie die Bürger selbst verantwortlich, staatliche Leistungen sollten nur bei Härtefällen gewährt werden. Mit der Bildung der neoliberalen und neokonservativen Regierungen unter Margaret Thatcher (1979) und Ronald Reagan (1980), deren Programm auf die Kurzformel ,freie Wirtschaft plus starker Staat' gebracht wurde, gerieten alle sozialdemokratischen Parteien unter starken politischen Druck, zumal sich die Wirtschafts- und Finanzkrisen in den westlichen Industriegesellschaften weiter vertieften. Vor die Alternative gestellt: ,,soziale Bändigung des Kapitalismus oder Rückverlagerung der Probleme von der planenden Verwaltung auf den Markt" , neigten sie zunächst zu ,,zögerlichem Abwarten", dann zu ,,schleichender Anpassung" . Auch die SPD nahm die Grundzüge der neoliberalen Pläne zum Umbau des Sozialstaats ab Mitte der achtziger Jahre ,,unter den gegebenen Bedingungen in einem graduellen Anpassungsprozess zunehmend als unausweichlich hin" .

Dieser Anpassungsprozess muss aber auch im Zusammenhang mit dem Aufstieg der Grünen gesehen werden, die mit ihren postmaterialistischen, antietatistischen und fortschrittskritischen Vorbehalten gegenüber dem sozialdemokratischen ,,Modell Deutschland" erfolgreich jüngere Mittelschichtwähler des linken Spektrums mobilisierten. Nach dem Machtwechsel von 1982 (die Grünen rückten erstmalig in den Deutschen Bundestag ein) geriet die SPD in eine komplizierte Wettbewerbslage: Sie musste sich gegenüber den Parteien der Regierungskoalition unter Helmut Kohl abgrenzen, die im Vergleich zu den Regierungen in Großbritannien und den USA einen eher moderaten neoliberalen bzw. neokonservativen Kurs steuerten, und sie musste sich gegenüber den Grünen behaupten, die sich nun gemeinsam mit der SPD die Opposition im Bundestag teilten. Erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik war der SPD eine ernsthafte Konkurrenz im linken Lager erwachsen, die ihre scheinbar auf Lebenszeit verliehene Hegemonie in diesem politischen Spektrum beendete. Und dies auch noch zu einem Zeitpunkt, wo die SPD politisch-programmatisch gescheitert war. Anstatt eine inhaltliche Gegenposition zur ,,geistig-moralischen" und ökonomischen Wendepolitik der Unionsparteien in Form eines ,,rot-grünen" Reformprojekts als Machtalternative zu entwickeln, schwankte sie hilflos und von Selbstzweifeln geplagt zwischen neoliberalen, sozialen und ökologischen Zielsetzungen hin und her, wobei ihr offenbar die Abgrenzung gegenüber den Grünen wichtiger erschien als die Ablösung der Kohl-Regierung.

Das Grundsatzprogramm der SPD von 1989 (welches das Godesberger Programm ablöste) und die darauf gegründeten Projekte machten kaum erkenntlich, dass sich die SPD ,,auf die innere und unauflösliche Verbindung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit" verpflichtet fühlt. Die Begriffe ,,demokratischer Sozialismus" und ,,soziale Gerechtigkeit" wurden zumeist nicht im Sinne von konkreten politischen Zielsetzungen, sondern von Traditionsbestimmungen oder unspezifischen Normen verwandt . ,,In der Grundrichtung der (Berliner) Neuorientierung geht es vor allem um eine Europäisierung der gesamten Politik, mithin um die Zerstörung der Illusion, man könne in einem Nationalstaat isoliert die Arbeitslosigkeit bekämpfen oder die Umweltrisiken begrenzen. Außerdem stehen die ökologische Modernisierung unserer Industriegesellschaft sowie - last but not least - die Durchsetzung eines neuen Rollenverständnisses der Frau im Vordergrund."

VI. Die Herausforderung des Neoliberalismus

Das Berliner Programm blieb nicht zuletzt auch deshalb folgenlos, weil es keine spezifische Orientierung für die Gestaltung der inneren Einheit Deutschlands, insbesondere für die ökonomische Transformation der neuen Bundesländer, und schon gar keine Alternative zum Konzept der Bundesregierung bot. Gleichzeitig erwuchs der SPD in der PDS eine weitere Konkurrenz im linken Spektrum des Parteiensystems, die den Begriff ,,demokratischer Sozialismus" für sich vereinnahmen konnte, weil sich die (Ost-)SPD gerade von ihm verabschiedet hatte. Mehr noch: Seit Mitte der neunziger Jahre wurde die PDS in Ostdeutschland zunehmend mit dem Grundwert soziale Gerechtigkeit identifiziert. Dass dies mittelfristig eine Schwächung der Konfliktposition der SPD bedeuten könnte - zumal die Sozialdemokratie kaum Anstrengungen unternahm, aktiv gegenzusteuern -, wurde von den sozialdemokratischen Führungsgruppen (mit wenigen regionalen Ausnahmen in den neuen Bundesländern) nicht erkannt. Überhaupt neigte die SPD mehrheitlich dazu, die PDS als Machtfaktor zu unterschätzen , ihre Reformfähigkeit zu übersehen und sie wegen ihrer Herkunft als Nachfolgepartei der stalinistischen SED auszugrenzen. Als möglicher Bündnispartner für die Ablösung der konservativ-liberalen Koalition auf Bundesebene kam sie folglich nicht in Betracht.

Nach der Bundestagswahl 1998 geriet die SPD in Sachen Grundsatzprogrammatik unter massiven Handlungsdruck. Wegen der sinkenden Zustimmungswerte und der Wahlniederlagen verdichtete sich die Kritik der vermeintlichen ,,Traditionalisten" an den angeblichen ,,Modernisierern", weil letztere dem sozialdemokratischen Grundwert soziale Gerechtigkeit zu wenig Bedeutung beimaßen. Abgesehen davon, dass beide Begriffe wechselseitig in polemischer Absicht verwendet werden, ist die Terminologie auch sachlich unzutreffend, denn die Notwendigkeit einer ,,Modernisierung" von Programm und Praxis der SPD ist nicht umstritten. Unterschiedliche Auffassungen bestehen jedoch über den künftig einzuschlagenden Weg. Die ,,Traditionalisten" verkörpern ebenso wenig die Stammwählerschaft der SPD, wie die ,,Modernisierer" die Wechselwähler oder gar eine ,,neue Mitte" repräsentieren. Als ,,Modernisierer" gelten die Sozialdemokraten, die mit dem marktorientierten Kurs von ,,New Labour" unter Tony Blair in Großbritannien sympathisieren und sich vorzugsweise auf Anthony Giddens berufen. Die ,,Traditionalisten" lassen sich nur teilweise vom Weg der französischen Sozialisten unter Lionel Jospin inspirieren, der betont staatsfixiert und vor allem auf Umverteilung bedacht ist. Sie erkennen vielmehr den großen Modernisierungsbedarf an, warnen aber davor, den Grundwert soziale Gerechtigkeit zu vernachlässigen. Mit der Formel ,,Innovation und Gerechtigkeit" können beide Positionen leben; strittig ist vor allem, welchem der beiden Ziele Vorrang einzuräumen und was unter sozialer Gerechtigkeit zu verstehen ist.

Das Schröder-Blair-Papier vom Juni 1999 ist insoweit neoliberal geprägt, als es sich gegen ,,massive staatliche Interventionen", für eine ,,angebotsorientierte Agenda", für die ,,notwendige Kürzung der staatlichen Ausgaben", für ,,Steuerreformen und Steuersenkungen", für die Senkung der Lohnnebenkosten, für die Erweiterung des unternehmerischen Handlungsspielraums und für die Modernisierung des Sozialstaats ausspricht. Zugleich grenzen sich beide Staatsmänner aber gegenüber dem Laissez-faire-Neoliberalismus ab und fordern eine ,,neu definierte Rolle für einen aktiven Staat".

Die Kritiker dieses Papiers glauben, dass sich seine Autoren dem Neoliberalismus zu stark angepasst, es mit der Verlagerung ehemals staatlicher Aufgaben auf die Bevölkerung zu weit getrieben und der sozialen Gerechtigkeit zu wenig Beachtung geschenkt haben. In der ,,Berliner Erklärung" heißt es beispielsweise: ,,Eine moderne Sozialdemokratie muss sich darüber im Klaren sein, dass wir es mit einem neuen Typ von Kapitalismus zu tun haben. Daher wäre es auch falsch, die im ,sozialdemokratischen Zeitalter' der Nachkriegszeit entwickelten Ansätze unverändert in die neue Realität zu übertragen. Genauso wenig aber kann es um einen Bruch mit den wirtschaftspolitischen Instrumenten, ArbeitnehmerInnenrechten sowie wohlfahrtsstaatlichen und demokratischen Errungenschaften gehen. Sie müssen weiter entwickelt werden. Es muss uns gelingen, die Auswirkungen der Globalisierung sozialpolitisch abzufedern und gleichzeitig die Autonomie der Individuen zu stärken, um die Überforderung des Sozialstaates einzudämmen und gleichwohl Gerechtigkeit walten zu lassen." Hinsichtlich der Vorrangigkeit von Innovation oder Gerechtigkeit heißt es in der Erklärung klipp und klar: ,,Die Identität der Sozialdemokratie wurzelt im Streben nach sozialer Gerechtigkeit."

Die Diskussion über das Verhältnis von Politik und Ökonomie in der globalisierten Informationsgesellschaft wird die SPD noch einige Zeit beschäftigen. Anliegen des Schröder-Blair-Papiers war es, die Debatte medienwirksam auf die Tagesordnung der SPD zu bringen. Die Reaktionen darauf fielen im Sommer/Herbst 1999 mit Blick auf die anstehenden Wahlen teilweise panisch und polemisch aus und erwiesen sich letztlich als wenig hilfreich für die Selbstdarstellung der Partei. Eine ernsthafte und sachbezogene Grundsatzdebatte muss allerdings mehr leisten als die Anpassung der Programmatik der SPD an die veränderten weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gegebenheiten. Die SPD muss sich zugleich eine attraktive Alternative zum Neoliberalimus erarbeiten und ein deutliches Profil gegenüber den Unionsparteien gewinnen. Diese neigen keineswegs zum Marktradikalismus, sind durchaus auf ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit bedacht und streben ebenfalls eine zukunftsorientierte Bildungspolitik an (es sei daran erinnert, dass Bayern auf diesem Gebiet sehr ambitionierte Ziele verfolgt). Angesichts der Tatsache, dass sich die ,,neue soziale Frage" zu einer bedeutsamen Konfliktlinie im bundesdeutschen Parteiensystem entwickelt , muss sich die SPD bei der Privatisierung der sozialen Gerechtigkeit außerordentliche Zurückhaltung auferlegen. Die Akzeptanzkrise nach der Bundestagswahl 1998 sollte ihr eine Warnung sein.

VII. Fazit

An der Schwelle zum neuen Jahrhundert befindet sich die SPD in einer prekären Lage. Sie hat bei der letzten Bundestagswahl einen außerordentlichen Sieg erreicht, scheint die darauf folgende Akzeptanzkrise überwunden zu haben und kann nun alles daran setzen, ihre 1998 erworbene Majorität zu bewahren. Das muss ihr allerdings unter den Bedingungen asymmetrischer Machtchancen gelingen. Als zweite Partei im Parteienwettbewerb kann sie nur erfolgreich sein, wenn sie dem neoliberalen Mainstream nicht durch Anpassung nachgibt, sondern eine profilierte Alternative anbietet, die neben innovativen Projekten eine moderne Version von sozialer Gerechtigkeit umfasst, die den gesellschaftlichen Marginalisierungstendenzen wirksam begegnet. Dass die SPD bislang zumeist als ,,zweiter Sieger" abgeschnitten hat, folgt gewiss keinem Naturgesetz, ist aber auch kein Zufall. Selbst wenn sie ihre Wettbewerbsnachteile durch ein auch für Wechselwähler attraktives Programm, durch hohe Kompetenzzuweisungen und populäre Spitzenkandidaten kompensiert, wird sie ihre Majorität nur so lange aufrechterhalten können, wie sich die Unionsparteien in schlechter politischer Verfassung befinden. Sollte die CDU/CSU wieder auf den (,,ihren") ersten Platz vorrücken, wäre damit nicht notwendigerweise ein Machtwechsel verbunden. Denn die SPD kann die Asymmetrie des Parteiensystems durch eine vorausschauende Bündnispolitik unterlaufen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Karl Schmitt, Im Osten nichts Neues? Das Kernland der deutschen Arbeiterbewegung und die Zukunft der politischen Linken, in: Wilhelm Bürklin/Dieter Roth (Hrsg.), Das Superwahljahr. Deutschland vor unkalkulierbaren Regierungsmehrheiten?, Köln 1994, S. 185-218.

  2. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986, S. 113 ff.

  3. Die kleine Gruppe der Jungwähler kann in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden.

  4. Auch die Annahme, dass die SPD ihre Stammwähler nur aus der Arbeiterschaft und ihre Wechselwähler nur aus den Mittelschichten rekrutiert, ist spätestens seit 1961 unzutreffend.

  5. Hans-Dieter Klingemann, Kontinuität und Veränderung des deutschen Parteiensystems, 1949-1998, in: Max Kaase/Günther Schmid (Hrsg.), Eine lernende Demokratie. 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, WZB-Jahrbuch 1999, Berlin 1999, S. 126.

  6. Vgl. Richard Stöss, Stabilität im Umbruch. Wahlbeständigkeit und Parteienwettbewerb im ,,Superwahljahr" 1994, Opladen 1997, S. 79 ff.

  7. Zum Wahlergebnis vgl. Werner Kaltefleiter, Zwischen Konsens und Krise. Eine Analyse der Bundestagswahl 1972, Bonn 1973; Dieter Just/Lothar Romain (Hrsg.), Auf der Suche nach dem mündigen Wähler. Die Wahlentscheidung 1972 und ihre Konsequenzen, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 101, Bonn 1974.

  8. Zur Wahlkampfstrategie der SPD vgl. Albrecht Müller, Willy wählen '72. Siege kann man machen, Annweiler 1997.

  9. Zum Wahlergebnis vgl. Ursula Feist/Hans-Jürgen Hoffmann, Die Bundestagswahlanalyse 1998: Wahl des Wechsels, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 30(1999)2, S. 215-251; Matthias Jung/Dieter Roth, Wer zu spät geht, den bestraft der Wähler. Eine Analyse der Bundestagswahl 1998, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 52/1998, S. 3-18. Zum Wahlkampf vgl. Oskar Niedermayer, Die Bundestagswahl 1998: Ausnahmewahl oder Ausdruck langfristiger Entwicklungen der Parteien und des Parteiensystems?, in: ders. (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 1998, Opladen 1999, S. 9 ff.

  10. Renate Köcher, In der neuen Lage hat die CDU neue Aufgaben - der Vertrauensverlust und die Niederlage bahnten sich seit langem an, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. 10. 1998, S. 5. Vgl. auch Dieter Oberndörfer/Gerd Mielke/Ulrich Eith, Der Befreiungsschlag. Eine Analyse der Bundestagswahl vom 27. September 1998, in: Frankfurter Rundschau vom 2./3. 10. 1998, S. 12.

  11. Vgl. Richard Stöss/Gero Neugebauer, Die SPD und die Bundestagswahl 1998. Ursachen und Risiken eines historischen Wahlsiegs unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Ostdeutschland, Berlin 1998 (Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 2), S. 15 f.

  12. Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Bundestagswahl 1998. Eine Analyse der Wahl vom 27. September 1998, Mannheim 1998, S. 21 ff., 71 ff.

  13. R. Stöss/G. Neugebauer (Anm. 11).

  14. Joachim Raschke, Eine Partei, die nicht weiß, was sie tut, in: Die Tageszeitung vom 6. 12. 1999, S. 10.

  15. Gegenüber der Europawahl 1994 verlor die SPD 1,5 Prozentpunkte, die Union gewann 9,3 Prozentpunkte. Gegenüber der Bundestagswahl 1998, die in der öffentlichen Diskussion häufiger als Vergleichsmaßstab herangezogen wurde, verlor die SPD 10,2 Prozentpunkte und die CDU/CSU legte 13,6 Prozentpunkte zu.

  16. Bei der Bundestagswahl 1998 konnte die SPD noch über ein Drittel der Wahlberechtigten für sich mobilisieren.

  17. Gerd Mielke, Dieses Jahr hat das Zeug zum Schicksalsjahr - Die Sozialdemokratische Partei im Abwärtststrudel, in: Frankfurter Rundschau vom 6. 12. 1999, S. 7.

  18. Sehr deutlich wurde dies z. B. bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl. Vgl. Oskar Niedermayer/Richard Stöss, Die Berliner Abgeordnetenhauswahl vom 10. Oktober 1999: Der gescheiterte Machtwechsel, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 31(2000)1, (i. E.).

  19. Ergebnisse der Infratest dimap Vorwahlerhebungen.

  20. Vgl. Wahlberichterstattung Infratest dimap.

  21. Kumulation der forsa-Umfragen des Zeitraums, in dem die Landtagswahlen stattfanden (36. bis 40. Woche; 11 444 Befragte).

  22. Gerhard Spörl, Das rote Gespenst, in: Der Spiegel, Nr. 40 vom 4. 10. 1999, S. 24. Zum Machtkampf zwischen Schröder und Lafontaine bis zu dessen Rücktritt vgl. Horand Knaup/Jürgen Leinemann/Hartmut Palmer/Ulrich Schäfer/Hajo Schumacher, Der lange Weg zum kurzen Abschied, in: Der Spiegel, Nr. 40 vom 4. 10. 1999, S. 116-130.

  23. Auf Betreiben Lafontaines musste Scharping gegen seinen Willen den Fraktionsvorsitz aufgeben.

  24. Der Stern, Nr. 48 vom 25. 11. 1999, S. 43, und Der Spiegel, Nr. 46 vom 15. 11. 1999, S. 26.

  25. Vgl. H. Knaup u. a. (Anm. 22), S. 125.

  26. Vgl. Gerhard Schröder, Starke Partei, in: Vorwärts, Dezember 1999, S. 8.

  27. In der politischen Stimmung verbesserte sich die SPD im Dezember 1999 gegenüber dem Vormonat um zehn Prozentpunkte auf 41 Prozent. Die CDU/CSU verschlechterte sich in diesem Zeitraum von 55 Prozent auf 43 Prozent. Siehe Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer, Nr. 12/1999, S. 1.

  28. Thomas Meyer, Die Transformation der Sozialdemokratie. Eine Partei auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Bonn 1998, S. 9.

  29. Vgl. Wolfgang Merkel, Ende der Sozialdemokratie? Machtressourcen und Regierungspolitik im westeuropäischen Vergleich, Frankfurt/M. - New York 1993.

  30. Ralf Dahrendorf, Die Chancen der Krise. Über die Zukunft des Liberalismus, Stuttgart 1983, S. 17.

  31. Vgl. Karlheinz Blessing (Hrsg.), SPD 2000. Die Modernisierung der SPD, Marburg 1993.

  32. J. Raschke (Anm. 14).

  33. W. Merkel (Anm. 29), S. 128.

  34. G. Mielke (Anm. 17).

  35. Stagflation ist ein Kompositum aus Stagnation und Inflation.

  36. Jürgen Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1985, S. 155.

  37. Jens Borchert, Alte Träume und neue Realitäten: Das Ende der Sozialdemokratie, in: ders./Lutz Golsch/Uwe Jun/Peter Lösche (Hrsg.), Das sozialdemokratische Modell. Organisationsstrukturen und Politikinhalte im Wandel, Opladen 1996, S. 60.

  38. J. Borchert, ebd., S. 61.

  39. Vgl. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom Programmparteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 20. Dezember 1989 in Berlin, hrsg. vom Vorstand der SPD, Bonn 1990. Vgl. Peter Glotz, Neue Projekte der Linken, in: Josef Schmid/Heinrich Tiemann (Hrsg.), Aufbrüche: Die Zukunftsdiskussion in Parteien, Verbänden und Kirchen, Marburg 1990, S. 75-83.

  40. Vgl. T. Meyer (Anm. 28), S. 171 ff.

  41. P. Glotz (Anm. 39), S. 75.

  42. Vgl. R. Stöss (Anm. 6), S. 171 ff.

  43. Die erheblichen Zugewinne der PDS bei der Bundestagswahl 1998, die teilweise zulasten der SPD gegangen waren, deuteten bereits eine Tendenz an, die sich bei den ostdeutschen Landtagswahlen des Jahres 1999 fortsetzen sollte. Zum Bundestagswahlergebnis der PDS: Gero Neugebauer/Richard Stöss, Nach der Bundestagswahl 1998: Die PDS in stabiler Seitenlage?, in: O. Niedermayer (Hrsg.) (Anm. 9), S. 119-140.

  44. Vgl. Anthony Giddens, Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt/M. 1997; ders., Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt/M. 1999.

  45. Die ,,Berliner Erklärung" dreier SPD-Arbeitsgemeinschaften von Rudolf Dreßler (AfA), Karin Junker (ASF) und Benjamin Mikfeld (Jusos) vom November 1999 kann unter ,,http://www.spd.de/jusos/aktuell" abgerufen werden.

  46. Vgl. Dieter Oberndörfer/Gerd Mielke/Ulrich Eith, Die neue Konfliktlinie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 43 (1998) 11, S. 1291-1296.

Dr. phil., geb. 1944; Privatdozent am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin.

Zahlreiche Veröffentlichungen zu Parteien, Wahlen und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland.

Oskar Niedermayer, Dr. rer. pol., geb. 1952; o. Professor am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin.

Zahlreiche Veröffentlichungen zu Parteien, Wahlen und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland.