Es war 1980, vor mehr als 37 Jahren, als die Europäische Gemeinschaft und die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien das erste umfassende Kooperationsabkommen unterzeichneten. Jugoslawien war damals unter den Staaten des östlichen Europas am weitesten entwickelt und hatte die besten Voraussetzungen für einen Vollbeitritt zur Europäischen Gemeinschaft. In den 1980er Jahren geriet der Vielvölkerstaat jedoch in eine tiefe Krise, die in den 1990er Jahren in Krieg und Staatszerfall mündete.
Als die EU auf dem Gipfel von Thessaloniki 2003 den Nachfolgestaaten Jugoslawiens das Versprechen gab, in absehbarer Zeit volle Mitglieder einer florierenden Union werden zu können, verkörperte sie für deren gebeutelte Bevölkerungen alles, wonach sie sich sehnten – Stabilität, Wohlstand, Prosperität. Die Strahlkraft der EU vermochte sie dazu zu motivieren, den Reformkurs einzuschlagen, der einmal in die EU führen sollte. Das war jedoch einige Jahre vor den gescheiterten EU-Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden und vor dem Beginn der langen Krisenkette – von der Finanz- und Wirtschaftskrise über die Griechenland- und Euro-Krise bis hin zur sogenannten Flüchtlingskrise und dem Brexit. Die heutige EU ähnelt der Union des Jahres 2003 kaum noch. Sie kriselt, und mit ihr das einst strahlende Vorbild.
Auch wenn mit Slowenien und Kroatien heute zwei der ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken Mitglieder der Europäischen Union sind, scheinen die übrigen postjugoslawischen Staaten der EU heute nicht näher zu sein als das damalige Jugoslawien der EG – zugunsten alt-neuer Player auf dem Balkan.
Begeisterung weicht Skepsis
Nach wie vor ist die Europäische Union für viele Bürgerinnen und Bürger der Nachfolgestaaten Jugoslawiens die Verheißung eines besseren Lebens. Nach 15 Jahren der Annäherung liegt der Zeithorizont für einen möglichen EU-Beitritt jedoch für Menschen mittleren Alters in Bosnien-Herzegowina, Kosovo oder Mazedonien fast schon außerhalb ihrer eigenen Lebensspanne. So müssten die Volkswirtschaften der sechs Staaten des sogenannten Westbalkan – der im EU-Sprachgebrauch die verbleibenden postjugoslawischen Nicht-EU-Mitgliedsstaaten Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien sowie Albanien umfasst – bis Ende der 2030er Jahre jährlich um mindestens sechs Prozent wachsen, um wirtschaftlich zum EU-Durchschnitt aufzuschließen; derzeit liegen die Wachstumsraten zwischen zwei und drei Prozent.
Immer mehr Menschen stellen daher den EU-Beitritt als unumstößliches Ziel infrage. So stimmen etwa 32 Prozent der Serbinnen und Serben, 28 Prozent der Mazedonierinnen und Mazedonier und 33 Prozent der Bürgerinnen und Bürger von Bosnien-Herzegowina der Aussage zu, dass ihre Länder nie der Europäischen Union beitreten werden.
In Serbien, Montenegro und Bosnien-Herzegowina ist die EU-Skepsis am stärksten ausgeprägt: In Serbien schätzten 2016 beispielsweise nur 21 Prozent der Befragten eine EU-Mitgliedschaft positiv ein, während 31 Prozent explizit der Meinung waren, dass eine EU-Mitgliedschaft für Serbien schlecht wäre. Ähnlich niedrige Zustimmungsraten hat die Europäische Union auch im serbisch besiedelten Teil von Bosnien-Herzegowina, in der Republika Srpska. In den albanischsprachigen Staaten, also in Kosovo und Albanien, ist die Zustimmung weniger stark rückläufig, und auch in Mazedonien überwog 2016 noch knapp die Anzahl jener, die die EU befürworten.
Neue Vorbilder
Gleichzeitig scheint sich in denselben Staaten eine Hinwendung zu anderen für die Region relevanten geopolitischen Akteuren zu vollziehen. So schätzten in Serbien Anfang 2017 61 Prozent der Befragten den Einfluss Russlands als sehr positiv für das Land ein, und 32 Prozent gaben an, einen Beitritt Serbiens zu einer Euroasiatischen Union unter russischer Führung zu begrüßen, während 35 Prozent den Einfluss Deutschlands positiv sahen und sich nur fünf Prozent für eine Mitgliedschaft in der Nato aussprachen.
In Politiker-Popularitätsrankings in Serbien und der Republika Srpska ist der russische Präsident Wladimir Putin mit Raten von über 70 Prozent Spitzenreiter. Im öffentlichen Diskurs und im politischen Leben wird die Nähe Russlands und zu Putin offen gesucht und instrumentalisiert. So besuchten beispielweise sowohl der Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, als auch der ehemalige Regierungschef und mittlerweile Präsident Serbiens, Aleksandar Vučić, wenige Tage vor den für sie entscheidenden Wahlgängen Putin in Moskau und warben in der heißen Wahlkampfphase mit seiner Unterstützung für ihren politischen Kurs.
Umgekehrt ist in jüngster Zeit immer wieder eine mehr oder weniger direkte Einmischung Russlands in die innenpolitischen Angelegenheiten einzelner Staaten der Region zu beobachten. So gab es zum Zeitpunkt der Parlamentswahlen in Montenegro im Oktober 2016 eine heftige Debatte über einen Putschversuch, der Quellen der montenegrinischen Regierung zufolge von russischen Stellen geplant worden war. Hintergrund war die bevorstehende und mittlerweile erfolgte Aufnahme Montenegros in die Nato, ein von Russland als feindlich angesehener Akt. Russland unterstützte auch offen den mittlerweile abgewählten ehemaligen mazedonischen Premierminister Nikola Gruevski, der mit seiner Weigerung, eine neue sozialdemokratisch geführte Regierung in Skopje zu akzeptieren, Mazedonien im April 2017 an den Rand eines Krieges gebracht hatte. Auch die Rolle eines von Russland unterhaltenen "Humanitären Zentrums" in der südserbischen Stadt Niš, das mit Know-how und technischer Unterstützung bei der Bewältigung von Naturkatastrophen helfen soll, wird im Zusammenhang mit Spionagevorwürfen kontrovers diskutiert.
In den muslimisch besiedelten Gebieten der Region, in Bosnien-Herzegowina, Albanien und Teilen von Mazedonien und Serbien, führt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Liste der populärsten Persönlichkeiten an. Zwischen den bosnischen Muslimen, den Bosniaken, und der Türkei sind die geschichtlichen und kulturellen Verbindungen ohnehin besonders eng. Aktuell ist es jedoch vor allem die Sehnsucht nach Anerkennung und Geltung der in ihrer Selbstwahrnehmung marginalisierten Bosniaken, die eine emotional aufgeladene und bisweilen irrationale Bindung zur heutigen Türkei aufrechterhält, wo Erdoğan Macht und Größe eines selbstbewussten Staates heraufbeschwört. Wie stark die Loyalität zur Türkei und zu Erdoğan ist, zeigt etwa die begeisterte Reaktion des bosniakischen Vertreters im dreiköpfigen Staatspräsidium Bosnien-Herzegowinas,
Die Türkei hat den Balkan in den vergangenen zwei Jahrzehnten "wiederentdeckt". Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Geschichte und der starken kulturellen und identitären Verbindung zwischen den muslimischen Bevölkerungen der Region und der Türkei ist im Zuge des wirtschaftlichen Aufstiegs des Landes seit den 2000er Jahren und dem neuen türkischen Selbstbewusstsein die symbolische Strahlkraft der Türkei im Westbalkan gewachsen, obgleich sie wie auch Russland weder wirtschaftlich noch (sicherheits)politisch der dominante Player in der Region ist – türkische und russische Investitionen sind beispielsweise im Vergleich zu jenen aus Deutschland und Österreich sehr viel kleiner.
Auch auf der Ebene des Regierungsstils korrelieren die Entwicklungen und Präferenzen in Russland und der Türkei mit denen der Westbalkanstaaten. Hier nährt sich ein tief verwurzelter autoritärer Code aus Versatzstücken von Patriarchalismus und Machismus, Traditionalismus, der Sehnsucht nach starken Führungspersönlichkeiten und einem wiedererstarkten Nationalismus. Erdoğan bedient diesen ebenso perfekt wie Putin. Das Bild des starken Mannes, der den anderen zeigt, wo es lang geht, und den anderen Mächtigen der Welt trotzt, imponiert vielen auf dem Balkan. Dies erklärt die Wertschätzung, die Erdoğan und Putin dort entgegengebracht wird.
Demokratische Regression und neue autoritäre Tendenzen
Die zitierten Statistiken sowie die beschriebenen Entwicklungen in den Beziehungen der Staaten der Region zu Russland und der Türkei zeugen von einer zunehmenden Skepsis gegenüber der Europäischen Union als primäres oder alleiniges role model. Wird die Annäherung an Europa gleichgesetzt mit dem Prozess der Demokratisierung der postjugoslawischen Gesellschaften, dann ist die logische Schlussfolgerung, dass auch der Demokratie als Gesellschaftsform auf dem Westbalkan immer mehr Misstrauen entgegengebracht wird und die Bereitschaft steigt, andere – illiberale oder autoritäre – Herrschaftsformen zu akzeptieren. In der Tat zeigt sich in allen vergleichenden Untersuchungen zum Zustand der Demokratie in der Region eine eindeutig regressive Tendenz.
Die Balkans in Europe Policy Advisory Group schlussfolgerte in ihrem Bericht aus dem Frühjahr 2017: "Democracy in the Western Balkans has been backsliding for a decade. There is no single turning point for the entire region, but the downward spiral began a decade ago, and accelerated with the economic crisis in 2008 and multiple crisis within the EU that distracted the Union from enlargement."
Laut einer aktuellen Untersuchung des Pew Research Center zu Zentral- und Osteuropa sind in Serbien nur 25 Prozent der Bürgerinnen und Bürger davon überzeugt, dass Demokratie die beste Regierungsform ist, während zugleich 28 Prozent meinen, dass unter bestimmten Umständen nichtdemokratische Regierungen besser sind, und weiteren 43 Prozent die Regierungsform vollkommen gleichgültig ist.
Nationalistische Mobilisierung durch "starke Männer"
So wächst in der gesamten Region die Dominanz des "starken Mannes" an der Spitze des Staates. Dabei sind neue Formen des Machtpragmatismus zu beobachten, hinter denen sich einerseits das Bedürfnis nach dem Schutz der angehäuften Privilegien sowie andererseits eine deutlich narzisstische bis hin zu messianische Selbstwahrnehmung der politischen Führungspersönlichkeiten verbirgt.
In Serbien veröffentlichte das Wahlkampfteam des ehemaligen Premierministers Aleksandar Vučić kurz nach der Ankündigung seiner Kandidatur für das Amt des Präsidenten Anfang 2017 einen Videoclip, der den Takt für die Kampagne vorgeben sollte. Darin ist Vučić schlafend in einem Flugzeug zu sehen, während zwei Piloten über die Flugrichtung streiten. Als sie in ihrer Auseinandersetzung wild am Steuerknüppel herumreißen und das Flugzeug und die Passagiere in heftige Turbulenzen bringen, wacht Vučić auf. Augenblicklich beruhigt sich die Lage, und mit sanfter Stimme verkündet der eben noch schlummernde Passagier, dass es einen klaren und eindeutigen Kurs für den Serbien-Flieger brauche und nur er allein das Land auf den richtigen Weg bringen könne.
Die "starken Männer" am Balkan sind allesamt geschickte Rhetoriker. Sie geben sich als Pragmatiker, die alles dem Fortschritt unterordnen. Parallel dazu pflegen sie einen Diskurs der ständigen Bedrohung durch andere beziehungsweise von außen, gewürzt mit einer ordentlichen Prise Nationalismus, die stets auch ein Gefühl der Viktimisierung transportiert.
Vučić oder auch kosovo-albanische Politiker mit einer Vergangenheit in der Befreiungsarmee Kosovos (UÇK) bemühen sich, ihre bescheidenen Hintergründe hervorzuheben und sich als Menschen des Volkes zu präsentieren. Gleichzeitig beanspruchen sie für sich auch die Definitionshoheit darüber, wer das "wirkliche" Volk ist – seien es nun authentische Albaner, echte Serben, wahre Bosniaken, stolze Montenegriner oder Kosovaren. Diese politische Polarisierung teilt die Gesellschaft entlang eines Freund-Feind-Schemas, durch das jeglicher Dissens und eine noch so zurückhaltende Kritik an der Regierungspartei als Verrat an "der nationalen Sache" delegitimiert und teilweise kriminalisiert wird. Auf diese Art und Weise schaffen es Führungspersönlichkeiten wie Vučić in Serbien oder Izetbegović in Bosnien-Herzegowina immer wieder, die Kritik der Opposition an ihrer Regierungsweise abzuschmettern.
Krise als Herrschaftselement
Das Szenario einer Bedrohung von außen bedient den Eindruck einer permanenten Krise, der angesichts der Häufung der konflikthaften Situationen in der Region in den vergangenen Jahren ohnehin verbreitet ist.
So war auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise 2015, als ein Großteil der Flüchtenden über die "Balkanroute" den Weg in die Europäische Union suchte, von einem regelrechten Handelskrieg zwischen Kroatien und Serbien die Rede. Gleichzeitig eskalierte die Situation in Mazedonien: Nach einer umstrittenen Polizeiaktion gegen eine Gruppe bewaffneter Albaner in Kumanovo nahe der Grenze zu Serbien, bei der fast zwei Dutzend Menschen ihr Leben verloren, heizte der damalige Premierminister Nikola Gruevski mit nationalistischen Parolen die Spannungen zwischen der slawischen Bevölkerungsmehrheit und der albanischen Minderheit an, um Erstere für seine Politik zu mobilisieren. In Kosovo zieht sich ein tiefer Graben zwischen Regierung und Opposition. Seit 2015 hat die Opposition im Parlament wiederholt Tränengas gezündet und den Protest auf die Straßen getragen. 2015 kochte auch in Bosnien-Herzegowina der schwelende Konflikt zwischen den beiden Entitäten Republika Srpska und Föderation von Bosnien und Herzegowina zum wiederholten Mal hoch, als der Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, mit einem Referendum über eine Abspaltung von Bosnien-Herzegowina drohte. In Serbien befindet sich Vučić seit Jahren in einem selbstinszenierten Dauerwahlkampf. Hinzu kommen auf regionaler Ebene eine Reihe dramatischer Affären – sei es jene mit dem serbischen Personenzug mit der mehrsprachigen Aufschrift "Kosovo ist Serbien", der auf dem Weg nach Kosovo aufgehalten wurde, oder jene rund um die Verhaftung des Vorsitzenden der Allianz für die Zukunft Kosovos, Ramush Haradinaj, der in Frankreich aufgrund eines serbischen Haftbefehls wegen angeblich neuer Beweise für seine Beteiligung an Kriegsverbrechen während des Kosovokrieges festgenommen wurde.
Wie diese krisenhafte Stimmung in der Region auf nationaler Ebene instrumentalisiert wird, zeigen etwa die jüngsten Entwicklungen in Mazedonien. Am 27. April 2017 stürmte nach der Wahl eines Albaners zum Parlamentspräsidenten durch die neue Regierungsmehrheit ein Mob aus Anhängern des langjährigen mazedonischen Regierungschefs Nikola Gruevski das Parlament in Skopje, verletzte den Parteichef der Sozialdemokratischen Partei Mazedoniens, Zoran Zaev, sowie weitere Parlamentarier. Nach dieser Gewalteskalation warfen sowohl ehemalige Mitglieder des abgelösten mazedonischen Regimes als auch serbische Medien den Sozialdemokraten vor, ihre Machtübernahme durch einen Schulterschluss mit den Albanern vorbereitet und damit slawisch-mazedonische Nationalinteressen verraten zu haben. Der vermeintliche Zusammenhang von angeblichen Kompromissen zugunsten der Albaner und einem Sturz der Regierung gilt seither vor allem in Serbien als gefährlich. Dort geisterte im Anschluss das "mazedonische Szenario" als Schlagwort durch Politik und Medien, und die politische Rhetorik suggerierte, dass die "mazedonische Frage" eine große Bedrohung für den Frieden in der Region darstelle.
Dahinter steckt die Furcht vor gegen Serben gerichteten "großalbanischen" Ambitionen. Die Aussagen albanischer Politiker wie des Ministerpräsidenten Albaniens, Edi Rama, oder des Premierministers von Kosovo, Ramush Haradinaj, die sich gegen jegliche Einmischung aus Serbien verwehrten, verstärkten in der serbischen Öffentlichkeit den Eindruck, dass eine neue offensive (groß)albanische Front gegen Serbien entstehe und das Land bedroht werde. Serbiens Präsident Vučić beteiligte sich selbst intensiv an dieser Kampagne. Zuletzt eskalierte die Rhetorik im August 2017, als die serbische Regierung ohne nähere Erklärung ihr gesamtes Botschaftspersonal aus Mazedonien abzog. Im Nachhinein suchte Serbien – auch auf Druck aus Brüssel – wieder den Dialog zu Mazedonien.
Zurück bleibt der Eindruck einer künstlich herbeigeführten Krise, in der metaphorisch gesprochen jener, der den Brand gelegt hat, vorgibt, ihn zu löschen, um sich als Retter in der Not zu inszenieren. Bei dieser Strategie greifen die jeweiligen Regierungsparteien auch auf die Medien zurück, die sie im Zuge ihres Machtausbaus zunehmend kontrollieren.
Parteien als Interessenmaschinen
Ein weiteres zentrales Muster autoritären Regierens zeigt sich in der Informalität, mit der die wirtschaftlichen Interessen der regierenden Parteien durchgesetzt werden. Um die Herrschaft und Loyalität abzusichern, setzt man in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens in der Regierungspraxis zunehmend auf informelle Beziehungen und Abhängigkeiten, durch die die Institutionen erodieren und Bürgerrechte unterwandert werden.
Die Regierungsparteien sind nicht nur Strukturen, um Macht zu organisieren und politische Interessen zu vertreten – sei es die Serbische Fortschrittspartei in Serbien, die Demokratische Partei der Sozialisten in Montenegro, die bosniakisch dominierte Partei der demokratischen Aktion in Bosnien-Herzegowina oder ihr serbisches beziehungsweise kroatisches Pendant Allianz der unabhängigen Sozialdemokraten und Kroatische Demokratische Union in Bosnien und der Herzegowina, sei es die Demokratische Partei Kosovos, die Allianz für die Zukunft Kosovos oder ehemals die Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation – Demokratische Partei für Mazedonische Nationale Einheit (VMRO-DPMNE). Sie fungieren auch als klientelistische Netzwerke, die die öffentlichen Güter und staatlichen Ressourcen verteilen, die sie kontrollieren. Immer stärker wird dies zur Grundlage der Legitimationsstrategien der einzelnen Parteien.
Bei der informellen Umverteilung von staatlichen Ressourcen innerhalb der von der Regierungspartei dominierten klientelistischen Netzwerke spielen insbesondere Infrastruktur- und Bauprojekte eine wichtige Rolle. Beispielhaft dafür steht sicherlich das von der mazedonischen VMRO-DPMNE ab 2010 realisierte Megabauprojekt "Skopje 2014". Der Wiederaufbau des Zentrums der mazedonischen Hauptstadt entlang der imaginierten Vorstellung Mazedoniens als Wiege der antiken Kultur kostete bis heute laut Schätzungen des Balkan Investigative Reporting Network (BIRN) etwa 670 Millionen Euro. Von dieser Summe sind große Teile einfach verschwunden. Wie das BIRN auf seiner Webseite und mithilfe der interaktiven Internet-Plattform "Skopje 2014 Uncovered" aufzeigt, war dieses Projekt vor allem ein zentrales Vehikel zur Neuverteilung der öffentlichen Ressourcen Mazedoniens an VMRO-DPMNE-nahe Unternehmen.
Die EU als Teil des Problems?
Im Lichte dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen der nachlassenden Strahlkraft der Europäischen Union und den autoritären Tendenzen in der Region gibt. Was kann Brüssel für eine positive Trendwende auf dem Westbalkan tun?
Die rhetorischen Angriffe und Finessen von Aleksandar Vučić rund um die "Zug-Affäre" oder das oben diskutierte "mazedonische Szenario" fallen in die Kategorie gekonnt eingesetzter machtpolitischer Schachzüge von politerfahrenen "starken Männern". In dieselbe Kategorie fällt auch das laute Nachdenken des albanischen Premierministers Edi Rama im Frühjahr 2017 über eine "kleine Union" mit dem Kosovo als Alternative zum EU-Beitritt. Ähnliche rhetorische Spielchen macht auch Izetbegović, wenn er Erdoğan umschmeichelt, zugleich aber stets betont, dass das Schicksal Bosnien-Herzegowinas in der Europäischen Union liege.
Eine banale Einsicht ist wohl jene, dass es für Politiker dieses Schlags mit einer schwachen EU einfacher ist, die eigene Klientel zu bedienen. Mal kann man sich rhetorisch Richtung Brüssel verneigen, mal die autoritäre Erdoğan- oder Putin-Schiene fahren. In dieser politischen Beliebigkeit verkommt Politik zu einem Spektakel ohne erkennbare Richtung und Programmatik.
Man kann aber in all diesen Aussagen Symptome dafür sehen, dass in Zeiten politischer Spannungen, wenn der Druck seitens der Opposition zunimmt und der EU-Beitritt in unsicherer Ferne scheint, auch Pragmatiker wie Edi Rama oder Aleksandar Vučić gerne zu populären und bisweilen populistischen Äußerungen greifen. Trotz des formalen EU-Pragmatismus darf dabei eine Breitseite gegen die Europäische Union oder einzelne EU-Mitgliedsstaaten nicht fehlen. Dies ist allerdings nur solange möglich, wie die Erweiterungspolitik nicht zu den Prioritäten in Brüssel gehört.
Insofern hat die tiefe Krise der EU-Erweiterung durch den derzeit prominenten türkischen Fall sicherlich auch negative Auswirkungen auf die Lage in der Region und begünstigt autoritäre Tendenzen und die Hinwendung einzelner Staaten zu Russland und der Türkei. Aus dieser Perspektive ist die Europäische Union im Westbalkan längst zum Teil des Problems geworden.