I. Einleitung
Den Willen zu weiteren Integrationsschritten markieren auch die Beschlüsse des Europäischen Rats in Köln vom Juni 1999 zur Begründung eines europäischen Beschäftigungspakts, zur Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), zur Festlegung auf eine im Jahr 2000 durchzuführende Regierungskonferenz über institutionelle Reformen sowie zur Ausarbeitung einer europäischen Grundrechtscharta. Zudem erzielten die EU-Staats- und Regierungschefs auf dem Sondergipfel von Tampere (Finnland) im Oktober 1999 eine Einigung über die nächsten Etappen beim Aufbau eines gemeinsamen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und einigten sich im Dezember 1999 in Helsinki u. a. darauf, mit weiteren sechs Bewerberstaaten Beitrittsverhandlungen aufzunehmen und der Türkei einen offiziellen Kandidatenstatus für den EU-Beitritt zu verleihen.
Für die EU stellt sich nunmehr die Aufgabe, die im Vorjahr lancierten Impulse aufzugreifen und konstruktiv umzusetzen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei den institutionellen Reformen, der Ausarbeitung der europäischen Grundrechtscharta, dem Aufbau der ESVP sowie der Steuerung des Erweiterungsprozesses zu. Im Jahr 2000 werden damit entscheidende Weichen für den Weg zu einer erweiterten und den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsenen, politisch handlungsfähigen Union zu stellen sein.
Deutschland hat ein zentrales Interesse an der Bewältigung der neuen integrationspolitischen Herausforderungen. Aufgrund der unmittelbaren Nachbarschaft zu den mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL), der Exportabhängigkeit der deutschen Industrie, der nicht zuletzt aufgrund der Lehren der deutschen Geschichte tief verwurzelten Tradition der Einbindung in die europäischen Strukturen sowie der historisch-moralischen Verpflichtung gegenüber den MOEL ist das Ziel einer erweiterten und vertieften EU ein fester Bestandteil der deutschen Staatsraison. Welche Prioritäten, Ziele und Interessen verfolgt die deutsche Europapolitik aber konkret bei der Lösung der anstehenden integrationspolitischen Aufgaben? Welche Gestaltungsräume und welche Schwierigkeiten sind dabei zu erwarten?
II. Erweiterung und Vertiefung der EU
1. Erweiterung
Deutschland ist von allen Entwicklungen in den MOEL - positiven wie negativen - direkt betroffen. Es kann daher nicht verwundern, daß die EU-Osterweiterung und mit ihr der Export von politischer und wirtschaftlicher Stabilität in die östlichen Nachbarländer "die strategische Priorität Nummer eins"
Zudem vollzog die Schröder-Regierung in der Frage des Verhältnisses der EU zur Türkei einen Kurswechsel gegenüber der früheren Kohl-Regierung, indem sie sich mit Nachdruck für die in Helsinki beschlossene Anerkennung der Türkei als offiziellen EU-Beitrittskandidaten einsetzte. Berlin geht es darum, der Türkei entsprechend ihrer strategischen Bedeutung eine "glaubhafte europäische Perspektive"
Ob aber durch die zweifellos gesteigerten Erwartungshaltungen der Beitrittskandidaten - einschließlich der Türkei - der politische Druck in Richtung einer raschen und umfassenden und damit die Gefahr einer Verwässerung des Integrationsprozesses implizierenden Erweiterung gebannt werden kann, hängt maßgeblich vom Willen der Bundesregierung und ihrer Partner zur Vertiefung der Integration ab. Durchgreifende institutionelle Reformen sind dringend geboten, da die für die ursprüngliche Sechser-Gemeinschaft ausgelegten Strukturen, Verfahren und Institutionen bereits heute mit fünfzehn Mitgliedern häufig überfordert sind. Ohne Reformen würde eine EU mit 28 bis 30 Mitgliedstaaten einen Infarkt der Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit erleiden. Die strategischen Ziele deutscher Europapolitik ,rasche EU-Erweiterung' und ,substantielle Vertiefung'
Als Ausweg aus diesem Zielkonflikt entwickelte die Bundesregierung während ihrer EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 eine Zweistufen-Strategie, die im Juni 1999 vom Europäischen Rat in Köln angenommen wurde. Demnach soll sich die für die Reform der EU-Institutionen einzuberufende Regierungskonferenz auf die von den Staats- und Regierungschefs in Amsterdam ungelösten Fragen ("left-overs") beschränken, um einen zügigen Abschluss der Verhandlungen unter den Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Zugleich wurde jedoch die Ausarbeitung einer europäischen Grundrechtscharta beschlossen, die aus deutscher Sicht die Ausgangsbasis für einen späteren europäischen Verfassungsvertrag bilden kann, der nur durch einen mittel- bis längerfristigen Verständigungsprozess unter den Mitgliedstaaten erreichbar ist.
2. Regierungskonferenz 2000
Oberste Priorität der deutschen Europapolitik ist der Abschluss der Regierungskonferenz zu den institutionellen Reformen noch während der französischen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2000, um unter Berücksichtigung der Ratifizierungsphase für den geänderten EU-Vertrag dann ab Ende 2002 die ersten neuen Mitglieder in die EU aufnehmen zu können. Da nicht alle gegenwärtigen Mitgliedstaaten uneingeschränkt die deutschen und französischen Vorstellungen einer Begrenzung der Regierungskonferenz auf die Amsterdamer "left-overs" teilen, bedarf es noch einiger Anstrengungen, um eine Überfrachtung der Verhandlungen mit zusätzlichen komplizierten Themen zu vermeiden
Deutschland gehört gerade angesichts der wachsenden Zahl von Mitgliedstaaten traditionell zu den Befürwortern einer Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen, um die Beschluss- und Handlungsfähigkeit der EU zu erhalten und zu stärken. Entsprechend stellt der vermehrte Übergang zu Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit bei gleichzeitiger Mitentscheidung des Europäischen Parlaments nach den Worten von Bundeskanzler Schröder "einen Kernpunkt der anzustrebenden Reform"
Ob sich eine Generalisierung von Mehrheitsentscheidungen durchsetzen lässt, ist freilich offen. Zwar sind z. B. auch Italien, Frankreich und die Benelux-Staaten für eine stärkere Anwendung des Mehrheitsprinzips, jedoch haben andere Mitgliedstaaten - vor allem Großbritannien - hier noch starke Vorbehalte. Auch wird eine automatische Verknüpfung von Mehrheitsentscheidungen im Rat mit der Mitentscheidungskompetenz des Europäischen Parlaments keineswegs von allen Mitgliedstaaten unterstützt. Dem von der Bundesregierung angestrebten Ziel wird also nur durch Beharrlichkeit und Ausdauer näher zu kommen sein.
Bei der Anwendung von qualifizierten Mehrheitsabstimmungen spielt die Stimmengewichtung im Rat eine große Rolle. Die bloße Fortschreibung des ursprünglich auf sechs Mitgliedstaaten ausgelegten und die kleineren Mitgliedstaaten begünstigenden Systems führt schon heute zu Verzerrungen bei qualifizierten Mehrheiten und Sperrminoritäten im Rat, was sich bei dem Beitritt einer Vielzahl weiterer kleiner Mitgliedstaaten noch verschärfen würde
Die Reform von Größe und Zusammensetzung der Kommission ist ebenfalls nicht unproblematisch. Zwar sind aus funktionaler Sicht kaum mehr als zwanzig unterschiedliche Ressorts für Kommissare erforderlich. Für die kleineren Mitgliedstaaten ist jedoch ein eigener "nationaler" Vertreter im Kommissionskollegium als Bindeglied zu Brüssel und auch aus Gründen der innenpolitischen Akzeptanz von Integrationspolitik von sehr großer Bedeutung. In einem Protokoll zum Amsterdamer Vertrag
Angesichts der Perspektive einer Erweiterung auf bis zu dreißig Mitgliedstaaten müssen aber weiterreichende Lösungen gefunden werden, die Kompensationen für Mitgliedstaaten schaffen, die keinen eigenen Kommissar stellen. Reformoptionen wären z. B. das bereits in Amsterdam diskutierte Modell der Senior- und Junior-Kommissare oder die Aufwertung der Generaldirektoren z. B. nach dem deutschen Modell der politischen Staatssekretäre. Ob allerdings dadurch Posten geschaffen werden, die den Anspruch der kleineren Mitgliedstaaten auf eine nationale Identifikations- und Repräsentationsfigur in Brüssel befriedigen, ist einstweilen fraglich.
3. Europäische Grundrechtscharta - Nukleus eines europäischen Verfassungsvertrags?
Die kontinuierliche Ausweitung von Kompetenzen und Aufgaben der EU sowie die fortschreitende Verschmelzung europäischer und nationalstaatlicher Handlungsinstrumente bei gleichzeitig im Vergleich zu den achtziger Jahren geringerer Akzeptanz der EG/EU unter den Bürgern haben vor allem in Deutschland die Debatte über die Notwendigkeit einer europäischen Verfassung intensiviert. Eine konstitutionelle Grundlage könnte - so das Argument der Befürworter - die demokratische Legitimation der EU stärken und die Entwicklung einer europäischen Identität der Bürger fördern. Konsequenterweise hat deshalb Außenminister Fischer in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament zur Vorstellung des deutschen Ratspräsidentschaftsprogramms im Januar 1999 grundsätzliche Fragen nach einer europäischen Verfassung, nach den Methoden der weiteren Integration sowie nach der Finalität Europas aufgeworfen
Dies rief gemischte Reaktionen hervor und wurde von einigen weniger integrationsfreundlichen Mitgliedstaaten mit Skepsis oder sogar offener Ablehnung zur Kenntnis genommen. Im Bewusstsein dieser Widerstände konzentriert die Bundesregierung ihre Bemühungen um eine qualitative Fortentwicklung des Integrationsprozesses zunächst auf das Projekt einer europäischen Grundrechtscharta, das schon seit längerem diskutiert worden war und zu dem insbesondere das Europäische Parlament bereits umfassende Vorschläge unterbreitet hat. Die von der Bundesregierung initiierte und vom Europäischen Rat von Köln im Juni 1999 beschlossene Ausarbeitung einer europäischen Charta der Grundrechte zielt darauf ab, die EU-weit geltenden Grundrechte zusammenzufassen und sichtbarer zu machen
Mit dieser zweistufigen Perspektive verbindet sich die Hoffnung auf weiter reichende Impulse für die europäische Verfassungsentwicklung. Denn erstens dürfte der Prozess der Ausarbeitung einer Charta eine öffentliche Diskussion über Grundsatzfragen zur Verfasstheit der EU in Gang setzen, die sicherlich nicht ohne Einfluss auf die Haltungen der mitgliedstaatlichen Regierungen bleibt. Zweitens könnten hinsichtlich des Schutzes der in der Charta zusammengefassten Grundrechte Ansprüche gegenüber der EU abgeleitet und geltend gemacht werden, die die Frage nach einer vertraglichen oder verfassungsähnlichen Verankerung auf europäischer Ebene aufwerfen. Drittens lässt sich die Zusammensetzung des mit der Ausarbeitung der Charta beauftragten Gremiums und hier insbesondere die weitreichende Einbeziehung von Parlamentariern als ein beispielhaftes Ergänzungs- oder Alternativmodell zu den von der Öffentlichkeit relativ abgeschotteten Regierungskonferenzen verstehen, von dem prozedurale Impulse für die europäische Verfassungsentwicklung ausgehen. Die Initiative für eine Grundrechtscharta könnte also zu einem ersten "Schritt auf dem Weg zur Entwicklung stärkerer und damit belastbarer europäischer Verfassungsgrundlagen"
Diese Strategie, die in den Programmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Europawahl 1999 aufgeführt wurde
III. Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Die Eskalation des Kosovo-Konflikts im Jahre 1999 offenbarte erneut auf schonungslose Art und Weise die gravierenden Defizite der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Einerseits vermochte es die EU zwar, geschlossen aufzutreten und, angetrieben durch die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999, wichtige Impulse für eine Friedenslösung sowie für eine langfristige Stabilisierung des Balkans zu geben und damit ein echtes außenpolitisches Profil zu entwickeln
1. Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Auf dem Europäischen Rat von Köln im Juni 1999 erklärten die EU-Mitgliedstaaten ihren Willen, die Fähigkeit der EU zur Krisenbewältigung zu entwickeln und die dafür notwendigen verteidigungspolitischen Funktionen der Westeuropäischen Union (WEU) auf die EU zu übertragen, was de facto einer Integration der WEU in die EU gleichkommt. Die entsprechenden formalen Beschlüsse sollen bis Ende 2000 gefasst werden
Unklar ist auch, wie der in der Kölner Erklärung des Europäischen Rates nachdrücklich betonte Ausbau der militärischen Kapazitäten vor allem in den Bereichen des weitreichenden Lufttransports und der strategischen Aufklärung angesichts knapp bemessener Verteidigungshaushalte der meisten Mitgliedstaaten realisiert werden soll. Immerhin hat der Europäische Rat in Helsinki beschlossen, dass die Mitgliedstaaten spätestens im Jahr 2003 in der Lage sein müssen, 50 000 bis 60 000 Mann an Streitkräften für ein EU-geführtes Krisenmanagement bereitzustellen
Angesichts der schwierigen Detailfragen wird der ehrgeizige Zeitplan für die notwendigen Entscheidungen zur Stärkung der ESVP bis Ende 2000 nur eingehalten werden können, wenn alle Mitgliedstaaten und beteiligten Institutionen konstruktiv und undogmatisch an der Umsetzung der Leitlinien von Köln und Helsinki mitwirken. Aus deutscher Sicht stellt die Entwicklung von Fähigkeiten der EU für die Krisenbewältigung einen wichtigen Bestandteil beim Ausbau des europäischen Einigungswerks dar, der insbesondere angesichts der seit Beginn der neunziger Jahre gewachsenen Gefahr von regionalen Konflikten an Bedeutung gewonnen hat.
Hierbei geht es im militärischen Bereich um die Schaffung der Voraussetzungen für europäisches Krisenmanagement, das EU-geführte Operationen vorzugsweise mit, aber gegebenenfalls auch ohne Rückgriff auf NATO-Mittel erlaubt, wenn die NATO als Ganzes und die USA nicht aktiv werden wollen. Insbesondere mit Blick auf die Erfahrungen während des Kosovo-Konflikts, in dem die militärische Abhängigkeit der Europäer von den USA überdeutlich geworden ist
Vor diesem Hintergrund ist es gegenüber den Partnern in der EU nicht einfach zu vermitteln, wie die im Sommer 1999 verfügte Reduzierung der Verteidigungsausgaben mit den zur Stärkung der ESVP notwendigen Investitionen vereinbar ist
2. Prioritäten in der GASP
Militärisches Krisenmanagement bleibt freilich ein Instrument der letzten Rückgriffsmöglichkeit. Oberstes Ziel deutscher Außenpolitik ist es, durch vorausschauende Maßnahmen "den Frieden, die Sicherheit und das stabile Umfeld, auf dem letztlich unser Wohlstand beruht, zu festigen"
Von besonderer Bedeutung ist dabei der Stabilitätspakt für Südosteuropa, der im Frühjahr 1999 während des Kosovo-Konflikts von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft lanciert und im Juni 1999 in Köln unterzeichnet wurde. Er enthält einen umfassenden Ansatz der politischen und wirtschaftlichen Unterstützung unter Einschluss eines Assoziierungsangebots in der letztendlichen Perspektive der EU-Mitgliedschaft der Länder des ehemaligen Jugoslawiens und Albaniens. Die Bundesregierung sieht den Stabilitätspakt als zentrale Aufgabe der EU-Außenpolitik an, von der nicht nur die Verwirklichung einer dauerhaften friedlichen und stabilen Nachkriegsordnung in Südosteuropa abhängt, sondern auch die politische Glaubwürdigkeit der EU.
Unabhängig davon, dass der Abschluss von Assoziierungsabkommen und insbesondere der Beitritt zur EU für die meisten Staaten des westlichen Balkans in weiter Ferne liegen, kommt es zunächst im Jahr 2000 darauf an, die in der ersten Phase der Umsetzung des Stabilitätspaktes aufgetretenen Probleme - wie die Komplexität des Paktes, den Mangel an direkten Finanzierungsmöglichkeiten sowie die fehlende Gesamtvision - zu überwinden
Um hierfür die Handlungsfähigkeit der EU zu erhöhen, ist so früh wie möglich im Laufe dieses Jahres die Verabschiedung einer ,gemeinsamen Strategie' für den westlichen Balkan erforderlich. Das GASP-Instrument der ,gemeinsamen Strategie' wurde mit dem Amsterdamer Vertrag eingeführt. Für die deutsche Europapolitik ist die Nutzung dieses Instruments in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Zum einen können Folgebeschlüsse des Rates zu einer zuvor vom Europäischen Rat einstimmig festgelegten gemeinsamen Strategie mit qualifizierter Mehrheit und damit effizienter und rascher gefasst und auch Fortschritte auf dem Weg hin zu einer "Vergemeinschaftung"
Aus deutscher Sicht sind die ersten, im Jahre 1999 definierten gemeinsamen Strategien zu Russland
Der Tschetschenien-Krieg belastet die Beziehungen zwischen der EU und Russland und stellt die gemeinsame Strategie gegenüber diesem Land auf den Prüfstand. Gerade die Bundesregierung setzt sich bislang für deutliche Worte, aber verhaltene Reaktionen der EU ein, um eine Isolierung Russlands zu verhindern und nicht jenen Kräften Auftrieb zu geben, die von der Westorientierung Russlands abkehren möchten. Bei einer längeren Fortdauer des Tschetschenien-Krieges wird aber eine Überarbeitung der gemeinsamen Strategie gegenüber Russland notwendig sein, die nicht nur auf An- und Einbindung des großen östlichen Nachbarn abzielt, sondern auch das Prinzip der Konditionalität einschließlich der Möglichkeit von Sanktionen stärker akzentuiert.
IV. Ausblick
Mit dem Jahr 2000 hat nicht nur kalendarisch, sondern auch integrationspolitisch eine neue Zeit begonnen. Die EU des 21. Jahrhunderts wird über eine interne Regulierungs- und Verteilungsgemeinschaft hinaus zu einer externen Handlungs- und Verantwortungsgemeinschaft finden müssen. Ihre Erweiterung auf bis zu 28 oder 30 Mitgliedstaaten wird ihr internationales Gewicht und ihre inneren Strukturen dramatisch verändern. Gleichzeitig findet aber die Erweiterung als Instrument von Geopolitik und Stabilisierungspolitik dann ihre Grenzen, wenn Überdehnung die Funktions- und Handlungsfähigkeit der EU zu gefährden droht. Die institutionellen Reformen im Rahmen der Regierungskonferenz 2000 sind vor diesem Hintergrund ein Schlüssel erfolgreicher Integrationspolitik.
Deutschland spielt bei der Bewältigung der beispiellosen Herausforderungen, vor denen die EU steht, eine zentrale Rolle. Das gilt für den Ausbau der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in einer dem Bündnis mit den USA nicht nur verträglichen, sondern auch förderlichen Weise genauso wie für die Steuerung des Erweiterungsprozesses und die Vertiefung der Integration. Als größter Mitgliedstaat, dazu in europäischer Mittellage, hat gerade Deutschland Interesse an einer funktionierenden EU. Die deutsche Europapolitik nimmt deshalb auch weiterhin bei den institutionellen Reformen eine Vorreiterrolle ein. Die rot-grüne Bundesregierung hat hier deutliche Akzente gesetzt und wird angesichts der unterschiedlichen Interessen in der EU mit Überzeugungskraft und Beharrlichkeit auf die Verwirklichung ihrer europapolitischen Ziele drängen müssen.
Die verstärkte Anwendung von Mehrheitsentscheidungen und die Anpassung der Stimmengewichtung im Rat sind zweifellos notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für ein erweitertes und vertieftes Europa. Im Zuge des fortschreitenden Erweiterungsprozesses werden verstärkt Formen der abgestuften und flexibleren Integration zur Anwendung kommen müssen, um über die Bewältigung der tagespolitischen EU-Agenda hinaus eine Intensivierung des Integrationsprozesses zu ermöglichen. Das Anschieben der Debatte über die europäische Verfassung weist grundsätzlich in die richtige Richtung. Die Gefahr einer Versandung dieses Prozesses ist aber real. Sie kann nur dann gebannt werden, wenn vor allem zunächst im engen Verbund mit Frankreich ein klareres Bild darüber gewonnen wird, wo die Grenzen der EU liegen und wie das erweiterte Großeuropa nach föderalen und demokratischen Prinzipien regiert werden soll.