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Politisches Engagement, Protest und die Bedeutung sozialer Ungerechtigkeit

Holger Lengfeld Stefan Liebig Alfredo Märker Alfredo Stefan / Märker Holger / Liebig Lengfeld

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Welche Auswirkungen haben wahrgenommene Ungerechtigkeiten auf das politische Engagement der BürgerInnen in modernen Demokratien? Und wie sieht es mit dem politischen Protest aus?

Vorwort

Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Nachwuchsgruppe "Interdisziplinäre Soziale Gerechtigkeitsforschung", die von der Volkswagen-Stiftung gefördert wird. Die verwendeten Umfragedaten wurden durch das International Social Justice Project erhoben. Das deutsche Teilprojekt wird von Prof. Bernd Wegener geleitet und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert. Für Anregungen und Kritik danken wir Stephan Schlothfeldt und Bodo Lippl.

I. Einleitung

Eine der Lehren, die man aus der wechselvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts ziehen kann, ist sicherlich, dass die parlamentarische Demokratie im Vergleich zu anderen Staatsformen diejenige ist, die ihren Bürgern weitestgehende Rechte einräumt und geeignete Rahmenbedingungen für politische und ökonomische Stabilität bereitstellt. Eines ihrer zentralen Merkmale ist die Vielzahl an Institutionen - Parteien, Parlamente, Verwaltungen oder Gerichte -, in denen politische Entscheidungen getroffen werden und die gleichzeitig dazu dienen, diese Entscheidungsprozesse zu kontrollieren und zu legitimieren.

Für parlamentarische Demokratien ist weiterhin charakteristisch, dass sowohl ihre Institutionen als auch die darin getroffenen Entscheidungen nur dann von Bestand sein können, wenn sie mit dem Willen der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger übereinstimmen. Doch sind die Institutionen nicht allein auf die - vielleicht stillschweigende - Zustimmung, sondern vor allem auf die aktive Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Wie in keiner anderen Staatsform verfügen die Bürger neben der Teilnahme an Wahlen über eine Reihe freiwilliger Teilhabe- und Einflussmöglichkeiten, von individuellem politischem Engagement bis hin zu gemeinschaftlich organisiertem Protest. Doch welche Beweggründe sind ausschlaggebend, wenn sich Menschen für eine bestimmte Form politischer Partizipation entscheiden? Diese Frage wollen wir in den Mittelpunkt dieses Beitrags stellen. Um sie zu beantworten, kann man sicherlich verschiedene Wege beschreiten. Wir wollen uns auf die Bedeutung sozialer Gerechtigkeit bzw. sozialer Ungerechtigkeit konzentrieren.

Grundsätzlich haben die Bürger in modernen Demokratien die Wahl zwischen zwei Formen der politischen Partizipation: Sie können sich jeweils für oder gegen konventionelle und unkonventionelle Partizipation entscheiden. Zur konventionellen Form zählen alle unzweifelhaft legalen, gesetzestreuen Handlungen wie die Information über politische Themen in den Medien, die Diskussion politischer Probleme mit Freunden, die Wahrnehmung des passiven Wahlrechts oder die Unterstützung einer Partei im Wahlkampf. Als unkonventionell gelten demgegenüber "demonstrative" - z. B. die Teilnahme an Demonstrationen oder Boykottaufrufen - und "konfrontative" Protestformen. Da es sich bei den konfrontativen Formen beispielsweise um die Teilnahme an einem wilden Streik, die politisch motivierte Besetzung oder Zerstörung von fremdem Eigentum handeln kann, haben wir es hier in den meisten Fällen mit nicht-legalen Verhaltensweisen zu tun. Die Frage, mit der wir uns im Folgenden beschäftigen möchten, lautet deshalb genauer: Hat die Wahrnehmung sozialer Ungerechtigkeiten spezifische Folgen für die Wahl konventioneller oder unkonventioneller politischer Partizipation?

Zu ihrer Beantwortung wollen wir in drei Schritten vorgehen. Zunächst werden wir unter Rückgriff auf die aktuelle Debatte in der politischen Philosophie darlegen, warum gerade soziale Gerechtigkeit eines der zentralen Beurteilungskriterien von politischen Entscheidungen in modernen Demokratien sein kann. Daran anschließend werden einige Ergebnisse zum Zusammenhang von Ungerechtigkeitswahrnehmung und politischer Partizipation aus der politischen Soziologie vorgestellt. Anhand neuerer Umfragedaten wird schließlich gezeigt, dass erst eine differenzierte Betrachtung verschiedener Formen wahrgenommener Ungerechtigkeit Aussagen darüber erlaubt, welche Bedeutung soziale Gerechtigkeit und soziale Ungerechtigkeit für die politische Partizipation haben kann.

II. Soziale Gerechtigkeit in der politischen Philosophie

Aus der aktuellen Debatte in der politischen Philosophie können wir zunächst erfahren, unter welchen Bedingungen soziale Gerechtigkeit überhaupt bedeutsam wird. Sie ist nämlich immer mit Situationen sozialer Ungleichheit verbunden, also mit einem Zustand, in dem die verfügbaren Güter und Lebenschancen zwischen den Menschen ungleich verteilt sind. Aber nicht in jeder Ungleichheitssituation ertönt der Ruf nach Gerechtigkeit. So führt eine Naturkatastrophe, die nur bestimmte Menschen trifft und andere verschont, zwar zu Ungleichheiten, doch halten wir dies eher für ein Unglück und nicht für eine Ungerechtigkeit . Nur wenn Ungleichheiten aus vollzogenen oder unterlassenen Entscheidungen resultieren, beginnen wir offenbar auch über Gerechtigkeit nachzudenken. In diesem Sinne scheint die Möglichkeit der Zuschreibung von personeller Verantwortung entscheidend zu sein, um überhaupt von Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit sprechen zu können.

Spätestens seit dem schottischen Moralphilosophen David Hume ist zudem bekannt, dass Gerechtigkeit immer dann zu einem relevanten Thema wird, wenn in einer Gesellschaft zwei Voraussetzungen gegeben sind: eingeschränkter Altruismus und gemäßigte Knappheit . Nach Hume ergeben Gerechtigkeitsfragen zum einen nur dann einen Sinn, wenn Personen weder gänzlich selbstlos noch ausschließlich egoistisch handeln. Zum anderen darf die Lage der Menschen weder extremen Mangel aufweisen, noch darf alles im Überfluss vorhanden sein. Die Bedeutung dieser Knappheitsbedingung ist offensichtlich: Gäbe es nur so wenig Ressourcen zu verteilen, dass sowieso niemand genug erhalten könnte, wäre es müßig, nach Gerechtigkeit zu fragen. Aber auch im Schlaraffenland wäre der Gedanke an eine gerechte Verteilung unsinnig.

Weil die Menschen miteinander kooperieren, um dadurch der Knappheit ihrer Ressourcen zu entgehen, entsteht ein Verteilungskonflikt um das Produkt ihres gemeinsamen Schaffens. Da die Menschen aber häufig nicht bereit sind, sich dem ungezügelten Spiel der Marktkräfte auszuliefern oder Entscheidungen über Haben und Nicht-Haben durch Gewalt auszutragen, suchen sie nach einer gerechten Regelung. In modernen Gesellschaften ist es jedoch nicht möglich, dass jedes Verteilungsproblem von allen Betroffenen besprochen und gemeinsam entschieden wird. Die Lösung von Verteilungsproblemen geschieht vielmehr im Rahmen sozialer Institutionen, die den Einzelnen von der Notwendigkeit ständiger Einzelentscheidungen entlasten. Doch nach welchen Regeln sollten diese Entscheidungen getroffen werden?

1. Der Inhalt sozialer Gerechtigkeit

In der gegenwärtigen Gerechtigkeitsphilosophie finden sich sehr unterschiedliche Vorschläge darüber, wie Güter gerechterweise verteilt werden sollen. Zwar gelten Chancengleichheit oder die Gleichbehandlung von Personen einhellig als notwendige Verfahrensprinzipien, um überhaupt gerechte Zustände erreichen zu können. Hinsichtlich der konkreten Verteilungsprinzipien besteht jedoch große Uneinigkeit. Drei Vorschläge dominieren die Debatte: Bedürftigkeit, das Gleichheitsideal und der Wunsch nach Berücksichtigung von Leistung. So vertritt Avishai Margalit ein Konzept der Minimalgerechtigkeit, das an Bedarfskriterien und der Vermeidung institutioneller Demütigung orientiert ist. Die Gerechtigkeitstheorie Ronald Dworkins dagegen berücksichtigt eher den individuellen Verdienst von Personen . Der bekannteste politische Philosoph der Neuzeit, John Rawls, integriert gleich mehrere Prinzipien; er betont damit die Notwendigkeit, sowohl die individuelle Leistung als auch den Bedarf und die Gleichheit bei der Verteilung der "Früchte gesellschaftlicher Kooperation" zu beachten . In Reaktion auf den Rawls'schen Vorschlag ist in den letzten Jahren eine Gerechtigkeitsposition entstanden, die als "Kommunitarismus" bezeichnet wird. Deren Vertreter eint im wesentlichen die Kritik an der bisherigen Gerechtigkeitstheorie. Demnach würden Philosophen wie Rawls die Rolle der gemeinschaftlich geteilten Wertvorstellungen, wie sie etwa durch eine gemeinsame Geschichte oder eine gemeinsame Kultur vermittelt werden, nicht ausreichend berücksichtigen. Aus kommunitaristischer Sicht muss deshalb jede Gerechtigkeitstheorie auf den in einer Gemeinschaft vorhandenen Wertevorrat zurückgreifen. Dies bedeutet, dass Regeln der Gerechtigkeit jeweils nur auf der Grundlage eines für jede Gemeinschaft oder Gesellschaft spezifischen Wertevorrats bestimmt werden können. Eine für alle Gesellschaften formulierte einheitliche Gerechtigkeitstheorie ist deshalb abzulehnen .

2. Die Bedeutung sozialer Gerechtigkeit in modernen Demokratien

Trotz einer offensichtlich nur geringen Einigung darüber, mit welchen Regeln oder Prinzipien wir soziale Gerechtigkeit herstellen können, unterstreichen nahezu alle Gerechtigkeitsphilosophen deren herausgehobene Bedeutung für die Gestaltung sozialer Institutionen in modernen Demokratien. Soziale Institutionen gelten dabei als der systematische Ort von Verteilungsentscheidungen. So wird etwa durch die Wirtschaftsordnung oder das Rechtssystem der Rahmen für jede einzelne Verteilungsentscheidung festgelegt. Rawls betont deshalb, dass die sogenannte "Grundstruktur" einer Gesellschaft einem Primat der Gerechtigkeit unterliege . Er behauptet, dass die Gerechtigkeit sozialer Institutionen mit der "Wahrheit von Gedankensystemen" gleichzusetzen ist. In diesem Sinne ist sie auch das letztendliche Legitimationskriterium für gesellschaftliche Verteilungen. Denn nur wenn eine Verteilung gerecht ist, kann mit der Zustimmung aller Gesellschaftsmitglieder gerechnet werden. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass ein Zustand sozialer Gerechtigkeit nichts anderes bedeutet, als dass die Interessen aller Beteiligten gleichermaßen berücksichtigt sind. Soziale Gerechtigkeit ist deshalb auch gleichbedeutend mit Unparteilichkeit: In einer Verteilungssituation sollen die Interessen aller Beteiligten das gleiche Gewicht haben. Ist eine Verteilung unter diesen Bedingungen zustande gekommen, so ist es für alle vernünftig, die Entscheidung zu akzeptieren. Eine gerechte, nach dem Prinzip der Unparteilichkeit oder Fairness zustande gekommene Verteilung wird also einer ungerechten vorgezogen werden, bei der nur die Interessen einzelner Personen durchgesetzt wurden. Ungerechte Verteilungen können aber niemals von allen gebilligt werden, denn sie bedeuten, dass manche Interessen stärker berücksichtigt wurden als andere. Einer solchen Verteilung können vernünftigerweise jene nicht zustimmen, deren Ansprüche unberücksichtigt geblieben sind. Ihr Interesse müsste vielmehr darin liegen, die bestehende Verteilung zu ändern.

Wenn die politische Philosophie die Voraussetzungen, den Inhalt und die Relevanz sozialer Gerechtigkeit in modernen Demokratien beschreibt, so tut sie dies von einem normativen Standpunkt aus; d. h. sie möchte uns einen kritischen Maßstab an die Hand geben, an dem wir unser eigenes Handeln ausrichten und durch den wir die Welt, wie sie nun einmal ist, verändern können. Damit die philosophischen Gerechtigkeitstheorien diese Funktion auch erfüllen können, müssen sie notwendigerweise von den tatsächlichen Verhaltensweisen der Menschen und den realen gesellschaftlichen Vorgängen zum Teil absehen. Freilich unternimmt jede Gerechtigkeitstheorie dabei eine Gratwanderung. Denn je mehr sie sich aufgrund ihres kritischen Anspruchs von den tatsächlichen Verhältnissen entfernt, umso eher gerät sie in Gefahr, unzulässige Idealisierungen vorzunehmen. Dies gilt insbesondere für die Annahme, vernünftig handelnde Personen würden gerechte Entscheidungen akzeptieren und ungerechte Verteilungen verändern wollen. Auch wenn wir von einem normativen Standpunkt aus fordern müssen, dass sich die Menschen so verhalten sollten, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie dies auch unter "realen Bedingungen" tun. Um dies einschätzen zu können, müssen wir die normative Gerechtigkeitstheorie verlassen und uns auf das Feld der empirischen Wissenschaften begeben. Es ist dann zu klären, ob die wahrgenommene Gerechtigkeit in einer Gesellschaft tatsächlich zu einem Verhalten führt, das auf die Unterstützung der politischen Institutionen abzielt, etwa indem sich die Bürger stärker politisch engagieren. Im umgekehrten Fall wäre der Zusammenhang zwischen wahrgenommener Ungerechtigkeit und einem Verhalten zu überprüfen, das auf die Revision ungerechter Entscheidungen abzielt und sich dementsprechend in politischem Protest äußern könnte.

III. Ungerechtigkeitsempfindungen und politisches Verhalten

Welche Folgen der Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten tatsächlich zu erwarten sind, zeigen die politikwissenschaftliche Protestforschung und die empirische Gerechtigkeitsforschung. In beiden Forschungsfeldern werden seit Jahren die Auswirkungen von Ungerechtigkeitsempfindungen auf jene Verhaltensweisen von Personen untersucht, die auf die bewusste Gestaltung politischer Entscheidungen zielen.

1. Das Grundmodell

Am ausführlichsten hat sich die empirische Gerechtigkeitsforschung mit den Folgen von Gerechtigkeits- oder Ungerechtigkeitswahrnehmungen beschäftigt . In diesem Wissenschaftszweig geht es darum, die in der Wirklichkeit vorfindbaren Vorstellungen der Menschen über gerechte Regeln und Verfahren zur Verteilung knapper Güter, die Entstehungsbedingungen dieser Vorstellungen und die aus ihnen resultierenden individuellen und sozialen Folgen zu beschreiben und zu erklären. Anders als eine Reihe konkurrierender Ansätze in der empirischen Gerechtigkeitsforschung ist die "Theorie der Relativen Deprivation" auf großes Interesse in der politischen Soziologie gestoßen . Ihr zufolge fühlt sich eine Person A ungerecht behandelt bzw. relativ depriviert, wenn in einer Verteilungssituation des Gutes X drei Umstände gleichzeitig auftreten:

1. A verfügt aktuell nicht über das Gut X, will es aber unbedingt haben;

2. A glaubt, dass der Erhalt von X möglich ist;

3. A versteht sich als Mitglied einer sozialen Gruppe, deren Mitglieder das Gut X bereits besitzen, vergleicht sich mit ihnen und erhebt deshalb einen Anspruch auf X.

Besonders die dritte Bedingung - der soziale Vergleich - wird in dieser Theorie hervorgehoben. Demnach reicht es nicht aus, dass wir lediglich unzufrieden sind, weil wir nicht das bekommen, was wir uns wünschen. Wir beurteilen ein Verteilungsergebnis dann als ungerecht, wenn wir feststellen, dass andere Menschen, von denen wir meinen, dass sie uns in bestimmten Merkmalen gleichen, die von uns erwünschten Güter bereits besitzen.

Die Theorie der Relativen Deprivation wurde vor allem von Ted R. Gurr zur Erklärung politisch motivierter Gewalt herangezogen . Gurr definiert relative Deprivation als eine "wahrgenommene Diskrepanz zwischen den Werterwartungen der Menschen und ihren Wertansprüchen, das heißt als eine Diskrepanz zwischen den Gütern und Lebensbedingungen, die ihnen nach eigener Überzeugung zustehen, und den Gütern und Bedingungen, die sie ihrer Meinung nach tatsächlich erlangen und behalten können" . Kommt es zu politischer Gewalt im Sinne von Anschlägen, gewaltsamen Revolten oder Revolutionen, so spielt die Empfindung allgemeiner relativer Deprivation oder Ungerechtigkeit eine zentrale Rolle. Sie entscheidet maßgeblich über die in einer Gesellschaft vorfindbare Gewaltbereitschaft. Demnach münden Ungerechtigkeitsempfindungen unter bestimmten Bedingungen in politisch motivierte Gewalt. Doch welche Bedingungen sind dies genau? Gurr hebt zwei Faktoren hervor: Erstens müssen Personen davon überzeugt sein, dass politische Gewalt legitimiert ist. Dies ist etwa der Fall, wenn eine Person ihre schlechten Lebensbedingungen auf die Entscheidungen der Herrschenden zurückführt. Und zweitens muss die Gewalttat dafür geeignet erscheinen, die eigenen Lebensbedingungen tatsächlich verbessern zu können. Sind beide Bedingungen erfüllt, so lässt sich über das Ausmaß der Gewalt sagen: Je größer die politisch verursachte Ungerechtigkeitsempfindung, desto umfangreicher und andauernder die politisch motivierte Gewalt.

Gurrs These wird durch die Arbeit des amerikanischen Soziologen Barrington Moore bestätigt . Moore will klären, warum Menschen häufig bereit sind, die eigenen schlechten Lebensbedingungen zu ertragen, warum sie aber zuweilen mit Leidenschaft für die Verbesserung ihrer sozialen Lage kämpfen. In einer historischen Untersuchung von Arbeiteraufständen kommt er zu dem Schluss, dass Menschen dann gegen politische Institutionen protestieren, wenn sie glauben, dass diese ihnen Leiden zumuten, die moralisch nicht zu rechtfertigen seien. Nicht jedes objektiv benachteiligende Verteilungsergebnis, sondern erst seine Wahrnehmung als ungerecht bewirkt nach Moore politischen Protest. Ähnlich wie bei Gurr ist auch bei Moore eine Verteilung dann ungerecht, wenn Personen der Ansicht sind, die ihnen auferlegten Leiden seien im Vergleich zu denen von Mitgliedern anderer sozialer Gruppen zu hoch. Ein Beispiel von Moore kann dies verdeutlichen: Im Zuge der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland waren es vor allem Mitglieder von Handwerkerzünften - und nicht die ökonomisch und sozial wesentlich schlechter gestellten Industriearbeiter -, die sich gegen die Folgen der zunehmenden Konkurrenz und die Entwertung ihrer Standesrechte durch die Gewerbefreiheit wehrten .

2. Neuere Ungerechtigkeitstheorien des politischen Protests

Die Behauptung, Ungerechtigkeitsempfindungen würden unmittelbar in politischen Protest münden, ist mehrfach kritisiert worden. So hat vor allem der deutsche Politologe Max Kaase darauf hingewiesen, dass zusätzlich auftretende Bedingungen dafür verantwortlich sind, ob eine deprivierte Person in Erwägung zieht, auch tatsächlich zu protestieren. Zwei Bedingungen hebt er hervor: erstens das Vertrauen in die Problemlösefähigkeit der bestehenden politischen Einrichtungen und zweitens den Glauben einer Person an die Beeinflussbarkeit politischer Entscheidungen . Ein internationales Forscherteam um Samuel Barnes und Max Kaase hat deshalb versucht, das von Gurr vorgestellte Modell um eine Reihe von Erklärungsfaktoren zu erweitern. In einer Vergleichsstudie über acht Länder wurde gezeigt, dass es neben subjektiven Faktoren wie Ungerechtigkeitsempfindungen auch genau bestimmbare objektive Ursachen des politischen Verhaltens gibt. Besonders einflussreich ist der sozioökonomische Status einer Person in der Gesellschaft, d. h. ihr Bildungsstand und ihre berufliche Stellung: Je höher der Status einer Person, desto eher neigt sie dazu, sich politisch zu engagieren. Interessanterweise gilt dies für konventionelle wie für unkonventionelle Partizipation in gleicher Weise .

Hinsichtlich der Ungerechtigkeitsempfindungen war nachweisbar, dass unzufriedene und deprivierte Personen statistisch häufiger zu politischer Beteiligung und Protest neigten als zufriedene und gering deprivierte . Allerdings fanden die Forscher neben der Ungerechtigkeitsempfindung eine Reihe weiterer "subjektiver" Ursachen des politischen Verhaltens, wie zum Beispiel religiöse Werthaltungen und politische Ideologien. Im Vergleich zu den Theorien Gurrs und Moores nimmt also der Faktor Ungerechtigkeit in der Studie von Barnes und Kaase einen wesentlich geringeren Stellenwert ein.

Die bisher vorgestellten Forschungsergebnisse zeigen, dass sich das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, durchaus auf das politische Engagement auswirken kann. Existiert dieser Zusammenhang aber auch dann, wenn Personen nicht ihre eigene Lage einschätzen, sondern die Lebenssituation Dritter beurteilen? Dieser Frage ist der amerikanische Politologe M. Kent Jennings nachgegangen. Er findet Hinweise dafür, dass sich politisch hoch Engagierte von politisch wenig oder überhaupt nicht Engagierten in der Wahrnehmung gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten beträchtlich unterscheiden. So empfinden politisch hoch Aktive die Lage von ethnischen Minderheiten und Gastarbeitern als ungerechterweise benachteiligt, während politisch kaum Engagierte vorwiegend kranke und ältere Menschen als besonders ungerecht behandelt ansehen .

3. Kritik

Lässt man die vorgestellten Ergebnisse Revue passieren, so scheint der Zusammenhang zwischen Ungerechtigkeitsempfindungen und politischem Verhalten theoretisch zwar plausibel, aber alles andere als eindeutig zu sein. Offenbar sind eine Reihe weiterer Faktoren zu berücksichtigen, will man diesen Zusammenhang empirisch genau bestimmen. Doch selbst wenn man solche "intervenierenden" Einflüsse in Rechnung stellt, so scheint es zunächst, als wären Ungerechtigkeitsempfindungen für unser politisches Verhalten eher von untergeordneter Bedeutung.

Eine solche Schlussfolgerung ist allerdings etwas zu voreilig. Denn den vorgestellten Ansätzen liegt ein undifferenziertes Verständnis von Gerechtigkeitsurteilen zugrunde. Es muss nämlich bezweifelt werden, ob die Theorie der Relativen Deprivation überhaupt etwas mit Ungerechtigkeitsempfindungen zu tun hat. Allein die Behauptung, eine Person erhebe auf der Basis von sozialen Vergleichen Anspruch auf ein Gut, das sie aktuell nicht besitzt, reicht für die Empfindung von Ungerechtigkeit nicht aus. Da wir als Menschen über grundsätzlich unbegrenzte Bedürfnisse verfügen, müssten wir alle mehr oder weniger stark depriviert und damit "anfällig" für politischen Protest sein. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall. Deshalb bleibt in der Theorie offen, wieso eine Person zu dem Glauben gelangt, sie hätte einen berechtigten Anspruch auf das erstrebte Gut . Zudem wird kritisiert, dass die Theorie der Relativen Deprivation nur solche Ungerechtigkeiten betrachtet, die allein die konkreten Ergebnisse einer Verteilung zum Gegenstand haben. Genauso wie Personen der Meinung sein können, ihre eigene Güterausstattung sei ungerecht, können sie auch zu dem Schluss kommen, die bestehenden Regeln der Güterverteilung seien ungerecht. Auf diesen Aspekt verweisen die eingangs beschriebenen normativen Gerechtigkeitstheorien. Wenn beispielsweise John Rawls von Gerechtigkeit spricht, so hat er die in einer Gesellschaft geltenden Verteilungsregeln und weniger die daraus resultierenden Verteilungsergebnisse im Blick.

Nimmt man diese Gründe zusammen, so wird deutlich, dass die Theorie der Relativen Deprivation letztlich wenig zur Erklärung der moralischen Ursachen politischen Verhaltens beitragen kann. Deshalb müssen wir eine komplexere Theorie zu Rate ziehen, mit der wir genau angeben können, welche Arten von Ungerechtigkeiten für welche Formen politischen Verhaltens entscheidend sind. Dies wird Gegenstand des folgenden Abschnitts sein, in dem wir die Ergebnisse einer 1996 in Deutschland durchgeführten Bevölkerungsumfrage vorstellen.

IV. Ergebnis- und ordnungsbezogene Gerechtigkeitsbewertungen

Im Unterschied zur Theorie der Relativen Deprivation unterscheiden wir zunächst zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Typen von Gerechtigkeitsbewertungen: "ergebnisbezogenen" und "ordnungsbezogenen" . Bei ergebnisbezogenen Gerechtigkeitsbewertungen stehen die konkreten Ergebnisse einer Güterverteilung im Vordergrund. Grundsätzlich lassen sich hier wiederum zwei mögliche Formen unterscheiden. Personen können nämlich erstens ihren eigenen Güteranteil bewerten. Dies ist etwa dann der Fall, wenn das eigene Berufseinkommen Gegenstand ihrer Gerechtigkeitsbewertung ist. Zweitens können Personen auch die Verteilungsergebnisse von anderen Personen beurteilen, etwa dann, wenn sie die Einkommen unterschiedlicher Berufsgruppen in einer Gesellschaft bewerten. In beiden Fällen können die Urteilenden zu dem Schluss gelangen, das aktuelle Einkommen sei gerecht. Sie können aber auch feststellen, das tatsächliche Einkommen wäre ungerechterweise zu hoch oder zu niedrig. Grundlage solcher Gerechtigkeitsbewertungen sind jeweils Vorstellungen darüber, wie hoch ein gerechtes Einkommen für einen selbst und für andere ist.

Davon zu unterscheiden sind ordnungsbezogene Bewertungen, die sich auf die Regeln einer Güterverteilung beziehen. Hier wird grundsätzlicher gefragt, ob beispielsweise bei der Festsetzung des Einkommens das Leistungsprinzip eine aus der Sicht der Urteilenden gerechte Rolle spielt. Genauso kann danach gefragt werden, ob es gerecht ist, dass der Staat in die über Marktprozesse vermittelte Einkommensverteilung eingreifen sollte, um durch Umverteilung "von oben nach unten" den Bedürftigen einen ausreichenden Lebensstandard zu ermöglichen. In diesen Fällen geht es letztlich um die Bewertung von Regeln oder ganz allgemein der Verteilungsordnung in einer Gesellschaft. Auch hier können die Menschen zu dem Schluss kommen, die bestehenden Regeln oder die Verteilungsordnung in einer Gesellschaft wären gerecht oder ungerecht.

1. Die Messung ergebnis- und ordnungsbezogener sozialer Ungerechtigkeit

Auf der Grundlage dieser Unterscheidung wollen wir im folgenden zunächst die Rolle der ergebnisbezogenen Gerechtigkeitsbewertung in Bezug auf die Einkommensverteilung in der Gesellschaft und auf das eigene Berufseinkommen untersuchen. Was die Bewertung der Einkommensverteilung anbelangt, so waren die Befragten in der hier verwendeten Bevölkerungsumfrage aufgefordert, das tatsächliche Einkommen einzuschätzen, das ein Vorstandsvorsitzender eines großen Unternehmens und ein ungelernter Arbeiter in Deutschland typischerweise im Monat verdienen. Daran anschließend sollten sie das aus ihrer Sicht jeweils gerechte Einkommen für beide Berufe nennen. Die konkreten Geldbeträge für das tatsächliche und das gerechte Einkommen wurden dann zueinander in Beziehung gesetzt und mathematisch so umgeformt, dass ein gerechtes Einkommen durch einen Zahlenwert von null wiedergegeben wird, und Werte, die von null abweichen, das Ausmaß an Ungerechtigkeit des jeweiligen Einkommens widerspiegeln . Summiert man diese "Ungerechtigkeitswahrnehmungen" für das Einkommen, das am oberen Ende des gesellschaftlichen Einkommenskontinuums angesiedelt ist (Vorstandsvorsitzender) mit dem am unteren Ende (ungelernter Arbeiter), erhält man einen numerischen Ausdruck der wahrgenommenen Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen Einkommensverteilung. - Analog dazu lässt sich auch die Bewertung des eigenen Einkommens erfassen. Hier bilden die Angaben der Befragten zum tatsächlichen und dem als gerecht angesehenen eigenen Einkommen die Grundlage.

Was die ordnungsbezogene Gerechtigkeitsbewertung anbelangt, so wollen wir die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit in Hinsicht auf drei Regeln der Güterverteilung näher untersuchen. Dabei handelt es sich um die aus der Gerechtigkeitsphilosophie bekannten Grundprinzipien: erstens das Prinzip der Chancengleichheit, wonach alle Bürger möglichst die gleichen Chancen haben sollten, um in den Genuss begehrter Güter - z. B. Bildung, Arbeit oder Wohlstand - zu kommen, und zweitens das Leistungsprinzip, dessen Grundforderung darin besteht, dass diejenigen, die mehr leisten, auch über mehr Einkommen verfügen, als diejenigen, die wenig oder überhaupt nichts leisten. Schließlich ist es gerade das Kennzeichen sozialer Marktwirtschaften, dass auch individuelle Risiken bis zu einem gewissen Grad abgesichert werden sollen, weshalb drittens das Bedarfsprinzip - nämlich die Sicherung eines ausreichenden Lebensstandards - für die Verteilung gesellschaftlicher Güter ebenfalls konstitutiv ist. Wenn wir diese drei Prinzipien als die grundlegenden Verteilungsregeln der bundesdeutschen Gesellschaftsordnung verstehen, so besteht eine "ordnungsbezogene" Ungerechtigkeit dann, wenn die Bürger der Ansicht sind, diese Prinzipien würden in unserer Gesellschaft entweder überhaupt nicht oder nur sehr eingeschränkt verwirklicht sein.

2. Die Messung politischer Partizipation

Wie eingangs festgestellt, wird beim politischen Verhalten zwischen konventioneller und unkonventioneller Partizipation unterschieden . Während konventionelle Partizipation im Wesentlichen die Teilhabe am politischen Leben beschreibt, werden mit dem Begriff der unkonventionellen Partizipation verschiedene Formen des Protestes bezeichnet. In unserer Studie erfassen wir deshalb den Grad an konventioneller Partizipation darüber, ob die Befragten sich politisch informieren - Nachrichten im Fernsehen sehen und über politische Themen in der Zeitung lesen (Information) -, mit Freunden über Politik diskutieren, politische Veranstaltungen besuchen (Diskussion) oder für eine politische Partei bzw. einen Kandidaten im Wahlkampf tätig gewesen sind (Engagement).

Zur Erfassung der unkonventionellen Partizipation waren die Befragten aufgefordert anzugeben, ob sie sich an folgenden Formen des Protestes seit 1990 selbst beteiligt haben: bei einer Unterschriftensammlung unterschrieben, an einem Boykott, an einer Protestdemonstration oder an einer öffentlichen Versammlung teilgenommen haben (kollektiv-demonstrativer Protest); an eine Zeitung einen Leserbrief oder an einen Bundestagsabgeordneten einen Brief geschrieben (individuell-demonstrativer Protest); bei einem wilden Streik mitgemacht, an einer Verkehrsblockade teilgenommen, ein Haus oder Grundstück besetzt (konfrontativer Protest) haben .

3. Soziale Ungerechtigkeit und konventionelle Partizipation

Welche Zusammenhänge lassen sich für diese beiden Formen des politischen Verhaltens und den ergebnis- und ordnungsbezogenen Gerechtigkeitsbewertungen feststellen ? Betrachten wir zunächst die konventionelle Partizipation. Wie aus Abbildung 1 ersichtlich, stellen diejenigen, die ein hohes Maß an politischem Engagement zeigen - d. h. die Parteien und Kandidaten bei Wahlen aktiv unterstützen -, den vergleichsweise höchsten Grad an Einkommensungerechtigkeit in der Gesellschaft fest. Aus ihrer Sicht ist also die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen und dem gerechten Einkommen eines Vorstandsvorsitzenden und eines Arbeiters tendenziell sehr groß. Wie Abbildung 2 zeigt, ist in dieser Gruppe gleichzeitig aber die Ungerechtigkeit des eigenen Einkommens am niedrigsten - das eigene Einkommen entspricht hier also dem, was auch als ein gerechtes Einkommen angesehen wird.

Was die in Abbildung 3 dargestellte Bewertung der Verteilungsordnung anbelangt, so zeigt die Gruppe der politisch Engagierten das geringste Ungerechtigkeitsempfinden. Aus ihrer Sicht sind die drei Prinzipien - Chancengleichheit, Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsabsicherung - in unserer Gesellschaft mehr oder weniger verwirklicht. Wir können daraus schließen: Diejenigen, die die anspruchsvollste Form der konventionellen Partizipation zeigen und sich in der Politik aktiv engagieren, empfinden die eigene Situation und die bestehenden Regeln als gerecht. Demgegenüber ist es gerade die Einkommensverteilung in der Gesellschaft, die in dieser Gruppe als ungerecht angesehen wird.

Betrachten wir diejenigen Personen, die den geringsten Grad an konventioneller Partizipation aufweisen - die sich also über Politik allenfalls über die Medien informieren. Hier wird - wie aus Abbildung 3 ersichtlich - die bestehende Verteilungsordnung am kritischsten bewertet. Die Verwirklichung des Prinzips der gleichen Chancen, der Entlohnung individueller Leistung und der Absicherung eines minimalen Bedarfs lässt also aus der Sicht dieser Bevölkerungsgruppe zu wünschen übrig. Gleichzeitig gilt aber die gesellschaftliche Einkommensverteilung weniger ungerecht (Abbildung 1). Im Vergleich zu den politisch Engagierten zeichnen sich die politisch Inaktiven also durch eine nahezu entgegengesetzte Gerechtigkeitsbewertung aus: hohe Ungerechtigkeit in Hinsicht auf die Verteilungsordnung und niedrige Ungerechtigkeit der Ergebnisse gesellschaftlicher Einkommensverteilung.

4. Soziale Ungerechtigkeit und unkonventionelle Partizipation

Welche Zusammenhänge finden wir aber für die unkonventionellen Partizipationsformen? Da wir hier deutliche Unterschiede zwischen den Befragten in Ost- und Westdeutschland beobachten, werden die Ergebnisse in Abbildung 4 und 5 für beide Teile Deutschlands getrennt dargestellt. Zunächst können wir für Westdeutschland feststellen, dass extremere Protestformen dann gewählt werden, wenn das Ungerechtigkeitsempfinden in Bezug auf die gesellschaftliche Einkommensverteilung größer wird. In Ostdeutschland finden wir keinen derartigen linearen Effekt. Hier ist das Ungerechtigkeitsempfinden bei denjenigen am höchsten, die ihren Protest in individuell-demonstrativen Partizipationsformen ausdrücken.

Auch für die Bewertung des eigenen Einkommens finden wir in Westdeutschland einen kontinuierlichen Zusammenhang mit den einzelnen Abstufungen unkonventioneller Partizipation. Diejenigen, die bisher an keinem politischen Protest teilgenommen haben, weisen auch das niedrigste Niveau an Ungerechtigkeit des eigenen Einkommens auf. Demgegenüber ist bei denjenigen, die an den extremsten Partizipationsformen teilgenommen haben, das Ungerechtigkeitsempfinden am größten. In Ostdeutschland finden wir kein derartiges Muster.

Was schließlich die Verwirklichung der drei Prinzipien Chancengleichheit, Leistungsbelohnung und Bedarfsabsicherung anbelangt (Abbildung 5), fällt in Westdeutschland auf, dass bei den konfrontativen Partizipationsformen alle drei Prinzipien das höchste Ungerechtigkeitsniveau aufweisen. Wenn jemand also an konfrontativen Formen des politischen Protests teilnimmt, so ist er häufig auch der Meinung, die drei grundlegenden Verteilungsprinzipien seien in unserer Gesellschaft eher nicht verwirklicht. Personen, die individuell-demonstrative Partizipationsformen wählen, tun dies offenbar vor dem Hintergrund einer geringeren ordnungsbezogenen Ungerechtigkeitswahrnehmung .

Mit diesen Ergebnissen erhalten wir ein etwas differenzierteres Bild über den Zusammenhang von Ungerechtigkeitswahrnehmung und politischer Partizipation. Wie aus der schematischen Zusammenfassung unserer Ergebnisse in Abbildung 6 deutlich wird, können wir nämlich erstens feststellen, dass die wahrgenommene Ungerechtigkeit der Verteilungsordnung eine zentrale "Filterfunktion" einnimmt. Offenbar entscheidet sich daran, ob Personen eher konventionelle oder unkonventionelle Formen der Partizipation wählen. Wird bei den grundlegenden Verteilungsregeln eine hohe Diskrepanz zwischen ihrer tatsächlichen und der erwünschten Bedeutung festgestellt, antworten die Bürger eher mit einem Rückzug oder sie entscheiden sich für extremere Formen des politischen Protestes. Damit bestätigen sich die Annahmen, die wir aus den normativen Gerechtigkeitstheorien abgeleitet haben. Werden die bestehenden Verteilungsregeln in einer Gesellschaft als gerecht eingeschätzt, so unterstützen die Bürger auch das politische System - sie sind stärker an politischen Fragen interessiert, und sie sind auch eher bereit, Parteien und Kandidaten im Wahlkampf zu unterstützen. Wird jedoch die Verteilungsordnung als ungerecht wahrgenommen, ziehen sich die Bürger zurück oder sind eher dazu bereit, ihrem Unmut über die unterschiedlichen Formen des politischen Protestes Luft zu machen.

Zweitens scheint für die Wahl der Form politischer Partizipation die Gerechtigkeitsbewertung der Ergebnisse der Güterverteilung ebenfalls wichtig zu sein. Personen, die keine Ungerechtigkeit des eigenen Einkommens feststellen, demgegenüber die Situation anderer als ungerecht beurteilen, sind eher bereit, sich im politischen System zu engagieren. Extremere Partizipationsformen, die zudem den Rahmen der Legalität verlassen, werden dann wahrscheinlicher, wenn die Bürgerinnen und Bürger sowohl das eigene Einkommen als auch die Einkommensverteilung in der Gesellschaft als höchst ungerecht wahrnehmen.

V. Schlussbemerkung

In diesem Beitrag ging es darum, die Rolle sozialer Ungerechtigkeit für zwei unterschiedliche Grundformen politischer Partizipation zu beleuchten. Dazu haben wir zunächst die politische Philosophie befragt, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften überhaupt relevant wird. Vier Bedingungen lassen sich benennen: In einer Gesellschaft muss erstens eine "gemäßigte Knappheit" von Gütern existieren; diese müssen zweitens aufgrund von politischen Entscheidungen drittens ungleich verteilt sein; und die Bürger müssen sich viertens nicht vollständig altruistisch verhalten. Sobald diese Bedingungen erfüllt sind - wovon wir in allen westlichen Gesellschaften ausgehen können -, erheben die Bürger den Anspruch nach einer gerechten Verteilung gesellschaftlicher Güter. Sie tun dies, weil sich in ihrer Forderung der Wunsch ausdrückt, bei der Güterverteilung sollten die Ansprüche aller Bürger in gleichem Maße berücksichtigt werden. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit ist also unmittelbar mit dem Gleichheitsideal moderner Demokratien verknüpft. Dies bedeutet aber nicht, dass soziale Gerechtigkeit mit einer Gleichverteilung aller gesellschaftlichen Güter identisch ist. Vielmehr lehrt uns die politische Philosophie, dass eine Güterverteilung auch dann als sozial gerecht gelten kann, wenn sie ungleich ist - etwa dann, wenn sie das Ergebnis gleicher Chancen ist oder aus der Anwendung des Leistungsprinzips resultiert.

Soziale Gerechtigkeit ist aber nicht allein ein rein moralisches Gebot, sondern sie beeinflusst auch das politische Verhalten in einem demokratischen Gemeinwesen. Dies haben wir anhand der Ergebnisse der politischen Soziologie und durch eigene Umfrageergebnisse deutlich gemacht. Dabei haben wir mit der Verteilungsordnung, der Bewertung des eigenen Einkommens und der gesellschaftlichen Einkommensverteilung drei Typen von Gerechtigkeitsbewertungen unterschieden. Fragt man, wie wahrscheinlich es ist, dass die Bürger ihrem Unmut über politische Entscheidungen freien Lauf lassen und "auf die Barrikaden" gehen, so können wir den folgenden Schluss ziehen: Bewerten Personen alle drei Typen als ungerecht, so ist es wahrscheinlicher, dass sie sich nicht für die bestehenden politischen Institutionen engagieren, sondern gegen diese auch unter Inkaufnahme staatlicher Sanktionierung zu Felde ziehen. Werden hingegen nur die gesellschaftliche Einkommensverteilung und das eigene Einkommen, nicht aber die Verteilungsordnung als ungerecht empfunden, so ist anzunehmen, dass sich die Bürger im Rahmen der bestehenden politischen Institutionen engagieren und innerhalb dieser die konkreten Verteilungsentscheidungen zu ändern versuchen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Judith Shklar, Über Ungerechtigkeit, Berlin 1992.

  2. Vgl. David Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, Stuttgart 1984, S. 106 ff.

  3. Über die aktuellen Gerechtigkeitstheorien informiert Will Kymlicka, Politische Philosophie heute, Frankfurt/M. 1996.

  4. Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993.

  5. Vgl. etwa Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1992.

  6. Rawls versteht unter der Grundstruktur "die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte gesellschaftlicher Zusammenarbeit verteilen". J. Rawls (Anm. 4), S. 23.

  7. Zum Überblick vgl. Stefan Liebig, Soziale Gerechtigkeitsforschung und Gerechtigkeit in Unternehmen, München-Mering 1997, S. 109 ff.; J. Claudia Dalbert, Über den Umgang mit Ungerechtigkeit, Bern u. a. 1996, S. 11 ff.

  8. Vgl. Walter G. Runciman, Relative Deprivation and Social Justice, Berkeley, Cal. 1966; Faye Crosby, A Model of Egoistical Relative Deprivation, in: Psychological Review, 83 (1976), S. 85-113.

  9. Vgl. Ted R. Gurr, Why Men Rebell, Princeton 1970 (zit. n.: ders., Ursachen und Prozesse politischer Gewalt, in: Klaus von Beyme (Hrsg.), Empirische Revolutionsforschung, Opladen 1973, S. 266-310).

  10. T. R. Gurr, ebd., S. 268.

  11. Vgl. Barrington Moore, Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Unterordnung und Ungerechtigkeit, Frankfurt/M. 1982.

  12. Vgl. ebd., S. 212.

  13. Vgl. Max Kaase, Bedingungen unkonventionellen politischen Verhaltens in der Bundesrepublik Deutschland, in: Peter Graf von Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, Opladen 1976, S. 179-216.

  14. Vgl. Samuel H. Barnes/Max Kaase u. a., Political Action. Mass Participation in five Western Democracies, Beverly Hills-London 1979. Siehe auch die Studien von Sidney Verba/Norman H. Nie, Participation in America, New York 1972; M. Kent Jennings/Jan W. van Deth u. a., Continuities in Political Action: A Longitudinal Study of Political Orientations in Three Western Democracies, Berlin 1990.

  15. Vgl. Samuel H. Barnes/Barbara G. Farah/Felix Heunks, Personal Dissatisfaction, in: S. H. Barnes/M. Kaase u. a. (Anm. 14), S. 381 ff.

  16. Vgl. M. Kent Jennings, Perceptions of Social Injustice, in: ders./J. W. van Deth u. a. (Anm. 14), S. 161-199.

  17. Zu dieser Kritik vgl. Raymond Boudon, Sentiments of Justice, in: Social Justice Research, 5 (1992) 1, 113-135.

  18. In dieser Befragung wurden mündliche, im Durchschnitt etwa einstündige Interviews mit professionellen Interviewern in den Wohnungen der Befragten durchgeführt. Die Grundgesamtheit bestand aus allen wahlberechtigten, in Privathaushalten lebenden Deutschen. Als Ergebnis disproportionaler, geschichteter Auswahldesigns stehen für Ostdeutschland 1137 und für Westdeutschland 987 realisierte Interviews zur Verfügung.

  19. Vgl. dazu Bernd Wegener, Belohnungs- und Prinzipiengerechtigkeit: Die zwei Welten der empirischen Gerechtigkeitsforschung, in: Ulrich Druwe/Volker Kunz (Hrsg.), Politische Gerechtigkeit, Opladen 1999, S. 167-214; sowie S. Liebig (Anm. 7).

  20. Die mathematische Umformung geschieht über die Logarithmierung des Verhältnisses von tatsächlichem und gerechtem Einkommen; vgl. dazu Guillermina Jasso, How Much Injustice is there in the World? Two New Justice Indexes, in: American Sociological Review, 64 (1999), S. 133-168.

  21. Diese Unterscheidung folgt Vorschlägen von Max Kaase, Politische Beteiligung, in: Manfred G. Schmidt, Lexikon der Politik, Bd. 3, München 1992, S. 339-346, sowie von Alan Marsh/Max Kaase, Measuring Political Action, in: S. Barnes/M. Kaase (Anm. 14), S. 57-96. Ähnliche Systematisierungen finden sich in: Dieter Fuchs, Die Struktur politischen Handelns in der Übergangsphase, in: Hans-Dieter Klingemann/Lutz Erbing/Nils Diederich (Hrsg.), Zwischen Wende und Wiedervereinigung, Opladen 1995, S. 135-147; Hans-Martin Uehlinger, Politische Partizipation in der Bundesrepublik, Opladen 1988.

  22. Auf der Grundlage einer Korrespondenzanalyse wurden die Einzelhandlungen in eine Rangreihe gebracht, wobei "Teilnahme an einer Unterschriftensammlung" den einen und "Haus oder Grundstück besetzen" den anderen Extrempunkt bilden.

  23. Wir möchten an dieser Stelle darauf hinweisen, dass unsere Ergebnisse nicht im Sinne eines "kausalen Modells" interpretiert werden können. Dies ergibt sich daraus, dass wir letztlich zwei Einstellungsäußerungen miteinander in Beziehung setzen - nämlich Gerechtigkeitsbewertungen und Selbstaussagen der Befragten über ihr Partizipationsverhalten. Werden derartige Angaben über das klassische Survey-Design erhoben, lässt sich nicht zweifelsfrei bestimmen, was die unabhängige und was die abhängige Variable ist. Deshalb sind in solchen Fällen immer theoretische Plausibilisierungen entscheidend.

  24. Die Ergebnisse in Ostdeutschland weichen zum Teil von denen in Westdeutschland deutlich ab. Erstens werden bei ergebnisbezogener Ungerechtigkeit konfrontative Protestformen nicht in gleichem Maße berichtet. Zweitens wird gerade bei hoher Ungerechtigkeit des eigenen Einkommens auf politischen Protest verzichtet. Drittens fällt die Bedeutung der individuell-demonstrativen Protestformen auf. Möglicherweise sind diese Befunde Ausdruck der relativ kurzen Erfahrung der Ostdeutschen mit dem westlichen Demokratiemodell. Zur Diskussion vgl. Oskar W. Gabriel (Hrsg.), Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im vereinigten Deutschland, Opladen 1997.

Dipl. Pol., Dipl-Kfm. (FH), geb. 1970, wiss. Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

Veröffentlichungen u.a.: Entfesselte Feindbilder. Über die Ursachen und Erscheinungsformen von Fremdenfeindlichkeit, Berlin 1995.

Dr. rer. soc., geb. 1962, Leiter der Nachwuchsgruppe "Interdisziplinäre Soziale Gerechtigkeitsforschung" am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

E-Mail: stefan.liebig@rz.hu-berlin.de

Veröffentlichungen u.a.: Soziale Gerechtigkeitsforschung und Gerechtigkeit in Unternehmen, München; Mering 1997.

Dipl.-Pol., geb. 1973; wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Nachwuchsgruppe "Interdisziplinäre Soziale Gerechtigkeitsforschung" am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

Veröffentlichungen u. a.: Zuwanderung und Gerechtigkeit, Saarbrücken 1998; (zus. mit H. Lengfeld/S. Liebig) Deutschland auf dem Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit?, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 46 (1999) 3.