I. Armutsbekämpfung als Legitimation von Entwicklungshilfe
Mindestens deklamatorisch nimmt das Ziel der Bekämpfung von Armut bei der Begründung von Entwicklungshilfe einen hohen Stellenwert ein. Der vorige Minister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Eduard Spranger, hat immer wieder betont, Armutsbekämpfung sei neben Ausbildung und Umweltschutz ein Schwerpunkt der deutschen Entwicklungspolitik
Dieser Beitrag möchte einige der Schwierigkeiten bei der Bekämpfung weltweiter Armut mit entwicklungspolitischen Mitteln diskutieren. Dabei wird insbesondere auf die neuere internationale Diskussion Bezug genommen; das Thema in seiner ganzen Breite zu erörtern ist hier aus Platzgründen nicht möglich
Zunächst bleibt festzuhalten, dass Armutsbekämpfung als Legitimation für nationale
Was jedoch von wissenschaftlicher Seite diskutiert werden kann bzw. muss, ist die Frage, ob Entwicklungshilfe in ihrer gegenwärtigen Form überhaupt Armut reduziert, um wie viel sie Armut reduziert und ob es gegebenenfalls bestimmte Sachzusammenhänge gibt, die eine Veränderung der Stoßrichtung der bisherigen Entwicklungshilfe zur Erhöhung der Armutswirksamkeit angezeigt sein lassen. Die gegenwärtige, wesentlich von den Nichtregierungsorganisationen getragene Diskussion jedenfalls krankt an mechanistischem Denken
Zum anderen liegen der Diskussion häufig Interessen der Beteiligten insbesondere aus dem Nichtregierungsbereich zugrunde, ohne dass dies in der Öffentlichkeit je thematisiert würde. Zu Recht oder Unrecht gilt bei den "weichen" sozialen Bereichen ein Vorteil der Privaten gegenüber dem "häßlichen" Staat als ausgemacht, weshalb die Diskussion mit Vorliebe auf eben solche Bereiche gelenkt wird. Dabei ist fraglos neben dem häufig zu beobachtenden Idealismus auch ein Interesse von Nichtregierungsorganisationen an Renteneinkommen zu konstatieren, die ihnen Legitimation, Überleben und Betätigung sichern.
II. Armutsentwicklung und Entwicklungshilfe: Methodische und empirische Probleme
Die Frage stellt sich damit ganz grundsätzlich, ob und wieweit Entwicklungshilfe Armut überhaupt reduzieren könne.
Einige methodische Vorüberlegungen: Die Aussage, dass Entwicklungshilfe Armut reduziere oder nicht reduziere, ist methodisch schwer zu treffen. Armut mag ohne jede Entwicklungshilfe zurückgehen (das war etwa die Entwicklung in den heutigen Industrieländern), sie mag trotz Entwicklungshilfe gleich bleiben oder sogar zunehmen. Selbst wenn dieses konstatiert werden sollte, ist das konterfaktische Argument, dass Entwicklungshilfe eine Zunahme von Armut gebremst habe, schwer zu widerlegen. Oder anders: Die Entwicklung eines zentralen gesellschaftlichen Problems wie der Armut hängt wie andere Entwicklungen auch von einer unübersehbar großen Zahl von Faktoren ab, so dass es im Einzelfall methodisch schwierig ist, eine beobachtete Veränderung der in Rede stehenden Größe einem dieser Faktoren zuzuschreiben.
Zweitens: Will man über ein gesellschaftliches Phänomen wie Armut und ihre Veränderung Aussagen treffen, dann ist die entscheidende Analyseebene diejenige des Gesamtlandes beziehungsweise der Gesamtgesellschaft. Die Feststellung etwa, in einer bestimmten Bevölkerungsschicht oder einer bestimmten Region eines Landes sei eine Verbesserung der Armutssituation eingetreten, sagt über die Gesamtentwicklung logischerweise nichts aus, da es in anderen Regionen oder anderen Schichten zu einer Verschärfung der Armutssituation gekommen sein kann, die die Erfolge aufwiegen oder gar überwiegen kann. Analysen über die Wirkung von Entwicklungshilfe auf die Vermehrung oder Verminderung von Armut bleiben demgegenüber allzu oft auf der Ebene von Einzelprojekten stehen
Warum ist das so? Hier können verschiedene logische Ebenen unterschieden werden:
1. Positive nachgewiesene Wirkungen von Projekten können im Ergebnis durch gegenläufige Entwicklungen des Gesamtsystems konterkariert werden. (Von dem nicht seltenen Fall, dass das Projekt selbst an ungünstigen Rahmenbedingungen scheitert, wird hier ganz abgesehen.) Hat etwa ein Landwirtschaftsprojekt zum Ziel, die Ernährungssituation zu verbessern und die bäuerlichen Einkommen zu steigern (das wären typische Ziele von Landwirtschaftsprojekten), dann mag auch der Erfolg eines Projektes durch eine falsche Preispolitik des Staates, die alle Bauern betrifft (sie zählen weltweit zu den ärmsten Bevölkerungsschichten) ganz oder teilweise neutralisiert werden. Selbst wenn die Zielgruppe des Projektes besser dastünde als ohne das Projekt, wäre für die Lage der armen Bauern insgesamt nichts erreicht worden.
2. Auf einer zweiten Ebene ist die Frage zu stellen, wie sich das inländische Spar- und Investitionsverhalten bei Zustrom von Auslandskapital, den Entwicklungshilfe direkt oder indirekt darstellt, verändert. Kann davon ausgegangen werden, dass die Nettoinvestitionen um die Höhe des Kapitalzuflusses zunehmen, oder führt dieser zu einer Reduktion der inländischen Ersparnis und damit der inlandsfinanzierten Investitionen, so dass die Nettoinvestitionen mehr oder weniger gleich bleiben, aber zum Teil vom Ausland (ausländischen Kapitaleigentümern und Steuerzahlern) finanziert werden? Seit der Frühzeit der Entwicklungshilfe und der Entwicklungshilfekritik wird ein negativer Zusammenhang zwischen der Höhe inländischer Ersparnis und ausländischer Kredite aus theoretischen Gründen postuliert und in einer Reihe von ökonometrischen Studien nachgewiesen
III. Die "Fungibilität" der Entwicklungshilfe
Wie können solche Erscheinungen erklärt werden? Entscheidend hierfür ist, dass Entwicklungshilfe fungibel ist, "what you see is not what you get". Um einen theoretisch verwickelten Sachverhalt einfach darzustellen: Nehmen wir an, die Regierung eines Entwicklungslandes habe sich ein Investitionsprogramm aus zehn großen Projekten vorgenommen. Diese lassen sich, was ihren ökonomischen bzw. entwicklungspolitischen Wert angeht, grundsätzlich in eine Reihenfolge bringen, von 1 (am rentabelsten) bis 10 (am wenigsten rentabel oder gar unrentabel). Die Regierung habe aber nur Geld für neun Projekte; bei rationalem Vorgehen fällt also das am wenigsten rentable Projekt dem Rotstift zum Opfer. Nun kommt die Entwicklungshilfe ins Spiel: Wird diese um Finanzierung eines Projektes angegangen, wird die Regierung zweckmäßigerweise nicht gerade Projekt zehn vorschlagen (und sich mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Abfuhr einhandeln), sondern z. B. Projekt zwei.
Dieses hat eine gute Chance einer ausländischen Finanzierung. Diese führt dazu, dass das Budget der Regierung um die Kosten für Projekt zwei entlastet wird; sie kann nun auch noch Projekt zehn (und damit möglicherweise ökonomischen Unsinn) finanzieren. Faktisch, wenn auch indirekt, hat der ausländische Geldgeber das Projekt zehn finanziert (es sei erinnert, dass dieses Projekt nicht notwendig ein rentables Projekt ist, nach unseren gemachten Voraussetzungen, selbst wenn es rentabel sein sollte, jedenfalls das am wenigsten rentable unserer Liste aus zehn Projekten darstellt). Die Behauptungen der nationalen und internationalen Entwicklungshilfe-Bürokratie über ihre erfolgreichen Projekte sind, so betrachtet, wenig aussagekräftig. "Früher nahm man an, dass bei der Finanzierung eines bestimmten Investitionsprojektes durch eine Organisation der Entwicklungshilfe wie der Weltbank die für dieses Projekt ausgegebenen Mittel tatsächlich dieses Projekt finanzierten und kein anderes. In der Tat war die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung . . . stolz auf die Solidität (soundness) und den hohen ökonomischen Ertrag einiger ihrer Projekte. Demgegenüber wurde jedoch bald erkannt, dass ausländisches Kapital nicht das Projekt finanzierte, für das es dem Anschein nach ausgegeben wurde, sondern das Grenzinvestitionsprojekt (marginal investment project), d. h. von allen realisierten Projekten dasjenige, das auf der Prioritätenliste ganz unten stand. Das ist mit der Behauptung gemeint, Hilfe sei ,fungibel'. . . Die Fungibilität der Entwicklungshilfe ist in keiner Weise begrenzt. Das bedeutet, dass ausländisches Kapital nicht das Grenzinvestitionsprojekt, sondern das Grenzausgabenprojekt (marginal expenditure project) finanziert, und Grenzausgaben (expenditure on the margin) werden ebenso wahrscheinlich (vielleicht wahrscheinlicher) für Konsum- wie für Kapitalgüter getätigt (d. h., für ,Projekt zehn' in unserem Beispiel könnte Champagner stehen! - J.H.W.). Auslandskapital bedeutet Ressourcen- oder Kaufkrafttransfer von einem Land in ein anderes, und wie diese zusätzlichen Ressourcen verwendet werden, kann nicht a priori bestimmt werden. Sicherlich steht nicht fest, dass nichts davon zur Erhöhung des Konsums verwendet wird."
IV. Entwicklung, Entwicklungspolitik und Armut
Was können wir nun empirisch über den Zusammenhang von Entwicklung, Entwicklungspolitik und Armut feststellen? Die erste, aus der Literatur völlig eindeutig zu entnehmende Beobachtung ist, dass Wirtschaftwachstum und Armutsreduktion empirisch hoch miteinander korrelieren, dass sogar die Schnelligkeit des Wachstums und die Schnelligkeit der Armutsreduktion eng miteinander zusammenhängen
Die unentwegten Verfechter höherer Entwicklungshilfe nach dem Motto: "Viel hilft viel" können mit einigem Recht darauf verweisen, dass die Entwicklungshilfe inzwischen so gering geworden ist, dass letztlich auch nichts anderes zu erwarten war. Bezogen auf die Armen dieser Erde macht Entwicklungshilfe nur noch um 50 US-Dollar pro Kopf und Jahr aus: Welche Effekte können damit wohl bewirkt werden?
Wichtiger aber ist ein anderer Punkt: Entscheidend ist, dass der Mangel an Korrelation von Entwicklungshilfe und Wirtschaftswachstum dann verschwindet, wenn man die Länder in eine Gruppe mit guter Wirtschaftspolitik und guten Institutionen und eine Gruppe mit schlechter Wirtschaftspolitik und schlechten Institutionen aufteilt
V. Entwicklungspolitische Folgerungen
Was folgt daraus für die Entwicklungspolitik insgesamt, insbesondere aber auch für die deutsche Entwicklungspolitik? Die genannten Erscheinungen, die auch in der neuesten Studie der Weltbank zum Thema wieder nachdrücklich bestätigt werden
Bisher lässt sich feststellen, dass die deutsche wie die internationale Entwicklungspolitik trotz des erklärten Grundsatzes, das "Entwicklungsbewusstsein" einer Regierung sei ein Kriterium bei der Vergabe deutscher Entwicklungshilfe, keineswegs die genannte Gruppe mit positiver Politik bevorzugt
Solche Länder müssen ermittelt werden. Hierzu bedarf das Berichtswesen über entwicklungs- und allgemeinpolitische Entwicklungen einer Verbesserung. Ein erstes Analyseinstrument zur wirtschafts- und institutionspolitischen Bewertung ist in der Weltbank entwickelt worden
Nach all dem folgt auch, dass der direkte Angriff auf Armut mit entwicklungspolitischen Maßnahmen mit hoher Wahrscheinlichkeit überflüssig ist. Empirische Studien zur Armutswirksamkeit von einzelnen Projekten, selbst wenn sie die oben vorgebrachten methodischen Einwände nicht berücksichtigt haben, sind in der Regel zu vorsichtigen bis negativen Urteilen gekommen: Das politische Umfeld erweist sich in der Regel als entscheidendes Hindernis. Eliten verstehen es in der Regel ausgezeichnet, sich die Früchte von gar nicht für sie bestimmten Projekten zu sichern. Das gilt auch für lokale Eliten. Der indirekte Weg des Angriffs auf die Armut dürfte bei weitem vorzuziehen sein. In Ländern mit guter makroökonomischer Politik hilft Entwicklungspolitik bei Wirtschaftswachstum, und dieses dürfte dazu beitragen, dass immer mehr Arme Zugang zu Schulen, Gesundheitswesen und Beschäftigungsmöglichkeiten gewinnen und damit die Armut reduziert wird. Die Ausrottung der Armut jedenfalls, auch wenn sie als Ziel im Auge behalten werden sollte, ist ein zu hoch gestecktes Ziel. Bei alledem sind, so sei wiederholt, institutionelle und wirtschaftspolitische Verbesserungen wichtiger als Geld - gleichgültig, was die in diesem Bereich tätigen Nichtregierungsorganisationen sagen.