I. Das Scheitern aller bisherigen Lösungsansätze
Die Verschuldungsproblematik der ärmsten Entwicklungsländer war bereits Ende der fünfziger Jahre Anlass zur Sorge
Die Gebergemeinschaft hatte schon früh damit begonnen, der geringen Schuldendienstfähigkeit
Für die Gruppe der armen Länder brachten die achtziger Jahre eine weitere Verschärfung ihrer Schwierigkeiten. Der Vertrauensverlust, der aus der globalen Zahlungskrise resultierte, als klar wurde, dass es sich im Kern nicht um ein Liquiditäts-, sondern um ein Insolvenzproblem handelte, wirkte sich außerordentlich negativ auf sie aus. Auf dem sich herausbildenden Sekundärmarkt für kommerzielle Entwicklungsländerschulden wurden ihre Verbindlichkeiten nur noch mit einem Bruchteil ihres Nominalwertes gehandelt, was ihnen für viele Jahre den Zugang zu Bankkrediten versperrte. Zwar war mit dem Handel von niedrig bewerteten Schuldtiteln
Gleichzeitig nahm aufgrund fallender Rohstoffpreise für wichtige Exportgüter und sinkender Wachstumsraten auch ihre volkswirtschaftliche Leistungs- und Schuldendienstfähigkeit ab. Die Umschuldungen im Pariser Club häuften sich, und die Geberländer nahmen die Gruppe der hochverschuldeten armen Länder inzwischen zunehmend als besondere Problemkategorie wahr. Aber erst Ende der achtziger Jahre begannen sie, die Konditionen für die Regelung der Schulden dieser Ländergruppe Schritt für Schritt zu verbessern. Wichtigster Motor dieser Entwicklung waren die Gipfeltreffen der G 7
Als Sonderproblem erwies sich der als Folge der bilateralen Erleichterungen und Zuschussfinanzierungen zunehmende Anteil der Verschuldung bei den multilateralen Finanzinstitutionen, auf die 1996 schon 37 Prozent aller HIPC-Schulden entfielen. Sie stellten eine große Belastung dar. Bereits Ende 1993, Anfang 1994 hatten allein in Afrika elf hoch verschuldete Länder mit geringem Einkommen Zahlungsrückstände gegenüber Weltbank, IWF und Afrikanischer Entwicklungsbank auflaufen lassen
Weltbank und IWF sahen sich angesichts des wachsenden Gewichts multilateraler Schulden mit zunehmenden Schwierigkeiten konfrontiert, die lange Zeit akzeptierte Rollen- und Lastenverteilung bei der Beseitigung des Schuldenüberhangs der ärmsten Länder zu rechtfertigen. Danach war es Aufgabe der internationalen Finanzinstitutionen, die Geber-Koordinierung zu organisieren und eine Katalysatorrolle wahrzunehmen, solide Reformpolitiken zu gewährleisten und neue Mittel zu weichen Konditionen für die Sicherung der wachstumsnotwendigen Investitionen und Importe bereitzustellen. Die bilateralen Geber sollten die noch bestehenden Hilfe- und Handelsschulden soweit wie möglich erlassen bzw. durch günstige Kredite oder besser noch Zuschüsse refinanzieren und darüber hinaus weitere Entwicklungshilfe leisten.
Um der selbst unter Gebervertretern zunehmend geäußerten Forderung nach einer Reduzierung auch multilateraler Schulden den Wind aus den Segeln zu nehmen und damit die Aufrechterhaltung des bevorzugten Gläubigerstatus zu sichern, baute die Weltbank ihr Instrumentarium zur Schuldenerleichterung aus. 1989 schuf sie mit der Schuldenreduzierungsfazilität der Internationalen Entwicklungsorganisation (IDA Debt Reduction Facility) die Möglichkeit, kommerzielle Schulden zum jeweiligen (Sekundär-)Marktwert mit IDA-Mitteln zurückzukaufen, und im selben Jahr ermöglichte sie es Ländern, die bei ihr noch Schulden zu marktüblichen Konditionen hatten, die darauf zu zahlenden Zinsen aus günstigen Mitteln der sogenannten "Fünften Dimension der IDA" zu finanzieren.
Spätestens 1995 setzte sich jedoch die Einsicht durch, dass alle bisherigen Lösungsansätze nicht ausreichen würden, um den ärmsten Ländern das Erreichen einer tragfähigen Schuldenbelastung zu ermöglichen. Die Verschuldungsindikatoren hatten sich insgesamt kaum verbessert. Die Gesamtschulden jener 41 Länder mit niedrigem bzw. mittlerem Einkommen, die später in der neuen Kategorie der hoch verschuldeten armen Länder (HIPC-Länder) zusammengefasst wurden, beliefen sich 1996 auf 245,1 Mrd. US-Dollar, ihre Zahlungsrückstände auf 70,3 Mrd. US-Dollar
II. Die HIPC-Initiative
Vor diesem Hintergrund hatte die G 7 1995 auf dem Halifax-Gipfel eine umfassende Lösung unter Einbeziehung auch der multilateralen Schulden gefordert. Auf der Jahrestagung von IWF und Weltbank im September 1996 erhielten IWF und Weltbank ein offizielles Mandat, Lösungsansätze für die Probleme derjenigen hoch verschuldeten armen Länder (HIPC) weiterzuentwickeln und umzusetzen, bei denen trotz solider Wirtschaftspolitiken nicht davon auszugehen war, dass das traditionelle Instrumentarium zur Schuldenerleichterung zu einer tragfähigen Schuldenbelastung führen würde.
Vom Konzept her stellte die damit auf den Weg gebrachte HIPC-Initiative
Der Durchbruch zur Einbeziehung aller, d. h. auch der multilateralen Schulden, war möglich geworden, weil die Bretton-Woods-Institutionen und die entscheidenden Anteilseigner ihre starre Position in der Frage des so genannten bevorzugten Gläubigerstatus aufgegeben hatten. Danach - so die Argumentation in der Vergangenheit - hätte ein Erlass multilateraler Schulden das Prinzip der vorrangigen Bedienung von Verbindlichkeiten dieser Gläubigergruppe in Frage gestellt, damit ihre Kreditwürdigkeit im Sinne des "AAA-Ratings" gefährdet und so die Kosten für Entwicklungshilfeleistungen an sämtliche Mitgliedsländer erhöht. Der Kompromiss bestand in einer Art Umweglösung, bei der multilaterale Schulden nicht vom Gläubiger direkt erlassen, sondern aus einem Treuhandfonds abgelöst werden, in den multi- und bilaterale Geber die erforderlichen Beträge einzahlen sollen. Damit war formal der "bevorzugte Gläubigerstatus" unangetastet geblieben.
Die HIPC-Initiative wurde als Sequenz von zwei Phasen konzipiert. In der ersten Dreijahresphase muss das HIPC-Land im Pariser Club alle Möglichkeiten zu Schuldenerleichterungen im Rahmen der Neapel-Konditionen ausschöpfen und sich außerdem darum bemühen, dass andere bilaterale Geber (z. B. OPEC-Länder) und kommerzielle Gläubiger vergleichbare Entlastungen gewähren. Darüber hinaus muss es glaubwürdige Anpassungs- und Reformanstrengungen nachweisen. Auf der Basis einer von ihm und den Bretton-Woods-Institutionen gemeinsam erarbeiteten Schuldentragfähigkeitsanalyse wird dann am so genannten Entscheidungspunkt (decision point) darüber befunden, ob es nach einer zweiten Konsolidierungsphase von noch einmal drei Jahren
Sofern HIPC-Länder schon in unmittelbar vorangegangenen Anpassungsprogrammen ihren Reformwillen unter Beweis gestellt haben, können die entsprechenden Zeiträume auf die erste Dreijahresperiode angerechnet werden, und auch die zweite Phase kann für Länder mit hoher Anpassungsleistung verkürzt werden. Davon profitierten u. a. Bolivien und Uganda, die ihren Abschlusspunkt im April bzw. September 1998 erreichten.
Als Maßstab für tragfähige Verschuldung, die durch die HIPC-Initiative erreicht werden soll, wurde das Verhältnis des Barwertes der Verschuldung zu den Exporterlösen sowie die Relation von Schuldendienst zu Exporterlösen gewählt. Für das erstgenannte Kriterium wurde ein Korridor von 200 bis 250 Prozent, für das zweite ein Korridor von 20 bis 25 Prozent festgelegt. Weil dadurch überschuldete Länder mit einer starken außenwirtschaftlichen Verflechtung, d. h. mit einer hohen Exportquote, benachteiligt wurden, setzte Frankreich als Anwalt vor allem der Elfenbeinküste durch, dass als zusätzlicher Maßstab ein sogenanntes Fiskalkriterium Anwendung fand. Danach gilt eine Außenverschuldung bei Ländern, deren Exportquote, mindestens 40 Prozent beträgt und die ihre Bemühungen um ein hohes Steueraufkommen durch ein Verhältnis von Staatseinnahmen zu Bruttoinlandsprodukt von mindestens 20 Prozent unter Beweis gestellt haben, nur dann als tragfähig, wenn die Relation des Barwertes der Schulden zu den Staatseinnahmen 280 Prozent nicht überschreitet.
Innerhalb der oben genannten Korridore werden die länderspezifischen Zielwerte für tragfähige Verschuldung nach Maßgabe der individuellen Außenhandelsrisiken ("vulnerability") auf der Basis des Konzentrationsgrades der Ausfuhren und der Volatilität der Exporterlöse sowie nach Maßgabe der haushaltsmäßigen Belastung durch Schuldendienstzahlungen festgelegt. Als Grundlage dafür dient die bereits erwähnte Schuldentragfähigkeitsanalyse.
Zugangsberechtigt zur HIPC-Initiative waren im Prinzip 41 Länder (davon 33 aus Afrika, vier aus Lateinamerika und vier aus Asien und dem Nahen Osten), von denen 1993 32 ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von weniger als 695 US-Dollar hatten und damit in die Kategorie der sogenannten "IDA-only-countries" fielen, also jener Länder, die aufgrund ihres Entwicklungsrückstandes von der Weltbank nur stark vergünstigte Darlehen erhielten. Zusätzlich aufgenommen wurden neun weitere Länder, die im Pariser Club bereits in den Genuss konzessionärer Umschuldungen gekommen oder dazu berechtigt waren.
Der Initiative beitreten konnten alle HIPC-Länder, sofern sie vor Oktober 1998 Strukturanpassungsprogramme mit IWF und Weltbank vereinbart und umzusetzen begonnen hatten. Dieses "sunset date" wurde später bis Ende 2000 verlängert. Mit der zeitlichen Begrenzung sollte deutlich gemacht werden, daß die HIPC-Initiative ein befristetes und zudem einmaliges Angebot darstellt. Da die Initiatoren eine endgültige und nachhaltige Sanierung beabsichtigen, wollten sie der Befürchtung auf der Gläubiger- und der Hoffnung auf der Schuldnerseite entgegentreten, hier werde eine Dauereinrichtung geschaffen.
Die geschätzten Gesamtkosten der HIPC-Initiative beliefen sich zunächst auf rd. 6,7 Mrd. US-Dollar. Die Schätzungen mussten aber aufgrund der zwischenzeitlichen Anpassung von HIPC-Regelungen und deren Anwendung sowie aufgrund von Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen revidiert und auf 8,2 und zuletzt 12,5 Mrd. US-Dollar angehoben werden.
III. Die Kritik an der HIPC-Initiative
Schon relativ früh wurde Kritik an der HIPC-Initiative laut. Wie kein anderes entwicklungspolitisches Thema je zuvor entfaltete die Forderung nach einem umfassenderen Schuldenerlass für die ärmsten Entwicklungsländer eine globale Dynamik und Breitenwirkung, weil es in nie gekanntem Maße gelang, nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen und insbesondere die Kirchen in professionell agierenden Netzwerken zu organisieren. In Deutschland konnte sich die Kampagne Erlassjahr 2000 als zentrales Sprachrohr etablieren und zusammen mit den NRO-Initiativen anderer Länder anlässlich des Kölner Schuldengipfels im Juni 1999 eine Lichterkette von mehreren 10 000 Menschen mobilisieren. Einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Schubkraft bezogen und beziehen die Erlassjahrkampagnen aus der Berufung auf das biblische Modell des Erlassjahres
programmen kontraproduktiv und trage nicht wirksam zur Armutsreduzierung bei.
Von vielen Seiten wurde der HIPC-Initiative vorgeworfen, die vorgesehenen Erleichterungen reichten nicht aus, um eine substantielle Verbesserung der Verschuldungssituation und damit der Entwicklungs- und Wachstumschancen zu erreichen. Begründet wurde dies unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass in vielen Fällen noch nicht einmal derjenige Teil des Schuldendienstes wegfiele, den die Länder ohnehin schon seit geraumer Zeit nicht mehr leisten könnten. Vor allem die Vertreter von Nichtregierungsorganisationen rechneten vor, dass selbst der tatsächlich geleistete Schuldendienst noch immer die Sozialausgaben vieler HIPC-Länder übersteige
Der Grund für die geringe Entlastungswirkung und die Begrenzung des Zugangs zu den Vergünstigungen der HIPC-Initiative auf eine relativ kleine Zahl von Ländern waren die hohen, überaus optimistischen Schwellenwerte für tragfähige Verschuldung. In der Tat konnte es wenig überzeugen, dass das angestrebte, individuell ermittelte Tragfähigkeitsziel fast aller HIPC-Länder, für die derartige Werte festgelegt wurden, sehr eng an jener Schwelle von 220 Prozent (Barwert der Schulden in v. H. der Exporterlöse) oder sogar - wie im Falle Boliviens - noch darüber lagen, von denen an ein Land nach der weltbankeigenen Kategorisierung als hoch verschuldet gilt
Auch das Fristengerüst der HIPC-Initiative wurde von Anfang an bemängelt. Sechs Jahre bis zur Erreichung einer tragfähigen Verschuldung, so die Begründung, würde die Anreizwirkung stark verringern, weil der von der Bevölkerung kaum mehr erkennbare Zusammenhang zwischen den Opfern, die als Folge der Strukturanpassung erbracht werden mussten, und der letztendlichen Entlastung die innenpolitische Durchsetzbarkeit stark herabmindere. Hingewiesen wurde auch darauf, dass die enge Verknüpfung mit erfolgreichen Reformprogrammen ein großes Risiko weiterer Verzögerungen berge, weil aller Erfahrung nach ein hoher Prozentsatz der mit IWF und Weltbank vereinbarten Abkommen scheitere
Besonders fragwürdig erschienen vielen Beobachtern die Tragfähigkeitskriterien sowie die Art ihrer Operationalisierung. So wurde grundsätzlich in Zweifel gezogen, ob das an den Ausfuhrerlösen ansetzende Hauptkriterium angesichts der Abhängigkeit der meisten HIPC-Länder von einigen wenigen Exportrohstoffen und deren Volatilität für diese Ländergruppe überhaupt geeignet sei. Sowohl für das Exporterlöskriterium wie für das ergänzende Fiskalkriterium galten die festgesetzten Schwellenwerte den meisten Kritikern als unangemessen hoch und zudem als weder theoretisch noch empirisch fundiert. Als äußerst problematisch wurde auch die Praxis der länderspezifischen Schuldentragfähigkeitsanalysen beurteilt. Sie basierten fast durchweg auf überaus optimistischen Szenarien bezüglich der Entwicklung zentraler Makrogrößen wie BIP, Exporte, Investitionen und Ersparnisbildung, die im Ergebnis die unter Idealbedingungen erreichbare äußerste Grenze möglicher Wachstumskorridore in tatsächlich zu erwartende Makrogrößen uminterpretierten
Daneben wurde das den Kriterien zugrundeliegende Verständnis von Tragfähigkeit als eine der Hauptursachen der sich bislang unverändert weiter drehenden Krisenspirale hervorgehoben: Solange tragfähige Verschuldung im Sinne maximaler Schuldendienstfähigkeit definiert werde und damit die äußerste Grenze des volkswirtschaftlichen Leistungsvermögens beschreibe, führten externe Schocks und Fehler auf der Gläubiger- wie auf der Schuldnerseite, die ja der Normalfall und nicht die Ausnahme seien, regelmäßig dazu, dass ein als tragfähig erachtetes Schuldenniveau zu einem Überschuldungsproblem werde. Statt jedoch bei der Festlegung von Verschuldungsobergrenzen ausreichende Risikopuffer einzubauen, hätten die Gläubiger im Laufe der letzten vier Jahrzehnte die als kritisch erachteten Schwellenwerte immer weiter angehoben
Kontrovers war schließlich die Verknüpfung von Schuldenerleichterungen mit dem Nachweis erfolgreicher, mit IWF und Weltbank abgestimmter Strukturanpassungspolitiken. Während die eine Seite in dieser Form der Konditionierung eine wesentliche Voraussetzung dafür sah, dass die durch Entlastungsmaßnahmen entstehenden zusätzlichen finanziellen Spielräume effizient genutzt werden und nicht der Bereicherung korrupter Eliten, der Finanzierung kriegerischer Auseinandersetzungen, der Durchführung von Prestigevorhaben oder einfach nur der Verwirklichung schlechter Projekte dienen, hielt die andere Seite die Konditionalität der Bretton-Woods-Institutionen eher für einen Teil des Problems als einen Teil der Lösung. In diesem Zusammenhang wurde immer wieder auf die hohe Zahl abgebrochener Strukturanpassungsprogramme in der Vergangenheit hingewiesen, die wegen einer Vielzahl ökonomischer Fehleinschätzungen
Um den Erfolg der HIPC-Initiative nicht zu gefährden, müsse - von der Notwendigkeit einer umfassenden inhaltlichen Neukonzipierung der Programme einmal abgesehen - die Entschuldung zu Beginn und nicht nach Abschluss der Strukturanpassungsprozesse erfolgen. Der vielleicht entscheidendste Kritikpunkt, der vor allem zur Erhöhung des moralischen Drucks in der Öffentlichkeit beitrug, gründete auf der Feststellung, die Strukturanpassungsprogramme seien nicht geeignet sicherzustellen, dass die Schuldenerleichterungen den Armen zugute kämen.
IV. Die Ergebnisse von Köln und Washington
Unter dem Eindruck der hohen Öffentlichkeitswirksamkeit des Themas und des Bestrebens des Gastgeberlandes Deutschland, durch die Übernahme einer Vorreiterrolle den Erfolg zu sichern, legten alle G-7-Länder mit Ausnahme Italiens im Vorfeld eigene Vorschläge
Die wichtigste Maßnahme war die Herabsetzung der Tragfähigkeitsgrenzen von bisher 200-250 Prozent auf nunmehr 150 Prozent (Schulden in v. H. der Exporte) bzw. von 280 auf 250 Prozent (Schulden in v. H. der Staatseinnahmen)
Darüber hinaus wurde das relativ starre Fristengerüst flexibilisiert, um die Schuldnerländer früher als bisher möglich zu entlasten. So wird die Dauer der zweiten Phase und damit das Erreichen des Abschlusspunktes künftig an die Erfüllung vorab festgelegter ökonomischer und sozialer Zielvorgaben geknüpft sein, unabhängig davon, ob dies schon nach einer Woche oder erst nach zwei Jahren gelingt (floating completion point). Die multilateralen Finanzierungsinstitutionen sollen künftig schon vor Erreichen des Abschlusspunktes Interimshilfen gewähren und die Schuldenstandsreduzierung nach Erreichen des Abschlusspunktes so ausgestalten, dass sich die Schuldendienstzahlungen schon in den den ersten Jahren stark verringern (front loading).
Durch diese Maßnahmen wurde das voraussichtliche Gesamtvolumen an Schuldendiensterlassen auf 60-70 Mrd. US-Dollar angehoben. Die Schätzungen gingen davon aus, dass 40-50 Mrd. US-Dollar auf Handelsforderungen sowie multilaterale Schulden entfallen und ca. 20 Mrd. auf die Streichung zusätzlicher Entwicklungshilfeschulden. Wenn man die 30 Mrd. US-Dollar an traditionellen Schuldenerleichterungsmaßnahmen hinzurechnet, die wegen mangelnder Reformen noch nicht in Anspruch genommen werden konnten, so steht nach Köln ein Entlastungspotential von insgesamt rd. 100 Mrd. US-Dollar zur Verfügung, dessen volle Nutzung den Schuldenstand der 36 zugangsberechtigten Länder um mehr als die Hälfte verringern würde
Auf der Jahrestagung von IWF und Weltbank im September 1999 wurden die Beschlüsse des Kölner Gipfels in allen wichtigen Punkten bestätigt. In zwei wesentlichen Bereichen brachte die Jahrestagung zusätzliche Fortschritte. So wurde die in Köln eher vage empfohlene Armutsfokussierung der HIPC-Initiative in umfassender Weise operationalisiert. Außerdem fiel mit dem Rückgriff auf die Goldreserven des IWF zur Kofinanzierung von Schuldenerlassen ein lange Zeit unumstößliches Tabu.
Einen hohen Symbolwert auf der politischen Bühne hatte die Umbenennung der alten Erweiterten Strukturanpassungsfazilität (ESAF) des IWF, die vor allem den Kritikern aus den Reihen der internationalen Erlassjahrkampagne als Inbegriff neoliberaler Konditionalität auf dem Rücken der sozial Schwachen gegolten hatte, in "Armutsreduzierungs- und Wachstumsfazilität" (Poverty Reduction and Growth Facility). Wichtiger aber: Sie wird mit einer Reihe von konkreten Umsetzungschritten verbunden sein, die an der Ernsthaftigkeit der neuen Fokussierung keinen Zweifel lassen. Die mit den HIPC-Ländern bei Strukturanpassungsabkommen bisher vereinbarten politischen Rahmenabkommen (Policy Framework Papers), die den zu einer Entlastung berechtigenden Reformkurs definieren, werden durch Strategiepapiere zur Armutsreduzierung (Poverty Reduction Strategy Papers) ersetzt, die unter der Federführung der betreffenden Regierung erarbeitet werden und nicht nur spezifische Maßnahmen zugunsten der armen Bevölkerung enthalten, sondern von vornherein auch die Sozialverträglichkeit der traditionellen wirtschaftlichen Anpassungs- und Wachstumspolitiken im Auge haben sollen. Um in den Ländern die Identifizierung mit den armutsorientierten Anpassungspolitiken zu verbessern, werden diese zur Herstellung von Transparenz der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Außerdem soll an ihrer Formulierung die Zivilgesellschaft mitwirken. Am wichtigsten sind wohl die Neuerungen auf der eher technischen Ebene: Erfolgreiche Reformpolitik soll künftig an überprüfbare indikatorgestützte Ziele der Armutsreduzierung gekoppelt werden.
Um die zum einst offiziellen Goldpreis von 35 Sonderziehungsrechten je Feinunze heute noch bilanzierten Goldreserven des IWF zur Finanzierung von Schuldenerleichterungen heranziehen zu können, ohne durch Goldverkäufe den Marktwert von ohnehin nur noch rd. 280 US-Dollar pro Feinunze weiter zu drücken, griffen Finanzexperten und Politiker zu einem "Buchungstrick": Im Laufe der kommenden Jahre werden bis zu 14 Mio. Feinunzen Gold Schritt für Schritt an solche Länder zum jeweiligen Marktwert "verkauft", die dem IWF Kredite zurückzuzahlen haben (off-market transactions). Der Schuldendienst wird mit diesem Gold geleistet, das dann zum Marktwert bilanziert werden darf. Der daraus resultierende Buchgewinn wird angelegt, die Zinseinnahmen stehen für Schuldenerleichterungen zur Verfügung.
V. Abschließende Bewertung und Perspektiven
Die Kölner und Washingtoner Beschlüsse gehen erheblich über das hinaus, was ursprünglich möglich erschien; sie haben die HIPC-Initiative in der begünstigten Ländergruppe zu einem breiten, wirksamen Instrument der Entwicklungspolitik gemacht. Insbesondere die Konsequenz, mit der Schuldenerleichterungen nun als Hebel zur Armutsreduzierung genutzt werden, war so nicht zu erwarten. Eine ganz andere Frage wird sein, inwieweit die HIPC-Länder die zusätzliche Interventionstiefe der bisher schon sehr weitreichenden Konditionalität und eine entscheidungsrelevante Mitsprache der Zivilgesellschaft akzeptieren werden. Außerdem hat die umfassende Einbindung des IWF in die Armutsbekämpfung die Kontroverse darüber weiter verschärft, ob dies wirklich Aufgabe einer Weltwährungsbehörde sein kann und sollte.
Und so begrüßenswert die substantielle Absenkung der Zielwerte für tragfähige Verschuldung mit ihren positiven Auswirkungen auf Tiefe und Breite der Schuldenentlastung ist, so besteht auf der anderen Seite gleichwohl das Problem fort, dass die neuen pauschalen Obergrenzen genauso willkürlich und beliebig sind, wie sie es vorher waren. Sie erlauben es auch jetzt nicht, den erforderlichen Entschuldungsumfang gemäß dem schutzwürdigen Minimum des jeweiligen Landes an notwendigen Importen, Investitionen und öffentlichen Ausgaben zur Wahrnehmung der staatlichen Kernfunktionen zu bestimmen. Und sie rücken ein bereits angesprochenes Risiko wieder in den Vordergrund. HIPC-Länder mit einer Schulden-Export-Relation von demnächst "nur" noch 150 Prozent weisen ja einen wieder deutlich gestiegenen Neuverschuldungsspielraum auf, wenn man den geltenden Weltbankmaßstab zugrunde legt, nach dem ein Land erst ab einer Quote von 220 Prozent als "severely indebted" gilt. Falls nicht künftig niedrigere Schwellenwerte wie etwa die 150-Prozent-Marke als für beide Seiten verbindliche Verschuldungsobergrenzen etabliert werden und Gläubiger wie Schuldner zu einer neuen Kultur der Kreditvergabedisziplin finden, läuft auch die HIPC-Initiative Gefahr, schon bald nur als ein weiterer Fehlschlag bei der Durchbrechung der Krisenspirale gesehen zu werden
Auch die Finanzierung der erweiterten HIPC-Initiative ist noch keineswegs gesichert
Aber selbst wenn die Finanzierung in vollem Umfang gelingt, wird die tatsächliche Entlastung der HIPC-Länder weit geringer ausfallen als auf dem Papier. Denn in vielen Fällen wird sie nur geringfügig über demjenigen Teil des Schuldendienstes liegen, den die Länder in den letzten Jahren ohnehin nicht mehr geleistet haben, mithin in beträchtlichem Umfang vor allem aufgelaufene Schuldenrückstände "erlassen". Wenn aber die effektiven zusätzlichen Einfuhr-, Investitions- und Haushaltsspielräume eher bescheiden bleiben, wird sich bald die Frage stellen, wie lange die Anpassungsopfer in den Ländern innenpolitisch durchsetzbar sein werden.
Dies gilt umso mehr, als allem Anschein nach eine der ganz entscheidenden Erfolgsvoraussetzungen der HIPC-Initiative wegzufallen droht: die der Zusätzlichkeit der Schuldenerleichterungen. In den meisten HIPC-Ländern hängt die Wahrnehmung der staatlichen Kernaufgaben von unveränderten Entwicklungshilfeleistungen ab. Die Umwidmung von Mitteln aus dem Europäischen Entwicklungsfonds bis zu einer Höhe von einer Mrd. Euro für Zwecke des Schuldenerlasses zeigt, wie gering in den Geberländern die Bereitschaft ist, Schuldenerleichterungen zusätzlich zur bisherigen Entwicklungshilfe zu gewähren. Und die Haushaltsansätze für die Entwicklungszusammenarbeit werden nicht nur in Deutschland auch in den nächsten Jahren weiter sinken. Da es politisch kaum durchsetzbar sein dürfte, diese Einsparungen ausschließlich zulasten von Nicht-HIPC-Ländern vorzunehmen, dürften die ohnehin geringen erlassbedingten Gewinne an zusätzlichen Ausgabenspielräumen noch durch rückläufige Hilfeleistungen weiter eingeengt, wenn nicht sogar überkompensiert werden. Wenn also nicht bald entschlossen gegengesteuert wird, droht der internationalen wie auch der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit ihrem hohen Armutsbekämpfungsanspruch ein schwerwiegender Glaubwürdigkeitsverlust.