Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände geraten ein bosniakischer und ein serbischer Soldat in einen Schützengraben zwischen den Fronten des Bosnien-Krieges. Während ihrer gemeinsamen Anstrengungen, sich aus dieser misslichen Lage zu befreien, kommen sie sich näher; sie unterhalten sich über ihr Leben vor dem Krieg und stellen fest, dass sie einige Gemeinsamkeiten haben, sogar gemeinsame Bekannte. Im Bombenhagel – von beiden Seiten aus wird geschossen – kommt irgendwann die Frage auf, wer eigentlich die Verantwortung für die Zerstörung dieser gemeinsamen Vergangenheit und das Blutvergießen trägt. Sie ergehen sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen, bis der Bosniake seine Waffe auf sein Gegenüber richtet und ein letztes Mal die Frage stellt: "Tko je poćeo rat?" – Wer hat den Krieg angefangen? So die Handlung einer Schlüsselszene in Danis Tanovićs Film "No Man’s Land" aus dem Jahr 2001.
Seit der Unterzeichnung des Allgemeinen Rahmenabkommens von Dayton über einen Frieden in Bosnien und Herzegowina Ende 1995 schweigen in der ehemaligen Teilrepublik Jugoslawiens die Waffen. Bis dahin forderte der 1992 entbrannte Krieg, dessen Parteien sich mittels ethnischer Selbst- und Fremdzuschreibungen konstituierten, 100.000 Menschenleben. Nach wie vor ist das Verhältnis zwischen den bosniakischen (also den muslimischen), kroatischen und serbischen Bosnierinnen und Bosniern durch tiefe Gräben gekennzeichnet. Eines jedoch verbindet alle Ethnien in Bosnien-Herzegowina: Sie empfinden sich gerade aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als Opfer des Krieges und der Nachkriegszeit. Über die Frage "Tko je poćeo rat?" sowie über die Verantwortung für die Verbrechen, die während des Krieges begangen wurden, wird noch immer gestritten.
Diesem Beitrag liegt die Frage zugrunde, wie Menschen im gegenwärtigen Bosnien-Herzegowina ihre Wahrheiten entwickeln und verteidigen. Wie konstruieren sie in dieser neuen Situation des Nachkrieges ihr (ethnisches) Selbstbild und damit auch das Bild der (ethnisch) jeweils anderen, und mit welchen Schwierigkeiten sind diese Konstruktionsprozesse verbunden? Die folgenden Ausführungen bauen auf einem empirischen Projekt über Identitätsbildung im bosnisch-herzegowinischen Nachkriegstransformationsprozess auf,
Identitäten im (Nach-)Krieg
"Durch den Krieg", so der bosnisch-kroatische Publizist Ivan Lovrenović, wurde der "wichtigste zivilisatorische Grundzug der bosnischen Erfahrung und Lebensweise (…) unmittelbar ins Mark getroffen: die Gewöhnung an den anderen und an das Andersartige als alltägliche Erfahrung und Vertrautheit. Diese Erfahrung der Alterität hatte es auch ermöglicht, Bosnier zu sein. Erneut territorialisiert, giftig chauvinisiert, hören die Bosnier auf, Bosnier zu sein, und sind nur noch muslimische Bosniaken, nur noch Kroaten, nur noch Serben."
Vertreibung, Verfolgung und Mord sowie intraethnische Homogenisierungsbestrebungen zwangen die Bürgerinnen und Bürger des einst geradezu als Musterschüler des "Multikulturalismus" geltenden Bosniens zur Identifikation mit "ihrer" jeweiligen ethnischen Gruppe. Befördert wurde dieser Prozess durch eine Bevölkerungsverschiebung, die mit der Beendigung des Krieges auch institutionell verankert wurde: Der Vertrag von Dayton besiegelte, wenn schon nicht eine Drei-, so doch eine Zweiteilung des Landes in die serbisch dominierte Republika Srpska, die 49 Prozent des Staatsgebietes umfasst, und die Föderation Bosnien-Herzegowina, die ihrerseits in zehn weitgehend monoethnisch-kroatische oder -bosniakische Kantone gegliedert ist.
Die Anthropologin Katherine Verdery weist darauf hin, dass "ethnische Säuberung" aber nicht nur die Vernichtung aller Spuren des ethnisch Anderen bedeutet, sondern meist auch die Auslöschung alternativer Identitätskonzepte für das Individuum.
Von der "Fiktion einer ‚reinen‘ ethnischen Identität"
Zahlreiche Forschungen haben ergeben, dass die Verdichtung ethnischer Grenzen als eine Folge von Krieg und Gewalt zu betrachten ist und nicht monokausal als Ursache gewaltsamer Auseinandersetzungen.
Obwohl konstruiert, können ethnische Grenzen und die damit einher gehenden Selbst- und Fremdbilder nicht jederzeit beliebig verändert werden. Einmal erschaffen, wirken sie auf die Individuen zurück. Eine Voraussetzung für ihr Fortbestehen ist jedoch, dass die Kontakte zu jenen bestehen bleiben, die diese Wirklichkeit stützen und schützen; nur dadurch bleibt ihre Plausibilität erhalten.
Exemplarisch lassen sich diese Zusammenhänge am Beispiel des Umgangs mit (mutmaßlichen) Kriegsverbrechern verdeutlichen: Wenn als "Heroen" gefeierte Mitglieder der ethnischen Eigengruppe von anderen als Verbrecher und Mörder bezeichnet werden, kommt es über weite Bevölkerungsgruppen hinweg zu emotionalen Abwehrreaktionen. Wie sich die Menschen der "Richtigkeit" ihrer Perspektive angesichts der Bedrohung durch alternative Wirklichkeiten versichern, ließ sich etwa im Zuge der Proteste gegen die Auslieferung oder Verurteilung "nationaler Helden", wie Radovan Karadžić, Radko Mladić oder Ante Gotovina durch das Internationale Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien beobachten. In Tränen aufgelöste Menschen, gehüllt in ihre Nationalfarben und ausgestattet mit Plakaten und Bildern der Verhafteten oder Verurteilten, sowie zerrissene Europaflaggen setzten im Zuge der Proteste deutliche Zeichen – auch der Delegitimierung all jener, die die "einzig wahre Wirklichkeit" nicht anerkennen wollen. Denn die Erwartungshaltung gegenüber dem Tribunal ist vor allem dadurch geprägt, dass es die Version der Ereignisse vertreten soll, der zufolge die eigene ethnische Gruppe kollektiv als Opfer und damit eben auch als unschuldig betrachtet wird. Wird diese Erwartung nicht erfüllt, werden die Nationalhelden zu Mördern, zu Tätern, zu Schuldigen, wird dies als ein Angriff auf die eigene Identität gewertet. Die starke Identifikation mit den Angeklagten geht einher mit der Annahme, dass vor dem Tribunal eben nicht über Individuen gerichtet wird, sondern über die gesamte ethnische Gruppe.
Deutlich zeigt sich hier auch, dass im gegenwärtigen Bosnien der Konflikt über die Vergangenheit primär ein Kampf um die Wahrheit und das eigene Wir-Ideal ist.
Selbstviktimisierung
Vor allem die Tatsache, dass es in diesem Konflikt auch Dritte von der Wahrheit und Wahrhaftigkeit der eigenen Perspektive zu überzeugen gilt, führt dazu, dass der Kampf um das Wir-Ideal zu einer Auseinandersetzung um den eigenen Opferstatus wird. Die Selbstviktimisierung ist weder ein neues noch ein regional begrenztes Phänomen; nahezu jeder Konflikt zeichnet sich dadurch aus, dass sich seine Parteien ausschließlich als Opfer betrachten.
"Opfer-Sein", wie es sich hier darstellt, hat wenig mit Schwäche zu tun. Ganz im Gegenteil: Die Opferrolle ist mit einer Macht, mit einem "politischen Mehrwert"
Selbst dort, wo die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine Auseinandersetzung mit der eigenen Täterrolle erzwingt, wird diese im kollektiven Gedächtnis zugunsten einer Selbstauffassung als Opfer oft genug verdrängt. Opfer zu sein, wird als unteilbares und allumfassendes Gut betrachtet. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler schrieb dazu: "Was im Alltagsleben von jedermann unbesehen zugestanden wird, dass nämlich jeder Täter auch Opfer sein oder zumindest doch werden kann – wie umgekehrt ebenso –, das wird, sobald es um politische Positionierungen geht, heftig bestritten. Hier ist die Unterscheidung zwischen Opfer und Täter nicht länger eine situationsabhängige Momentaufnahme, sondern gerinnt zum permanenten Merkmal."
Durch ihren höchst kompetitiven Charakter wirkt die Selbstviktimisierung in (Post-)Konfliktkonstellationen nach außen trennend und nach innen verbindend.
Strategien zur Aufrechterhaltung des Opferstatus
Um in dieser Situation die eigene Viktimisierung trotz permanenter Konfrontation mit den Anderen und ihren Wirklichkeitsperspektiven aufrechtzuerhalten, haben die Menschen im Nachkriegs-Bosnien verschiedene Strategien entwickelt.
Tabuisierung der Kriegsvergangenheit
Die Analyse der Interviews und ethnografische Beobachtungen zeigen sehr deutlich, dass der Krieg im Rahmen interethnischer Begegnungen in der Regel komplett ausgeblendet wird. Ein Interviewpartner formuliert beispielsweise: "Nach einer so kurzen Zeit, es vergingen keine paar Monate, nachdem der Krieg aufhörte, fingen wir an, zueinander zu gehen (…) Als sei nichts gewesen (…) Als hätte dieses Loch nie existiert. Als hätten die Linien nie existiert."
Zweierlei Maß
Kommt es zu einer Konfrontation mit konkurrierenden Wirklichkeitsauffassungen, werden bei der Bewertung und Rechtfertigung von Ingroup-Verhalten und Outgroup-Verhalten typischerweise unterschiedliche Maßstäbe angelegt. Den Aggressionen der Outgroup wird die Verteidigung der Ingroup gegenübergestellt. Das Verhalten der Ingroup wird ursächlich auf das Verhalten der Outgroup zurückgeführt und damit zu rechtfertigen versucht. Diese Dichotomisierung von Tätern und Opfern lässt sich angesichts der Präsenz der konkurrierenden Erzählungen nicht ohne Weiteres aufrechterhalten. Infrage gestellt wird nun aber der Wahrheitsgehalt oder die "Wahrhaftigkeit" der konkurrierenden Erzählung – und aus der Dichotomie von Opfern und Tätern wird eine Dichotomie von wahren Opfern und kreierten, konstruierten, erfundenen Opfern. "Die systematische Ächtung des Außengruppenangehörigen", so der Soziologe Robert Merton in seiner Theorie über die sich selbst erfüllende Prophezeiung, "nimmt ihren Lauf weitgehend ungeachtet dessen, was er tut. Mehr noch: Durch den Aberwitz einer kapriziösen richterlichen Logik wird das Opfer für das Verbrechen bestraft."
Doppelte Relativierung
Mitunter kommt es aber auch zu der Einsicht, dass Mitglieder der ethnischen Ingroup ebenfalls Verbrechen begangen haben könnten. Zunächst erscheint die Annahme naheliegend, dass eine solche Anerkennung zu einer Entidealisierung beziehungsweise zu einer Relativierung des positiven Wir-Bildes führt. Was hier jedoch geschieht, ist der Versuch, abweichende Wirklichkeitsbestimmungen mit Begriffen aus der eigenen Sinnwelt auszustatten, sie also der eigenen Sinnwelt einzuverleiben und somit als konkurrierende Wirklichkeitsperspektive zu liquidieren. Indem zugegeben wird, dass das Verhalten von Mitgliedern der Ingroup moralisch "nicht einwandfrei" war, verleiht man sich zusätzlich Legitimation.
Dieses moralisch nicht einwandfreie Verhalten der Ingroup-Mitglieder wird dann allerdings in einem zweiten Schritt typischerweise in Relation gesetzt mit den als sehr viel schlimmer klassifizierten Verbrechen der Outgroup. Diese doppelte Relativierung – also die Relativierung des eigenen Wir-Ideals, die jedoch selbst auch einer Relativierung unterzogen wird – dient damit wiederum der Stabilisierung dieses Wir-Ideals.
Insgesamt zeigen Menschen bei diesem Prozess der Relativierung eine recht ausgeprägte "soziale Kreativität":
Subjektivierung des Krieges
Trotz einer in der Regel eindeutig erfolgenden Täter-Opfer-Zuschreibung wird der Krieg regelmäßig als nicht von Menschen gemacht, sondern als ein übermenschliches, die Menschen vernichtendes und verfeindendes Phänomen beschrieben: "Als Tito starb, als Jugoslawien zerfiel, (…) kam dieser verdammte Krieg, welcher angerichtet hat, was er angerichtet hat: uns alle verfeindet", so ein Interviewpartner.
Im Verlauf der Analyse zeigt sich, dass vor allem jene, die erfolgreich und anhaltend ins sozialistische System des ehemaligen Jugoslawien sozialisiert wurden, auf diese Strategie zurückgreifen, denn die Subjektivierung des Krieges liefert eine plausible Erklärung dafür, warum es trotz "Brüderlichkeit und Einheit" zum Krieg kommen konnte.
Externalisierung der Schuld
In Situationen interethnischen Kontakts kann es gelingen, verschiedene Wirklichkeitsperspektiven einander anzugleichen, indem die Verantwortung oder die "Schuld" auf außenstehende Akteure übertragen wird. Dies kann auf viererlei Wegen geschehen.
Erstens können sich Angehörige zweier ethnischer Kategorien im interethnischen Kontakt gegen einen Dritten verbünden, auf den die Hauptverantwortung für das, was geschehen ist oder nach wie vor geschieht, übertragen wird. So werden die Serben von den Kroaten und Bosniaken als jene betrachtet, von denen die primäre Aggression ausging; die Kroaten gelten als die Opportunisten, die je nach eigenem Vorteil ihre Bündnispartner wechseln, und in den Bosniaken personifiziert sich schließlich aus der Perspektive der christlichen Kroaten und Serben die Gefahr islamischen Fundamentalismus mitten in Europa.
Eine zweite Möglichkeit der Externalisierung von Verantwortung besteht in einer Kontraktion der Wir-Gruppe – jene Teile, die das Wir-Ideal bedrohen, werden ausgeschlossen. Es kann drittens aber auch eine Ausdifferenzierung der Außengruppe vorgenommen werden, eine Unterscheidung zwischen den "guten Anderen" und den "bösen Anderen".
Viertens zeigt sich im Rahmen der Analyse auch immer wieder, dass die Schuld oder zumindest eine Mitschuld einem gänzlich außenstehenden Dritten zugeschrieben wird: der "internationalen Gemeinschaft" oder aber auch einzelnen Staaten. Ob die zentrale Täterschaft nun den ethnischen Outgroups, der internationalen Gemeinschaft oder dem Krieg an sich zugeschrieben wird, "[i]n jedem Fall ist das Böse externalisiert; es wird draußen gesucht und es trifft einen von außen".
Conclusio
Bis zum heutigen Tage scheinen die Menschen in Bosnien-Herzegowina im Schützengraben zwischen den Fronten gefangen zu sein. Innerhalb der Sozialpsychologie wird darauf hingewiesen, dass sich solche Konkurrenzsituationen durch eine gegenseitige Anerkennung des Opferstatus entschärfen ließen. Doch abgesehen von der Tatsache, dass sich Viktimisierungen stets durch einen gewissen Egoismus auszeichnen,