Vorwort
Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Nachwuchsgruppe "Interdisziplinäre Soziale Gerechtigkeitsforschung", die von der Volkswagen-Stiftung gefördert wird. Die verwendeten Umfragedaten wurden durch das International Social Justice Project erhoben. Das deutsche Teilprojekt wird von Prof. Bernd Wegener geleitet und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert. Für Anregungen und Kritik danken wir Stephan Schlothfeldt und Bodo Lippl.
I. Einleitung
Eine der Lehren, die man aus der wechselvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts ziehen kann, ist sicherlich, dass die parlamentarische Demokratie im Vergleich zu anderen Staatsformen diejenige ist, die ihren Bürgern weitestgehende Rechte einräumt und geeignete Rahmenbedingungen für politische und ökonomische Stabilität bereitstellt. Eines ihrer zentralen Merkmale ist die Vielzahl an Institutionen - Parteien, Parlamente, Verwaltungen oder Gerichte -, in denen politische Entscheidungen getroffen werden und die gleichzeitig dazu dienen, diese Entscheidungsprozesse zu kontrollieren und zu legitimieren.
Für parlamentarische Demokratien ist weiterhin charakteristisch, dass sowohl ihre Institutionen als auch die darin getroffenen Entscheidungen nur dann von Bestand sein können, wenn sie mit dem Willen der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger übereinstimmen. Doch sind die Institutionen nicht allein auf die - vielleicht stillschweigende - Zustimmung, sondern vor allem auf die aktive Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Wie in keiner anderen Staatsform verfügen die Bürger neben der Teilnahme an Wahlen über eine Reihe freiwilliger Teilhabe- und Einflussmöglichkeiten, von individuellem politischem Engagement bis hin zu gemeinschaftlich organisiertem Protest. Doch welche Beweggründe sind ausschlaggebend, wenn sich Menschen für eine bestimmte Form politischer Partizipation entscheiden? Diese Frage wollen wir in den Mittelpunkt dieses Beitrags stellen. Um sie zu beantworten, kann man sicherlich verschiedene Wege beschreiten. Wir wollen uns auf die Bedeutung sozialer Gerechtigkeit bzw. sozialer Ungerechtigkeit konzentrieren.
Grundsätzlich haben die Bürger in modernen Demokratien die Wahl zwischen zwei Formen der politischen Partizipation: Sie können sich jeweils für oder gegen konventionelle und unkonventionelle Partizipation entscheiden. Zur konventionellen Form zählen alle unzweifelhaft legalen, gesetzestreuen Handlungen wie die Information über politische Themen in den Medien, die Diskussion politischer Probleme mit Freunden, die Wahrnehmung des passiven Wahlrechts oder die Unterstützung einer Partei im Wahlkampf. Als unkonventionell gelten demgegenüber "demonstrative" - z. B. die Teilnahme an Demonstrationen oder Boykottaufrufen - und "konfrontative" Protestformen. Da es sich bei den konfrontativen Formen beispielsweise um die Teilnahme an einem wilden Streik, die politisch motivierte Besetzung oder Zerstörung von fremdem Eigentum handeln kann, haben wir es hier in den meisten Fällen mit nicht-legalen Verhaltensweisen zu tun. Die Frage, mit der wir uns im Folgenden beschäftigen möchten, lautet deshalb genauer: Hat die Wahrnehmung sozialer Ungerechtigkeiten spezifische Folgen für die Wahl konventioneller oder unkonventioneller politischer Partizipation?
Zu ihrer Beantwortung wollen wir in drei Schritten vorgehen. Zunächst werden wir unter Rückgriff auf die aktuelle Debatte in der politischen Philosophie darlegen, warum gerade soziale Gerechtigkeit eines der zentralen Beurteilungskriterien von politischen Entscheidungen in modernen Demokratien sein kann. Daran anschließend werden einige Ergebnisse zum Zusammenhang von Ungerechtigkeitswahrnehmung und politischer Partizipation aus der politischen Soziologie vorgestellt. Anhand neuerer Umfragedaten wird schließlich gezeigt, dass erst eine differenzierte Betrachtung verschiedener Formen wahrgenommener Ungerechtigkeit Aussagen darüber erlaubt, welche Bedeutung soziale Gerechtigkeit und soziale Ungerechtigkeit für die politische Partizipation haben kann.
II. Soziale Gerechtigkeit in der politischen Philosophie
Aus der aktuellen Debatte in der politischen Philosophie können wir zunächst erfahren, unter welchen Bedingungen soziale Gerechtigkeit überhaupt bedeutsam wird. Sie ist nämlich immer mit Situationen sozialer Ungleichheit verbunden, also mit einem Zustand, in dem die verfügbaren Güter und Lebenschancen zwischen den Menschen ungleich verteilt sind. Aber nicht in jeder Ungleichheitssituation ertönt der Ruf nach Gerechtigkeit. So führt eine Naturkatastrophe, die nur bestimmte Menschen trifft und andere verschont, zwar zu Ungleichheiten, doch halten wir dies eher für ein Unglück und nicht für eine Ungerechtigkeit
Spätestens seit dem schottischen Moralphilosophen David Hume ist zudem bekannt, dass Gerechtigkeit immer dann zu einem relevanten Thema wird, wenn in einer Gesellschaft zwei Voraussetzungen gegeben sind: eingeschränkter Altruismus und gemäßigte Knappheit
Weil die Menschen miteinander kooperieren, um dadurch der Knappheit ihrer Ressourcen zu entgehen, entsteht ein Verteilungskonflikt um das Produkt ihres gemeinsamen Schaffens. Da die Menschen aber häufig nicht bereit sind, sich dem ungezügelten Spiel der Marktkräfte auszuliefern oder Entscheidungen über Haben und Nicht-Haben durch Gewalt auszutragen, suchen sie nach einer gerechten Regelung. In modernen Gesellschaften ist es jedoch nicht möglich, dass jedes Verteilungsproblem von allen Betroffenen besprochen und gemeinsam entschieden wird. Die Lösung von Verteilungsproblemen geschieht vielmehr im Rahmen sozialer Institutionen, die den Einzelnen von der Notwendigkeit ständiger Einzelentscheidungen entlasten. Doch nach welchen Regeln sollten diese Entscheidungen getroffen werden?
1. Der Inhalt sozialer Gerechtigkeit
In der gegenwärtigen Gerechtigkeitsphilosophie finden sich sehr unterschiedliche Vorschläge darüber, wie Güter gerechterweise verteilt werden sollen. Zwar gelten Chancengleichheit oder die Gleichbehandlung von Personen einhellig als notwendige Verfahrensprinzipien, um überhaupt gerechte Zustände erreichen zu können. Hinsichtlich der konkreten Verteilungsprinzipien besteht jedoch große Uneinigkeit. Drei Vorschläge dominieren die Debatte: Bedürftigkeit, das Gleichheitsideal und der Wunsch nach Berücksichtigung von Leistung. So vertritt Avishai Margalit ein Konzept der Minimalgerechtigkeit, das an Bedarfskriterien und der Vermeidung institutioneller Demütigung orientiert ist. Die Gerechtigkeitstheorie Ronald Dworkins dagegen berücksichtigt eher den individuellen Verdienst von Personen
2. Die Bedeutung sozialer Gerechtigkeit in modernen Demokratien
Trotz einer offensichtlich nur geringen Einigung darüber, mit welchen Regeln oder Prinzipien wir soziale Gerechtigkeit herstellen können, unterstreichen nahezu alle Gerechtigkeitsphilosophen deren herausgehobene Bedeutung für die Gestaltung sozialer Institutionen in modernen Demokratien. Soziale Institutionen gelten dabei als der systematische Ort von Verteilungsentscheidungen. So wird etwa durch die Wirtschaftsordnung oder das Rechtssystem der Rahmen für jede einzelne Verteilungsentscheidung festgelegt. Rawls betont deshalb, dass die sogenannte "Grundstruktur" einer Gesellschaft einem Primat der Gerechtigkeit unterliege
Wenn die politische Philosophie die Voraussetzungen, den Inhalt und die Relevanz sozialer Gerechtigkeit in modernen Demokratien beschreibt, so tut sie dies von einem normativen Standpunkt aus; d. h. sie möchte uns einen kritischen Maßstab an die Hand geben, an dem wir unser eigenes Handeln ausrichten und durch den wir die Welt, wie sie nun einmal ist, verändern können. Damit die philosophischen Gerechtigkeitstheorien diese Funktion auch erfüllen können, müssen sie notwendigerweise von den tatsächlichen Verhaltensweisen der Menschen und den realen gesellschaftlichen Vorgängen zum Teil absehen. Freilich unternimmt jede Gerechtigkeitstheorie dabei eine Gratwanderung. Denn je mehr sie sich aufgrund ihres kritischen Anspruchs von den tatsächlichen Verhältnissen entfernt, umso eher gerät sie in Gefahr, unzulässige Idealisierungen vorzunehmen. Dies gilt insbesondere für die Annahme, vernünftig handelnde Personen würden gerechte Entscheidungen akzeptieren und ungerechte Verteilungen verändern wollen. Auch wenn wir von einem normativen Standpunkt aus fordern müssen, dass sich die Menschen so verhalten sollten, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie dies auch unter "realen Bedingungen" tun. Um dies einschätzen zu können, müssen wir die normative Gerechtigkeitstheorie verlassen und uns auf das Feld der empirischen Wissenschaften begeben. Es ist dann zu klären, ob die wahrgenommene Gerechtigkeit in einer Gesellschaft tatsächlich zu einem Verhalten führt, das auf die Unterstützung der politischen Institutionen abzielt, etwa indem sich die Bürger stärker politisch engagieren. Im umgekehrten Fall wäre der Zusammenhang zwischen wahrgenommener Ungerechtigkeit und einem Verhalten zu überprüfen, das auf die Revision ungerechter Entscheidungen abzielt und sich dementsprechend in politischem Protest äußern könnte.
III. Ungerechtigkeitsempfindungen und politisches Verhalten
Welche Folgen der Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten tatsächlich zu erwarten sind, zeigen die politikwissenschaftliche Protestforschung und die empirische Gerechtigkeitsforschung. In beiden Forschungsfeldern werden seit Jahren die Auswirkungen von Ungerechtigkeitsempfindungen auf jene Verhaltensweisen von Personen untersucht, die auf die bewusste Gestaltung politischer Entscheidungen zielen.
1. Das Grundmodell
Am ausführlichsten hat sich die empirische Gerechtigkeitsforschung mit den Folgen von Gerechtigkeits- oder Ungerechtigkeitswahrnehmungen beschäftigt
1. A verfügt aktuell nicht über das Gut X, will es aber unbedingt haben;
2. A glaubt, dass der Erhalt von X möglich ist;
3. A versteht sich als Mitglied einer sozialen Gruppe, deren Mitglieder das Gut X bereits besitzen, vergleicht sich mit ihnen und erhebt deshalb einen Anspruch auf X.
Besonders die dritte Bedingung - der soziale Vergleich - wird in dieser Theorie hervorgehoben. Demnach reicht es nicht aus, dass wir lediglich unzufrieden sind, weil wir nicht das bekommen, was wir uns wünschen. Wir beurteilen ein Verteilungsergebnis dann als ungerecht, wenn wir feststellen, dass andere Menschen, von denen wir meinen, dass sie uns in bestimmten Merkmalen gleichen, die von uns erwünschten Güter bereits besitzen.
Die Theorie der Relativen Deprivation wurde vor allem von Ted R. Gurr zur Erklärung politisch motivierter Gewalt herangezogen
Gurrs These wird durch die Arbeit des amerikanischen Soziologen Barrington Moore bestätigt
2. Neuere Ungerechtigkeitstheorien des politischen Protests
Die Behauptung, Ungerechtigkeitsempfindungen würden unmittelbar in politischen Protest münden, ist mehrfach kritisiert worden. So hat vor allem der deutsche Politologe Max Kaase darauf hingewiesen, dass zusätzlich auftretende Bedingungen dafür verantwortlich sind, ob eine deprivierte Person in Erwägung zieht, auch tatsächlich zu protestieren. Zwei Bedingungen hebt er hervor: erstens das Vertrauen in die Problemlösefähigkeit der bestehenden politischen Einrichtungen und zweitens den Glauben einer Person an die Beeinflussbarkeit politischer Entscheidungen
Hinsichtlich der Ungerechtigkeitsempfindungen war nachweisbar, dass unzufriedene und deprivierte Personen statistisch häufiger zu politischer Beteiligung und Protest neigten als zufriedene und gering deprivierte
Die bisher vorgestellten Forschungsergebnisse zeigen, dass sich das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, durchaus auf das politische Engagement auswirken kann. Existiert dieser Zusammenhang aber auch dann, wenn Personen nicht ihre eigene Lage einschätzen, sondern die Lebenssituation Dritter beurteilen? Dieser Frage ist der amerikanische Politologe M. Kent Jennings nachgegangen. Er findet Hinweise dafür, dass sich politisch hoch Engagierte von politisch wenig oder überhaupt nicht Engagierten in der Wahrnehmung gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten beträchtlich unterscheiden. So empfinden politisch hoch Aktive die Lage von ethnischen Minderheiten und Gastarbeitern als ungerechterweise benachteiligt, während politisch kaum Engagierte vorwiegend kranke und ältere Menschen als besonders ungerecht behandelt ansehen
3. Kritik
Lässt man die vorgestellten Ergebnisse Revue passieren, so scheint der Zusammenhang zwischen Ungerechtigkeitsempfindungen und politischem Verhalten theoretisch zwar plausibel, aber alles andere als eindeutig zu sein. Offenbar sind eine Reihe weiterer Faktoren zu berücksichtigen, will man diesen Zusammenhang empirisch genau bestimmen. Doch selbst wenn man solche "intervenierenden" Einflüsse in Rechnung stellt, so scheint es zunächst, als wären Ungerechtigkeitsempfindungen für unser politisches Verhalten eher von untergeordneter Bedeutung.
Eine solche Schlussfolgerung ist allerdings etwas zu voreilig. Denn den vorgestellten Ansätzen liegt ein undifferenziertes Verständnis von Gerechtigkeitsurteilen zugrunde. Es muss nämlich bezweifelt werden, ob die Theorie der Relativen Deprivation überhaupt etwas mit Ungerechtigkeitsempfindungen zu tun hat. Allein die Behauptung, eine Person erhebe auf der Basis von sozialen Vergleichen Anspruch auf ein Gut, das sie aktuell nicht besitzt, reicht für die Empfindung von Ungerechtigkeit nicht aus. Da wir als Menschen über grundsätzlich unbegrenzte Bedürfnisse verfügen, müssten wir alle mehr oder weniger stark depriviert und damit "anfällig" für politischen Protest sein. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall. Deshalb bleibt in der Theorie offen, wieso eine Person zu dem Glauben gelangt, sie hätte einen berechtigten Anspruch auf das erstrebte Gut
Nimmt man diese Gründe zusammen, so wird deutlich, dass die Theorie der Relativen Deprivation letztlich wenig zur Erklärung der moralischen Ursachen politischen Verhaltens beitragen kann. Deshalb müssen wir eine komplexere Theorie zu Rate ziehen, mit der wir genau angeben können, welche Arten von Ungerechtigkeiten für welche Formen politischen Verhaltens entscheidend sind. Dies wird Gegenstand des folgenden Abschnitts sein, in dem wir die Ergebnisse einer 1996 in Deutschland durchgeführten Bevölkerungsumfrage
IV. Ergebnis- und ordnungsbezogene Gerechtigkeitsbewertungen
Im Unterschied zur Theorie der Relativen Deprivation unterscheiden wir zunächst zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Typen von Gerechtigkeitsbewertungen: "ergebnisbezogenen" und "ordnungsbezogenen"
Davon zu unterscheiden sind ordnungsbezogene Bewertungen, die sich auf die Regeln einer Güterverteilung beziehen. Hier wird grundsätzlicher gefragt, ob beispielsweise bei der Festsetzung des Einkommens das Leistungsprinzip eine aus der Sicht der Urteilenden gerechte Rolle spielt. Genauso kann danach gefragt werden, ob es gerecht ist, dass der Staat in die über Marktprozesse vermittelte Einkommensverteilung eingreifen sollte, um durch Umverteilung "von oben nach unten" den Bedürftigen einen ausreichenden Lebensstandard zu ermöglichen. In diesen Fällen geht es letztlich um die Bewertung von Regeln oder ganz allgemein der Verteilungsordnung in einer Gesellschaft. Auch hier können die Menschen zu dem Schluss kommen, die bestehenden Regeln oder die Verteilungsordnung in einer Gesellschaft wären gerecht oder ungerecht.
1. Die Messung ergebnis- und ordnungsbezogener sozialer Ungerechtigkeit
Auf der Grundlage dieser Unterscheidung wollen wir im folgenden zunächst die Rolle der ergebnisbezogenen Gerechtigkeitsbewertung in Bezug auf die Einkommensverteilung in der Gesellschaft und auf das eigene Berufseinkommen untersuchen. Was die Bewertung der Einkommensverteilung anbelangt, so waren die Befragten in der hier verwendeten Bevölkerungsumfrage aufgefordert, das tatsächliche Einkommen einzuschätzen, das ein Vorstandsvorsitzender eines großen Unternehmens und ein ungelernter Arbeiter in Deutschland typischerweise im Monat verdienen. Daran anschließend sollten sie das aus ihrer Sicht jeweils gerechte Einkommen für beide Berufe nennen. Die konkreten Geldbeträge für das tatsächliche und das gerechte Einkommen wurden dann zueinander in Beziehung gesetzt und mathematisch so umgeformt, dass ein gerechtes Einkommen durch einen Zahlenwert von null wiedergegeben wird, und Werte, die von null abweichen, das Ausmaß an Ungerechtigkeit des jeweiligen Einkommens widerspiegeln
Was die ordnungsbezogene Gerechtigkeitsbewertung anbelangt, so wollen wir die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit in Hinsicht auf drei Regeln der Güterverteilung näher untersuchen. Dabei handelt es sich um die aus der Gerechtigkeitsphilosophie bekannten Grundprinzipien: erstens das Prinzip der Chancengleichheit, wonach alle Bürger möglichst die gleichen Chancen haben sollten, um in den Genuss begehrter Güter - z. B. Bildung, Arbeit oder Wohlstand - zu kommen, und zweitens das Leistungsprinzip, dessen Grundforderung darin besteht, dass diejenigen, die mehr leisten, auch über mehr Einkommen verfügen, als diejenigen, die wenig oder überhaupt nichts leisten. Schließlich ist es gerade das Kennzeichen sozialer Marktwirtschaften, dass auch individuelle Risiken bis zu einem gewissen Grad abgesichert werden sollen, weshalb drittens das Bedarfsprinzip - nämlich die Sicherung eines ausreichenden Lebensstandards - für die Verteilung gesellschaftlicher Güter ebenfalls konstitutiv ist. Wenn wir diese drei Prinzipien als die grundlegenden Verteilungsregeln der bundesdeutschen Gesellschaftsordnung verstehen, so besteht eine "ordnungsbezogene" Ungerechtigkeit dann, wenn die Bürger der Ansicht sind, diese Prinzipien würden in unserer Gesellschaft entweder überhaupt nicht oder nur sehr eingeschränkt verwirklicht sein.
2. Die Messung politischer Partizipation
Wie eingangs festgestellt, wird beim politischen Verhalten zwischen konventioneller und unkonventioneller Partizipation unterschieden
Zur Erfassung der unkonventionellen Partizipation waren die Befragten aufgefordert anzugeben, ob sie sich an folgenden Formen des Protestes seit 1990 selbst beteiligt haben: bei einer Unterschriftensammlung unterschrieben, an einem Boykott, an einer Protestdemonstration oder an einer öffentlichen Versammlung teilgenommen haben (kollektiv-demonstrativer Protest); an eine Zeitung einen Leserbrief oder an einen Bundestagsabgeordneten einen Brief geschrieben (individuell-demonstrativer Protest); bei einem wilden Streik mitgemacht, an einer Verkehrsblockade teilgenommen, ein Haus oder Grundstück besetzt (konfrontativer Protest) haben
3. Soziale Ungerechtigkeit und konventionelle Partizipation
Welche Zusammenhänge lassen sich für diese beiden Formen des politischen Verhaltens und den ergebnis- und ordnungsbezogenen Gerechtigkeitsbewertungen feststellen
Was die in Abbildung 3 dargestellte Bewertung der Verteilungsordnung anbelangt, so zeigt die Gruppe der politisch Engagierten das geringste Ungerechtigkeitsempfinden. Aus ihrer Sicht sind die drei Prinzipien - Chancengleichheit, Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsabsicherung - in unserer Gesellschaft mehr oder weniger verwirklicht. Wir können daraus schließen: Diejenigen, die die anspruchsvollste Form der konventionellen Partizipation zeigen und sich in der Politik aktiv engagieren, empfinden die eigene Situation und die bestehenden Regeln als gerecht. Demgegenüber ist es gerade die Einkommensverteilung in der Gesellschaft, die in dieser Gruppe als ungerecht angesehen wird.
Betrachten wir diejenigen Personen, die den geringsten Grad an konventioneller Partizipation aufweisen - die sich also über Politik allenfalls über die Medien informieren. Hier wird - wie aus Abbildung 3 ersichtlich - die bestehende Verteilungsordnung am kritischsten bewertet. Die Verwirklichung des Prinzips der gleichen Chancen, der Entlohnung individueller Leistung und der Absicherung eines minimalen Bedarfs lässt also aus der Sicht dieser Bevölkerungsgruppe zu wünschen übrig. Gleichzeitig gilt aber die gesellschaftliche Einkommensverteilung weniger ungerecht (Abbildung 1). Im Vergleich zu den politisch Engagierten zeichnen sich die politisch Inaktiven also durch eine nahezu entgegengesetzte Gerechtigkeitsbewertung aus: hohe Ungerechtigkeit in Hinsicht auf die Verteilungsordnung und niedrige Ungerechtigkeit der Ergebnisse gesellschaftlicher Einkommensverteilung.
4. Soziale Ungerechtigkeit und unkonventionelle Partizipation
Welche Zusammenhänge finden wir aber für die unkonventionellen Partizipationsformen? Da wir hier deutliche Unterschiede zwischen den Befragten in Ost- und Westdeutschland beobachten, werden die Ergebnisse in Abbildung 4 und 5 für beide Teile Deutschlands getrennt dargestellt. Zunächst können wir für Westdeutschland feststellen, dass extremere Protestformen dann gewählt werden, wenn das Ungerechtigkeitsempfinden in Bezug auf die gesellschaftliche Einkommensverteilung größer wird. In Ostdeutschland finden wir keinen derartigen linearen Effekt. Hier ist das Ungerechtigkeitsempfinden bei denjenigen am höchsten, die ihren Protest in individuell-demonstrativen Partizipationsformen ausdrücken.
Auch für die Bewertung des eigenen Einkommens finden wir in Westdeutschland einen kontinuierlichen Zusammenhang mit den einzelnen Abstufungen unkonventioneller Partizipation. Diejenigen, die bisher an keinem politischen Protest teilgenommen haben, weisen auch das niedrigste Niveau an Ungerechtigkeit des eigenen Einkommens auf. Demgegenüber ist bei denjenigen, die an den extremsten Partizipationsformen teilgenommen haben, das Ungerechtigkeitsempfinden am größten. In Ostdeutschland finden wir kein derartiges Muster.
Was schließlich die Verwirklichung der drei Prinzipien Chancengleichheit, Leistungsbelohnung und Bedarfsabsicherung anbelangt (Abbildung 5), fällt in Westdeutschland auf, dass bei den konfrontativen Partizipationsformen alle drei Prinzipien das höchste Ungerechtigkeitsniveau aufweisen. Wenn jemand also an konfrontativen Formen des politischen Protests teilnimmt, so ist er häufig auch der Meinung, die drei grundlegenden Verteilungsprinzipien seien in unserer Gesellschaft eher nicht verwirklicht. Personen, die individuell-demonstrative Partizipationsformen wählen, tun dies offenbar vor dem Hintergrund einer geringeren ordnungsbezogenen Ungerechtigkeitswahrnehmung
Mit diesen Ergebnissen erhalten wir ein etwas differenzierteres Bild über den Zusammenhang von Ungerechtigkeitswahrnehmung und politischer Partizipation. Wie aus der schematischen Zusammenfassung unserer Ergebnisse in Abbildung 6 deutlich wird, können wir nämlich erstens feststellen, dass die wahrgenommene Ungerechtigkeit der Verteilungsordnung eine zentrale "Filterfunktion" einnimmt. Offenbar entscheidet sich daran, ob Personen eher konventionelle oder unkonventionelle Formen der Partizipation wählen. Wird bei den grundlegenden Verteilungsregeln eine hohe Diskrepanz zwischen ihrer tatsächlichen und der erwünschten Bedeutung festgestellt, antworten die Bürger eher mit einem Rückzug oder sie entscheiden sich für extremere Formen des politischen Protestes. Damit bestätigen sich die Annahmen, die wir aus den normativen Gerechtigkeitstheorien abgeleitet haben. Werden die bestehenden Verteilungsregeln in einer Gesellschaft als gerecht eingeschätzt, so unterstützen die Bürger auch das politische System - sie sind stärker an politischen Fragen interessiert, und sie sind auch eher bereit, Parteien und Kandidaten im Wahlkampf zu unterstützen. Wird jedoch die Verteilungsordnung als ungerecht wahrgenommen, ziehen sich die Bürger zurück oder sind eher dazu bereit, ihrem Unmut über die unterschiedlichen Formen des politischen Protestes Luft zu machen.
Zweitens scheint für die Wahl der Form politischer Partizipation die Gerechtigkeitsbewertung der Ergebnisse der Güterverteilung ebenfalls wichtig zu sein. Personen, die keine Ungerechtigkeit des eigenen Einkommens feststellen, demgegenüber die Situation anderer als ungerecht beurteilen, sind eher bereit, sich im politischen System zu engagieren. Extremere Partizipationsformen, die zudem den Rahmen der Legalität verlassen, werden dann wahrscheinlicher, wenn die Bürgerinnen und Bürger sowohl das eigene Einkommen als auch die Einkommensverteilung in der Gesellschaft als höchst ungerecht wahrnehmen.
V. Schlussbemerkung
In diesem Beitrag ging es darum, die Rolle sozialer Ungerechtigkeit für zwei unterschiedliche Grundformen politischer Partizipation zu beleuchten. Dazu haben wir zunächst die politische Philosophie befragt, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften überhaupt relevant wird. Vier Bedingungen lassen sich benennen: In einer Gesellschaft muss erstens eine "gemäßigte Knappheit" von Gütern existieren; diese müssen zweitens aufgrund von politischen Entscheidungen drittens ungleich verteilt sein; und die Bürger müssen sich viertens nicht vollständig altruistisch verhalten. Sobald diese Bedingungen erfüllt sind - wovon wir in allen westlichen Gesellschaften ausgehen können -, erheben die Bürger den Anspruch nach einer gerechten Verteilung gesellschaftlicher Güter. Sie tun dies, weil sich in ihrer Forderung der Wunsch ausdrückt, bei der Güterverteilung sollten die Ansprüche aller Bürger in gleichem Maße berücksichtigt werden. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit ist also unmittelbar mit dem Gleichheitsideal moderner Demokratien verknüpft. Dies bedeutet aber nicht, dass soziale Gerechtigkeit mit einer Gleichverteilung aller gesellschaftlichen Güter identisch ist. Vielmehr lehrt uns die politische Philosophie, dass eine Güterverteilung auch dann als sozial gerecht gelten kann, wenn sie ungleich ist - etwa dann, wenn sie das Ergebnis gleicher Chancen ist oder aus der Anwendung des Leistungsprinzips resultiert.
Soziale Gerechtigkeit ist aber nicht allein ein rein moralisches Gebot, sondern sie beeinflusst auch das politische Verhalten in einem demokratischen Gemeinwesen. Dies haben wir anhand der Ergebnisse der politischen Soziologie und durch eigene Umfrageergebnisse deutlich gemacht. Dabei haben wir mit der Verteilungsordnung, der Bewertung des eigenen Einkommens und der gesellschaftlichen Einkommensverteilung drei Typen von Gerechtigkeitsbewertungen unterschieden. Fragt man, wie wahrscheinlich es ist, dass die Bürger ihrem Unmut über politische Entscheidungen freien Lauf lassen und "auf die Barrikaden" gehen, so können wir den folgenden Schluss ziehen: Bewerten Personen alle drei Typen als ungerecht, so ist es wahrscheinlicher, dass sie sich nicht für die bestehenden politischen Institutionen engagieren, sondern gegen diese auch unter Inkaufnahme staatlicher Sanktionierung zu Felde ziehen. Werden hingegen nur die gesellschaftliche Einkommensverteilung und das eigene Einkommen, nicht aber die Verteilungsordnung als ungerecht empfunden, so ist anzunehmen, dass sich die Bürger im Rahmen der bestehenden politischen Institutionen engagieren und innerhalb dieser die konkreten Verteilungsentscheidungen zu ändern versuchen.