Fast drei Jahrzehnte nach dem von ethnischer Gewalt geprägten Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien gibt es auf ihrem ehemaligen Gebiet sieben unabhängige Staaten. Es scheint, als sei die Desintegration Jugoslawiens abgeschlossen, nicht nur in geografischer, sondern auch in politischer und ideologischer Hinsicht. Zwei parallele und sich gegenseitig verstärkende Prozesse haben dabei eine zentrale Rolle gespielt: der kapitalistische Wandel, in dessen Zuge sich das neoliberale Paradigma etablierte, und die ethnozentrische Restauration von Nationalstaaten.
Wichtige Teile der jugoslawischen Vergangenheit sind ausradiert worden, und das nicht nur durch den Zahn der Zeit, sondern häufig im wörtlichen Sinne. So wurden beispielsweise in Kroatien die meisten Denkmale, die an den Befreiungskampf von 1941 bis 1945 erinnerten, in den 1990er Jahren zerstört. Auch in anderen postjugoslawischen Staaten wurden ihre Pendants entfernt, dem Verfall überlassen oder im besten Fall "nationalisiert", sodass Erinnerungen an den antifaschistischen Kampf Jugoslawiens heute etwa serbischen oder slowenischen Partisanen gewidmet sind.
Auf den jugoslawischen Sozialstaat, seine internationale Politik der Blockfreiheit, seine Erfahrung der multiethnischen Koexistenz, der Weltoffenheit, der Selbstverwaltung, des Antifaschismus und der Klassensolidarität wird heute weder in politischen Reden noch in den neugestalteten Nationalsymbolen Bezug genommen. Diese Ideen und Werte sind gemeinsam mit den materiellen Resten der jugoslawischen Realität verschwunden, für die sie standen. Von offizieller Seite wird Jugoslawien höchstens auf ein rein historisches Faktum reduziert, eine Seite in einem Geschichtslehrbuch und eine Abweichung vom "natürlichen Kurs" der Nation.
Aber gehört Jugoslawien wirklich definitiv der Vergangenheit an? Ist die Erinnerung an das Land und an die Ideen, auf die es gebaut war, tatsächlich so gründlich und radikal gelöscht? Meinungsumfragen, Kunstprojekte, wissenschaftliche Forschung und die Initiativen aktivistischer Gruppen vermitteln den gegenteiligen Eindruck. Sie legen nahe, dass Jugoslawien in seinen Nachfolgestaaten nicht nur ein wesentlicher Teil der Gegenwart ist, sondern auch ein wichtiges Element bei Imaginationen einer "guten" Zukunft in diesen von Kriegen, Deindustrialisierung sowie undurchsichtigen und oft gewaltsamen Privatisierungen ausgelaugten postjugoslawischen Gesellschaften, vor allem in Gegenden mit zerfallener Infrastruktur, verarmter Bevölkerung und nicht funktionierenden Institutionen, in denen die Kluft zwischen gesellschaftlichen Gruppen immer größer wird.
Jugoslawien ist zum jetzigen Zeitpunkt zwangsläufig Teil der Gegenwart: Die Lebenserfahrung im jugoslawischen Sozialismus wird noch von Millionen Menschen geteilt. In den Worten der Historikerin Ljubica Spaskovska: Die jugoslawische Zeit ist zwar historisch, aber den (post)jugoslawischen Raum und die Menschen, die ihn zu jener Zeit bewohn(t)en, gibt es noch immer – Jugoslawien ist sowohl "noch-nicht-ganz-vergangen" als auch "teilweise-noch-präsent".
Gleichzeitig scheint es nicht nur die generationengebundene Erfahrung zu sein, die Jugoslawien weiterleben lässt. So schreibt etwa ein junger Mann, der den jugoslawischen Alltag nicht oder kaum kennen gelernt hat, in seinem Blog: "Yugoslavia is the only way I refer to the place I’m originally from, where I grew up, but also to the place(s) where most of my friends and family live at the moment. I do realise that it may seem as if I’m trying to recreate something that is long gone or to call something into existence, but for me Yugoslavia is right now and right there. It is not an internationally recognised state, nor is it a state that I need to see restored, it is simply the best name I have for all the things I feel to be familiar and intelligible – the music, the dishes, the ideologies, the cities, the patriarchy, the policies, the words, the concepts, and the people."
Erinnerung an die Alternative
Nicht nur der Sozialismus und der jugoslawische Staat gingen in den frühen 1990er Jahren unter. Es war auch das Ende einer Welt, in der es einfacher war als heute, sich Alternativen vorzustellen. Aufgrund seines radikalen Modernisierungskurses, des Selbstverwaltungssozialismus und der internationalen Politik der Blockfreiheit verkörperte Jugoslawien im Kalten Krieg die Möglichkeit einer politischen und ökonomischen Alternative,
Die Welt sei eine andere gewesen, so der slowenische Philosoph und einstige Aktivist Tomaž Mastnak, und ebenso die Einstellung Jugoslawiens dieser Welt gegenüber im Vergleich zu der seiner Nachfolgestaaten heute. Mit Blick auf den Inhalt der jugoslawischen Tageszeitungen 1989, also am Vorabend des Zusammenbruchs des Landes, bezeichnet er es als aus heutiger Perspektive außergewöhnlich, dass ausführlich und detailliert über Ereignisse rund um den Globus berichtet wurde "Our media had qualified foreign correspondents abroad, and not only in London, Berlin and Washington (Brussels wasn’t on the map back then), and our country had an independent, sovereign foreign policy. It was a factor in world politics and its representatives championed national interests – and not without success. Who back then would have thought that a quarter century later our media in the semi-colony of Slovenia would simply recycle the so-called agency news (…)."
Diese Selbstwahrnehmung als quasikoloniale Peripherie ist heute besonders in denjenigen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens ausgeprägt, die ökonomisch stark benachteiligt sind. Dort handelt es sich bei dem Verweis auf semikoloniale Zustände häufig um mehr als um eine Metapher: So gibt es Berichte, dass etwa im serbischen Leskovac Arbeitskräfte im Werk des koreanischen Konzerns Yura während der Arbeitszeit nicht zur Toilette gehen dürfen. Ihnen werde empfohlen, Windeln zu tragen. In der Olimpias-Textilfabrik in Niš soll es den Arbeitskräften darüber hinaus verboten sein, Wasser zu trinken oder miteinander zu sprechen. Und in der südlich von Belgrad gelegenen Stadt Obrenovac sollen Vertreter eines ausländischen Investors die Gesundheitsakten der Bevölkerung geprüft haben, da dieser nicht in einem Gebiet investieren wollte, in dem der Gesundheitszustand der potenziellen Arbeitskräfte schlecht ist.
Gewiss fördern solche sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen ein Interesse am jugoslawischen Sozialismus, dessen Erbe dadurch zunehmend auch zur Inspiration für eine Politik der Zukunft wird, die neue linke Aktivisten und Theoretiker in- und außerhalb der Region vertreten.
Ein interessantes Phänomen in diesem Zusammenhang ist die Gründung selbstorganisierter Chöre, die eine antifaschistische Musiktradition des ehemaligen Jugoslawiens wiederbeleben. Beispielsweise singt der Chor "Kombinat" aus Ljubljana, der 2008 am 27. April gegründet wurde, also am "Tag des Widerstands", ehemals sozialistischer "Tag der Befreiungsfront" und heute Nationalfeiertag in Slowenien, antifaschistische und Partisanenlieder aus verschiedenen Teilen des ehemaligen Jugoslawien, um Lieder und Werte aus der Vergangenheit vor dem Vergessen zu bewahren. Der lesbische Chor "Le Zbor" aus Zagreb schenkt den Themen Arbeit, Arbeiter und deren Rolle im Sozialismus besondere Aufmerksamkeit und singt auch Revolutionslieder. Lieder über "Arbeit und Bau" aus der sozialistischen Zeit, als Arbeit als von allen geteilter Wert gefördert wurde und Arbeiter die zentrale Figur der sozialistischen Ideologie waren, sind ein wichtiger Teil des Repertoires. Gleiches gilt für den Belgrader Chor "Horkestar", dessen Mitglieder häufig in blauen Arbeitsoveralls auftreten, während die Chorleiterin borosane trägt, die unverwechselbaren Arbeitsschuhe aus dem Hause Borovo, die Frauen während des Sozialismus trugen, und der häufig an Orten auftritt, die wie Fördertürme oder stillgelegte Fabriken einst Symbole der Industriearbeit im Sozialismus waren. Der 2009 gegründete mazedonische Chor "Raspeani Skopjani" trat bereits mehrfach mit dem Lied "Gradot ubav pak ke nikne" (Die schöne Stadt wird wieder emporschnellen) auf, das während des Wiederaufbaus von Skopje nach dem katastrophalen Erdbeben von 1963 gesungen wurde. Damit protestieren die Sänger gegen die ökonomisch undurchsichtige architektonische Neugestaltung der mazedonischen Hauptstadt, die zugunsten von antik oder barock anmutenden Monumenten und Gebäuden die sozialistische Geschichte der Stadt unsichtbar gemacht hat.
Zahlreiche Gruppen von Künstlern und Aktivisten versuchen mit ihren Projekten, Jugoslawien vom heutigen "nationalistisch-kapitalistischen Konsens" aus zu verstehen.
Ferner setzt sich eine sehr produktive Kulturszene in den postjugoslawischen Gesellschaften reflexiv und kritisch mit dem Erbe des sozialistischen Jugoslawien und seiner gewaltsamen Auflösung auseinander. Schriftsteller, Künstler, Architekten, Theaterregisseure arbeiten zusammen und überwinden dabei nationale Grenzen. Ihre Produktionen, die bereits als postjugoslawischer Film, Literatur, Theater und so weiter bekannt sind, sorgen dafür, dass die postjugoslawischen Räume bei der künstlerischen Verarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit miteinander verbunden bleiben.
Umstrittene Nostalgie
Schon ein flüchtiger Blick in regionale Medienportale, Meinungsumfragen und soziale Netzwerke zeigt, dass über diese Entwicklungen hinaus recht viele "Durchschnittsbürger" der Nachfolgestaaten Jugoslawiens trotz der zeitlichen Distanz und intensiven Nationalisierung des postjugoslawischen Raums lieb gewonnene positive Erinnerungen an das Leben im gemeinsamen sozialistischen Land pflegen.
Sowohl von den politischen und ökonomischen Eliten im öffentlichen Diskurs vor Ort als auch im "Westen" wird die Jugonostalgie als eher unangenehme Überraschung wahrgenommen, als geradezu unerwartet von diesen Gesellschaften, die gerade begonnen haben, die Vorzüge einer pluralistischen Demokratie und kapitalistischer Märkte zu genießen, und endlich, nach mehr als 50 Jahren "künstlicher Einheit im Sozialismus" zu ihrem "wahren Wesen" und ihren "historischen Wurzeln" zurückgekehrt seien. Im europäischen Kontext, wo das Paradigma der beiden europäischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts stark präsent ist, das den Sozialismus auf eine Ebene mit dem Nationalsozialismus setzt, begegnen EU-Vertreter und Politiker positiven Erinnerungen an den Sozialismus nicht mit Wohlwollen. Vielmehr betrachten sie jegliche Nostalgie als Folge eines Gefühls, beim Übergang vom Kommunismus zur Demokratie schlecht weggekommen zu sein,
Sogar Aktivisten, Künstler und Wissenschaftler, die sich bei ihrer Kritik an der gegenwärtigen Politik selbst auf Jugoslawien beziehen, sehen die "Mainstream-Jugonostalgie" mitunter als problematisch und politisch schädlich an. Normalerweise als Überbegriff für die nachdrückliche emotionale Erinnerung an verschiedene Aspekte des Lebens im Sozialismus verwendet, wird die Jugonostalgie fast ausschließlich im Lichte von Konsumpraktiken interpretiert, von Produkten mit Symbolcharakter für den jugoslawischen Alltag wie das Cockta-Getränk, die Zastava-Autos, YU-Rock und Popmusik – "Mode, Lebensmittel und andere solche Dinge".
Statt durchdachte und politisch relevante Ansprüche zu artikulieren, belebt diese Art der Jugonostalgie der Anthropologin Svetlana Slapšak zufolge nur jene Aspekte der jugoslawischen Kultur wieder, die am sichtbarsten und zugänglichsten waren, aber auch am banalsten und kitschigsten. Daher optiert sie für eine andere, intellektuell legitimierte Sehnsucht nach Jugoslawien und "seinen realen, produktiven und immer noch wichtigen Errungenschaften, von denen manche direkt in die gegenwärtige Weltkrise eingeschrieben sind: Gleichheit, das Recht auf Arbeit, Krankenversicherung, Gleichberechtigung".
Sehnsucht nach Handlungsmächtigkeit
Folgt man der Aufforderung des Anthropologen Dominic Boyer, positive Bezugnahmen auf Jugoslawien durch die Bürgerinnen und Bürger der postjugoslawischen Gesellschaften ernster zu nehmen,
So sind etwa die Erinnerungen der Arbeiter an ihre Tätigkeit in einer großen sozialistischen Fabrik, die ich während meiner Feldforschung in Serbien gesammelt habe, zwar tief im persönlichen Erleben verankert. Aber sie reflektieren mehr als die physische Erfahrung der Industriearbeit in Jugoslawien und die unmittelbare körperliche Demütigung in der Zeit nach dem Sozialismus. Denn diese Erinnerungen sind im Grunde Narrative der sozialistischen Modernisierung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und der scharfe Kontrast, den sie verdeutlichen, ist auch einer zwischen der Vergangenheit, in der Arbeiter sich als Akteure der Modernisierung wahrnahmen, und der Gegenwart, in der sie keine gesellschaftliche Handlungsmächtigkeit haben.
Mehrere kollektive Aktionen der vergangenen Jahre bestätigen diese Verknüpfung zwischen jugoslawischen Erfahrungen und der Wahrnehmung von Autonomie und Handlungsmächtigkeit: Im Februar 2014 entstanden aus landesweiten Protesten in Bosnien-Herzegowina zahlreiche sogenannte Plena. Diese Volksversammlungen waren nach mehr als zwei Jahrzehnten der Verfangenheit in ethnisch definierter Politik der erste nennenswerte Versuch, eine staatsbürgerliche Form von Nationalität wiederherzustellen. Die Bezeichnung "Plena" bezieht sich sogar direkt auf die in der sozialistischen Zeit erfahrene Gemeinschaft und die kollektive Handlungsmächtigkeit, die im Transformationsprozess verloren gegangen ist.
Ein weiteres Beispiel ist die überwältigend rasche und leidenschaftliche Reaktion von Bürgerinnen und Bürgern im gesamten postjugoslawischen Raum bei den Überschwemmungen in Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina im Mai 2014: Kroaten, Serben, Slowenen und Mazedonier organisierten nicht nur die Sammlung und den Transport von enormen Mengen Hilfsgütern in die betroffenen Gebiete, auch Leute aus dem einen Teil des ethnisch geteilten Bosnien halfen Menschen im anderen Teil, Asylbewerber retteten Bürger in Not und beteiligten sich bei den Aufräumarbeiten, während chinesische Ladenbesitzer kostenlose Gummistiefel verteilten. Diese Solidarität ging mit Bezugnahmen auf das sozialistische Jugoslawien und sein Erbe einher, und noch ehe das Wasser völlig zurückgegangen war, hatten sich die Freiwilligen für den Wiederaufbau in "Arbeitsbrigaden" organisiert.
Diese Beispiele legen nahe, dass die Jugonostalgie Ausdruck eines verlorenen Gefühls ist, sowohl Akteur des eigenen Lebens als auch breiter angelegter ökonomischer und sozialer Prozesse zu sein. Sie verweist auf jene Sehnsucht, "ein Faktor in der Welt" zu sein, wie sie Tomaž Mastnak artikuliert. Anders als die vorherrschenden neoliberalen und "transitionalen" politischen Diskurse zum Sozialismus suggerieren, nahmen sich die Bürgerinnen und Bürger im Sozialismus offenbar stärker als gesellschaftlich Handelnde wahr als heute, da sie sich gegenwärtig nicht in der Lage sehen, ihre Wünsche und Visionen in die Tat umzusetzen.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist die Jugonostalgie kein reaktionäres, irrationales und prototalitäres Gefühl, sondern eine mobilisierende, legitimierende und sogar emanzipatorische Praxis. Im Gegensatz zur vorherrschenden Ansicht, postsozialistische Nostalgie verhindere eine selbstständige Reflexion über die Vergangenheit und dränge so bereits marginalisierte Subjekte in postjugoslawischen Gesellschaften zusätzlich an den Rand, scheint ihr eine affektive Kraft innezuwohnen, die sich aus einem tiefergehenden Wissen über gesellschaftliches Leben speist.
Diese These der politischen Relevanz einer emotionalen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stützt auch der Philosoph Boris Buden. Ihm zufolge bildet die soziale Anästhesie, die die mit der Ausradierung der sozialistischen Vergangenheit einher gehende soziale Amnesie ermöglicht, die Grundlage für die Transitionsideologie: "Die gesellschaftlichen Widersprüche des Postkommunismus – die immer weiter aufreißende Kluft zwischen Arm und Reich, die Auflösung aller Formen sozialer Solidarität, die himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit, das weit verbreitete soziale Leid, usw. – bleiben affektiv unbesetzt. (…) Die Rede ist von einer Art sozialer Anästhesie, die zu den auffälligsten und zugleich rätselhaftesten Phänomenen der postkommunistischen Transformation gehört."
Die emotional aufgeladene Nostalgie verhindert, dass Ruinen des sozialistischen Jugoslawien und seiner modernistischen Utopie friedlich "eingebürgert" und zum Teil der Geschichte gemacht oder schlicht als Zeichen der "unangemessenen sozialistischen Vergangenheit" ignoriert und vergessen werden. Durch die Nostalgie bleiben sie "unruhig und beunruhigend".
Übersetzung aus dem Englischen: Sandra H. Lustig, Hamburg.