I. Brigitte Reimann zwischen Diktatur und Demokratie gelesen
Als Brigitte Reimann wenige Monate vor ihrem Tod im April 1972 an ihre Jugendfreundin Veralore Schwirtz schrieb: ". . . ,Ankunft im Alltag': später wurde von den Germanisten die ganze Literaturströmung jener Jahre danach benannt, und so geistere ich wenigstens als Vortruppler der ,Ankunftsliteratur' durch die Lexika . . ."
Die im Literaturstreit von 1990 aufgeworfene Frage, was nach dem Untergang der DDR von deren Literatur übrig geblieben sei, zeigte, dass diese Beurteilung nicht ausschließlich ästhetischen Kriterien unterlag. Es ging "um den literarischen Text als politisches Exponat"
Die Tagebücher Brigitte Reimanns haben den Vorzug, eine unter dem unmittelbaren Erlebniseindruck abgefasste Alltags- und Sozialgeschichte - die ihrer subjektiven Wahrnehmung - zu sein; sie erweitern zugleich die Quellenbasis, auf der die Bewertung der Rolle der DDR-Schriftsteller vorzunehmen ist. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Person und das Werk der Schriftstellerin im Westen weitgehend unbekannt blieben. Im Osten hingegen war Brigitte Reimann bereits eine bekannte und öffentlichkeitswirksam publizierte Autorin. Diese Differenz verweist nicht nur auf einen bis heute in beiden Teilen Deutschland unterschiedlichen Umgang mit Literatur, sondern auch auf unterschiedliche Mentalitäten sowie auf bestimmte Ursachen für Verständigungsschwierigkeiten im Einigungsprozess. Darüber hinaus offenbaren sich divergierende, jeweils gesellschaftlich sanktionierte Regeln in der Auseinandersetzung mit literarischen Texten.
Die offizielle Wahrnehmung von Person und Werk Brigitte Reimanns in der DDR geschah auf verschiedenen Ebenen, und zwar zum Teil gegenläufig. Ihre Texte waren zu keiner Zeit in den Lehrplänen für den Deutschunterricht an den Schulen enthalten, womit ihr Werk ganz offensichtlich vom Volksbildungsministerium als unvereinbar mit dem erklärten Schüler-Leitbild "allseits gebildeter sozialistischer Persönlichkeiten" erachtet wurde
Dagegen zeigen ausgeprägt individuelle Lektüreerlebnisse des in Brigitte Reimanns Werk eine besondere Stellung einnehmenden Romans "Franziska Linkerhand", wie die offizielle Wahrnehmung ihres literarischen Schaffens unterlaufen werden konnte. Die Figur der Franziska Linkerhand bot für viele Leser in der DDR eine Identifikationsmöglichkeit; die darin enthaltenen Provokationen wurden als eine Selbstbestätigung im Widerspruch zum DDR-System verortet; nicht umsonst erlangte der Roman nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1974 einen Kultstatus. Allerdings wurde das Buch von der damals jüngeren Generation kritischer aufgenommen, wie der Publizist Christoph Dieckmann (Jahrgang 1956), der erstmals 1977 den Roman las, sich erinnert: "Aber jede Generation beansprucht, bis zum Gegenbeweis, ihre eigene Hoffnung. Franziska Linkerhand erzählte die ihre in Figuren und Sujets, die mir zehn Jahre zu alt und also widerlegt erschienen. Franziska rang noch um eine sozialistische Moral. Ihr 77er Leser maß einheimische Kunst an einem anderen Wahrheitsbegriff: Sprach sie aus, wie sehr die DDR missraten war?"
Eine positive Identifikation war Dieckmann nicht mehr möglich, worin sich auch ein Generationenproblem offenbarte. Lektüre ist immer auch an einen autobiografischen Kontext geknüpft. Literatur oder Kunst im allgemeinen fungierte in der DDR als ein Erlebnis, "das die Denk- und Empfindungsweisen einer Generation entscheidend prägt(e)."
Es erscheint zunächst erstaunlich, dass in den Jahren 1997 und 1998 nach der Veröffentlichung ihrer beiden Tagebuch-Bände diese in allen Feuilletons der überregionalen Zeitungen an herausgehobener Stelle rezensiert wurden. Brigitte Reimanns Tagebücher sowie ihr Briefwechsel mit Veralore Schwirtz, Christa Wolf und Hermann Henselmann haben heute offenbar deshalb eine so große Resonanz, weil die politischen Bedingungen ihres Zustandekommens nicht mehr existieren. Brigitte Reimanns Roman "Franziska Linkerhand" wurde in einer unzensierten Ausgabe
Inwieweit beeinflusst diese Entwicklung die Rezeption der Tagebücher in den überregionalen Tageszeitungen, deren Umfang und herausgehobene Platzierung markant waren? Die Rezensenten waren überwiegend Westdeutsche; die Wahrnehmung von Person und Werk Brigitte Reimanns wurde von zwei Extrempositionen begrenzt: Volker Hage stilisierte im "Spiegel" Brigitte Reimann zu einer erotischen, gegen den DDR-Sozialismus protestierenden Rebellin, wobei seine Überschrift "Rebellisch aus Lebensgier" als Kernaussage gelten kann. Ihre Tagebücher las Hage als eine Art Abenteuerroman; sie seien "das spannende Dokument eines gelebten Liebesromans voller Pointen und wilder Verwicklungen - gefährliche Liebschaften im DDR-Sozialismus"
Differenziertere, sich der Widersprüche der Brigitte Reimann annehmende Besprechungen fanden sich in der "Frankfurter Rundschau" und in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ). Hans Stempel widmete sich in der "Frankfurter Rundschau" der privaten und politischen Brigitte Reimann gleichermaßen: Ihre Tagebücher seien "Lebensroman und politisches Dokument zugleich"
II. Brigitte Reimann in der DDR-Gesellschaft
1. Die sozialistische Stadt als Ideal
Die Vision von der sozialistischen Stadt fungierte für Brigitte Reimann als Zentrum von Konflikten und Erfahrungen auf verschiedenen Ebenen: erstens als eine neuartige Begegnung mit dem Sozialismus; zweitens als eine praktische Auseinandersetzung mit kulturpolitischen, städtebaulichen und soziologischen Fragen beim Aufbau der sozialistischen Stadt, in der sich ihre Ideale mit der Realität messen lassen mussten, und drittens als eine Konfrontation dieser Ideale mit der Wirklichkeit in der literarischen Verarbeitung durch ihren Roman "Franziska Linkerhand".
Brigitte Reimanns Reden und Schreiben über ihre Ideale - womit ihre sozialistischen Ideale gemeint sind - durchzieht ihre Tagebuchaufzeichnungen; sie waren bereits früh in ihrer Jugend angelegt. Ihre Wendung vom christlichen Glauben zu einer sozialistischen Idealvorstellung, die sie in ihrem Briefwechsel mit ihrer Jugendfreundin Veralore Schwirtz
Obwohl bei einer chronologischen Einordnung die 1. Bitterfelder Konferenz von 1959 - auf der die SED-Führung von den Schriftstellern forderte, die Trennung zwischen Kunst und Leben, Künstlern und Arbeitern aufzuheben und in die Betriebe zu gehen
Die anfängliche Begeisterung für das "gewaltige Bauvorhaben" (I. b. n., 121) scheint aus einer hier wahrgenommenen Modernität des Sozialismus gespeist, die in Hoyerswerda ein Gesicht erhielt. Nicht umsonst wurde Hoyerwerda als die "zweite sozialitische Stadt" nach Eisenhüttenstadt bezeichnet. Der Ministerrat der DDR hatte am 23. Juni 1955 beschlossen, zum Abbau der Lausitzer Braunkohlevorkommen das Kombinat "Schwarze Pumpe" zu errichten und gleichzeitig eine Wohnstadt für das Braunkohleveredelungskombinat aufzubauen. Sie sollte in Großplattenbauweise entstehen und unmittelbar an Hoyerswerda grenzen; erstmals wurde eine Stadt unter den Bedingungen des industriellen Wohnungsbau errichtet
Dass dieser Glaube an die Aufbauleistung des Sozialismus bei Brigitte Reimann mit idealistischen Zügen verknüpft war, lässt sich an ihrer realen Konfrontation mit der "Neue(n) Welt"
2. "Wir leben in einer Stadt aus dem Baukasten" - Bestandsaufnahme der Realität
Ihre Vision von der sozialistischen Stadt und deren Gesellschaft führte Brigitte Reimann zu der Frage nach deren praktischer Verwirklichung; damit begann zugleich ihre Auseinandersetzung mit politischen, städtebaulichen und soziologischen Fragen. Ein möglicher Ausgangspunkt für diesen Prozess ist in Brigitte Reimanns Ende 1962 im "Neuen Deutschland" veröffentlichten Artikel "Entdeckung einer schlichten Wahrheit"
Dieser Artikel, in dem Brigitte Reimann "ein paar scharfe Angriffe gestartet" (I. b. n., 261) hatte, löste widersprüchliche Reaktionen innerhalb der SED-Führung aus: Von Ulbricht hoch gelobt - auch auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 ausgewertet
Ihr Engagement löste eine Vereinnahmungswelle seitens der SED-Führung aus. Brigitte Reimann wurde u. a. dazu aufgefordert, der SED beizutreten und einen Beitrag zu Ulbrichts 70. Geburtstag zu schreiben, was sie ablehnte. Lediglich der damals neugegründeten Jugendkommission beim Politbüro trat sie bei. Brigitte Reimanns Fall kann als Beispiel dafür gelten, wie die SED zu diesem Zeitpunkt Kritik an ihrer Kulturpolitik aufnahm, sie bei gleichzeitiger Beibehaltung ihrer Linie aber instrumentalisierte und die Schriftsteller durch Einbindung in verschiedene Institutionen zu kontrollieren suchte.
Im August 1963 druckte die "Lausitzer Rundschau" die überarbeitete Fassung einer Rede Brigitte Reimanns, die sie einige Monate zuvor vor dem Präsidium des Nationalrates der Nationalen Front gehalten hatte, unter der Überschrift "Bemerkungen zu einer neuen Stadt"
Die Enttäuschung über ihr vergebliches Engagement für Hoyerswerda formulierte Brigitte Reimann 1968: "Herrgott, ich habe für diese Stadt gekämpft, damit es den Leuten Spaß macht, dort zu wohnen . . ., aber sie war ja eine Errungenschaft, eine Heilige Kuh, die man nicht am Schwanz ziehen durfte" (S. g., 14).
3. "Die kluge Synthese" - zur literarischen Verarbeitung
Die Protagonistin in Brigitte Reimanns Roman, die Architektin Franziska Linkerhand, suchte immer noch das, was für ihre Autorin in Hoyerswerda unerreicht blieb: "Es muß, es muß sie geben, die kluge Synthese zwischen Heute und Morgen, zwischen tristem Blockhaus und heiter lebendiger Straße, zwischen dem Notwendigen und dem Schönen, und ich bin ihr auf der Spur" (F. L., 410). Darüber hinaus ging es um Mitwirkungs- und Existenzmöglichkeiten in der sozialistischen Gesellschaft, an die Franziska Linkerhand noch glaubte, während dies bei Brigitte Reimann kaum noch der Fall war. Dieser Anachronismus war wohl auch der Tatsache geschuldet, dass sie an ihrem im November 1963 begonnenen Roman zehn Jahre lang bis zu ihrem Tod arbeitete, ohne ihn noch überarbeiten zu können.
Dass dieser Roman über eine bloße Alltagsgeschichte der sechziger Jahre hinausgehend eine Auseinandersetzung mit dem Sozialismus wurde, in dem Brigitte Reimann tabuverletzende Themen aus der Vergangenheit und Gegenwart der DDR verarbeitete, ist offensichtlich. Sie reichten von den nach Kriegsende verübten Plünderungen und Vergewaltigungen durch die Rote Armee über den aus politischen Gründen zu Gefängis verurteilten Ben Trojanowicz (den Geliebten der Franziska Linkerhand) bis zu der hohen Selbstmordrate in Neustadt, deren Ursachen die Protagonistin auch in städtebaulichen Fehlentscheidungen sah, die die Menschen in ihren Wohnungen isolierten. Wie brisant diese Themen waren
III. Brigitte Reimann und die DDR-Schriftsteller
1. "Auch ihr Wesen ist dem meinen ganz entgegengesetzt." Die Freundschaft zu Christa Wolf
Die politische und ökonomische Instrumentalisierung der Intellektuellen durch die SED-Führung einerseits und das Beharren auf der eigenen künstlerischen Autonomie andererseits bezeichnen die beiden Pole eines Spektrums, das Schriftsteller wie Künstler immer wieder zu überbrücken versuchen mussten. Brigitte Reimann beobachtete und beschrieb diesen Prozess zunehmend eindringlicher, dabei den Blick auf sich selbst und andere gerichtet. Dass dabei ihre Tagebücher und ihr Briefwechsel als Medien der ungeschützten Verständigung und Selbstbestätigung im privaten Bereich verblieben, stimmt nur bedingt. Der Briefwechsel zwischen Brigitte Reimann und Christa Wolf ist zugleich eine vielseitige Reflexion von Lebenswirklichkeit, wie sie offiziell nicht erwünscht war.
Auch wenn der erste Brief schon vom November 1964 datierte, begann "diese enge Beziehung . . . eigentlich 1968"
Zudem ist der Briefwechsel nicht nur Spiegel eines Entfremdungs- und Desillusionierungsprozesses, der über die politische Seite hinaus auch die Abkehr von der Kunstdoktrin des Sozialistischen Realismus betraf. Nach ihrem Umzug von Hoyerswerda nach Neubrandenburg beschwerte sich Brigitte Reimann: "Was mich zuerst befremdet, manchmal verstimmt hat, ist das Getue, als ob ich zum zweitenmal den Bitterfelder Weg beschreite" (S. g., 14). Brigitte Reimanns Arbeit an ihrem Roman "Franziska Linkerhand", um dessen mühevolle Fortschreibung trotz ihrer Krebskrankheit es im Briefwechsel immer wieder ging, stand im Zeichen der Emanzipation vom Sozialistischen Realismus und war von der ständigen Verunsicherung geprägt, ihr Roman könnte wegen seiner tabuverletzenden Themen in der DDR nicht oder nur zensiert erscheinen. Wie existentiell dies nicht nur für Brigitte Reimann war, benannte Christa Wolf in Erinnerung an den fortgesetzten Gedankenaustausch über das Buch: "Und der Tenor der Gespräche war immer der: Was ist Wahrheit, was ist Wahrheit in der Literatur, wie weit gehen wir, in dem Falle wie weit geht sie, die Wahrheit wirklich auszusprechen, die sie weiß."
Während Brigitte Reimann die Mühseligkeit ihrer literarischen Arbeit thematisierte, berichtete Christa Wolf laufend von neuen Projekten, wozu u. a. die Filme "Fräulein Schmetterling", der im Umfeld des 11. Plenum des ZK der SED 1965 verboten wurde, und der Beginn ihres Romans "Kindheitsmuster" zählten. Zudem fundierte sie theoretisch ihre Absage an die herrschende Kunstdoktrin in ihrem Essay "Lesen und Schreiben", in dem sie ihre Konzeption der "Subjektiven Authentizität" darstellte, während Brigitte Reimann dies erst in ihrer Schreibpraxis entwickeln musste
Ihr Empfinden, trotz des geringen Altersunterschiedes von vier Jahren zwischen beiden Schriftstellerinnen nicht derselben Generation anzugehören (S. g., 98), verweist auf eine weitere Differenz. Die Gründe hierfür sind wohl jenseits der gegensätzlichen Lebenskonzeptionen in den biografischen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus zu suchen. Während Brigitte Reimann bei Kriegsende zwölf Jahre alt war und die gesamte Zeit in einer Kleinstadt bei Magdeburg erlebte, dürften sich Christa Wolfs Erfahrungen mit dem Dritten Reich und der anschließenden Flucht tiefer eingeprägt haben. Die literarische Verarbeitung dieser Zeit ist in Brigitte Reimanns Kindheitskapiteln ihres Romans "Franziska Linkerhand" und in Christa Wolfs "Kindheitsmuster" nachzulesen.
In ihrem Gedankenaustausch über die eigene Generation und deren politischen bzw. gesellschaftlichen Kontext konnten Christa Wolf und Brigitte Reimann Gemeinsamkeiten herstellen, deren Grundton allerdings resignativ war. Der Blick auf die nachfolgende Generation war von der Befürchtung geprägt, die eigene Lebens- und Arbeitsleistung bleibe von ihr unbemerkt und ungewürdigt (S. g., 24), was sich in dem Misstrauen ausdrückte, "ob sie überhaupt etwas Bedeutendes leisten könnte" (S. g., 98). In der eigenen Generation vermutete Christa Wolf alte, tief geprägte Denk- und Verhaltensmuster, deren Fortwirkung sich auch im eigenen wie im gesellschaftlichen Versagen in Erziehungsfragen manifestierte. Diese Überlegungen gipfelten in der Befürchtung, die eigene Generation hätte zu lange ihre sozialistischen Ideale und den Glauben, die DDR sei der bessere der beiden deutschen Staaten, mit sich herumgetragen (S. g., 98).
2. Zwischen der "großen Anna Seghers" und den "Literaturbrüdern"
Trotz der bereits beschriebenen Differenzen innerhalb der eigenen Generation begriffen sich Brigitte Reimann, Christa Wolf und andere als zusammengehörig, wenn es um die Mittelstellung zwischen älterer und jüngerer Schriftstellergeneration ging. Dass die um 1900 geborenen DDR-Schriftsteller, die sich nach dem Dritten Reich zumeist bewusst für den Aufbau des Sozialismus entschieden hatten, misstrauisch auf die nachfolgende Generation reagierten, erlebte Brigitte Reimann angesichts des V. Deutschen Schriftstellerkongresses im Mai 1961 besonders deutlich: "Wieviele Große sind in der Zeit seit dem letzten Kongreß gestorben! Thomas Mann, Bert Brecht, F. C. Weiskopf, Johannes R. Becher, Lion Feuchtwanger . . . Die Alten im Präsidium hatten Angst, das spürte man auch in Zweigs Worten; sie glauben, wenn sie gehen, stirbt die deutsche Literatur, sie erwarten nichts von den Jungen, ja, sie wollen nicht einmal wahrhaben, daß es Talente unter den Jungen gibt. Nur Anna Seghers schien zuversichtlich; ihr Appell an die Alten freilich, sich mit jungen Schriftstellern helfend zusammenzusetzen, wird wohl ungehört verhallen" (I. b. n., 186 f.). Allerdings begegnete Brigitte Reimann ihrerseits in der Person des Schriftstellers Gert Neumann der jüngeren Generation der DDR-Schriftsteller ebenso mit Vorbehalt.
Brigitte Reimanns Tagebuchaufzeichnungen und ihre Ausführungen in den Briefwechseln über die Schriftstellerszene der DDR geben vielfach atmosphärische Schilderungen und Charakterskizzen einzelner Akteure. Ihre Stärke liegt in der Unmittelbarkeit und der Position einer "Perspektive von unten" als Korrektiv zu offiziellen kulturpolitischen Verlautbarungen. Wichtige Bezugspunkte waren für Brigitte Reimann die Sitzungen und Kongresse des DDR-Schriftstellerverbandes, des Bezirksverbandes und angegliederter Veranstaltungen als Teil der offiziellen Kulturpolitik sowie das Heim des Schriftstellerverbandes im mecklenburgischen Petzow. Die Aufenthalte in Petzow erlebte sie als relativen Freiraum in Begegnungen mit Kollegen im Unterschied zu den offiziellen Veranstaltungen.
Ihr Verhältnis zu "der großen Anna Seghers" (I. b. n., 190), die Brigitte Reimann angesichts ihres Auftretens und ihrer Referate auf Schriftstellerkongressen wiederholt als eine vermittelnde Person beschrieb, war geprägt von fast kindlicher Bewunderung und respektvoller Distanz zugleich: ". . . ich glaube, ich würde einfach umfallen, wenn sie ein Wort an mich richtete" (I. b. n., 187). Brigitte Reimann rechnete es ihr hoch an, als sich Anna Seghers in schwierigen und kleinlichen Diskussionen um ihren Roman "Ankunft im Alltag" schützend vor sie stellte. Vermutlich ist ihr Empfinden von Unnahbarkeit zum einen mit der ikonenhaften Bedeutung, die Anna Seghers neben Bertolt Brecht und Arnold Zweig für die DDR-Literatur besaß, zu erklären. Daneben dürfte ein - freilich offiziell nicht existierender - allgemeiner Generationenkonflikt, der auf der Ansicht beruht, dass die Fragen und Probleme der einen Generation nicht die der anderen seien, diese Distanz erklären.
Mit großer menschlicher Sympathie und einem positiven Urteil über die literarische Qualität seiner Werke nahm Brigitte Reimann Johannes Bobrowski (Jahrgang 1917) aus der älteren DDR-Schriftstellergeneration wahr. Sie erhielt 1965 gemeinsam mit Bobrowski den Heinrich-Mann-Preis; dessen vielbeachteter Roman "Levins Mühle" gehörte für sie zu denen, "die die nächsten Jahre überdauern werden" (B. Hens., 50). Bobrowskis Unkonventionalität im Sprachstil und in der Erzählweise wiesen ihn nicht als einen Autor des Sozialistischen Realismus aus, vielmehr war er ein in der DDR und der Bundesrepublik gleichermaßen beachteter Schriftsteller. Obwohl Brigitte Reimann vielen der Älteren wiederholt ihre menschliche und literarische Anerkennung zollte, waren sie keine Vorbilder ihrer eigenen Arbeit; die fand sie in den französischen und russischen Realisten. Über die Qualität der zeitgenössischen DDR-Literatur und den Dogmatismus äußerte sie sich in den Tagebüchern immer wieder spöttisch und kritisch.
Die Spannungen zwischen junger und alter Schriftstellergeneration - vor allem bedingt durch deren politische Erfahrungen von Emigration, Widerstand und die frühen Aufbaujahre - gaben immer wieder Anlass für Diskussionen zwischen Brigitte Reimann und ihren gleichaltrigen Kollegen. Das Verhältnis unter ihnen selbst war direkter und unkomplizierter, was sich auch auf den Schriftstellerkongressen widerspiegelte: "Zwischendurch die berühmten, interessanteren Privatdiskussionen in den Wandelgängen. Reiner Kunze, Sakowski, Nachbar, Panitz, kurz die ganze junge Garde. Wir kennen uns ja alle und haben (trotz gelegentlicher kollegialer Bosheiten) eine Sympathie füreinander, die mir ein glückliches Zeichen von verändertem, sozialistischem, Bewußtsein zu sein scheint" (I. b. n., 187). Aber einem im Dienst dogmatischer Kulturpolitik stehenden Autor, einem menschlichen Kleingeist oder einem politischen Opportunisten konnte Brigitte Reimann strikt ihre Sympathie versagen. Das betraf beispielsweise die Autoren Günter Görlich und Max Zimmering.
Mit einigen Schriftstellern, von denen heute nicht mehr alle bekannt sind, verband Brigitte Reimann aus unterschiedlichen Gründen eine persönliche Freundschaft. Wolfgang Schreyer, ein zu DDR-Zeiten erfolgreicher Schriftsteller und Fernsehautor, lernte Brigitte Reimann zu Beginn ihrer beider schriftstellerischen Karriere in der Arbeitsgemeinschaft "Junge Autoren" in Magdeburg kennen. 1958 hatte er Brigitte Reimann darin bestärkt, sich als "Geheimer Informator (GI)" "Caterine" der Staatssicherheit
Das Nachdenken über die Kontinuität bzw. Diskontinuität der Werte und Ideale über die eigene Generation hinaus beschäftigte Brigitte Reimann in ihren Tagebüchern und im Briefwechsel mit Christa Wolf vor allem in der Person des Schriftstellers Gert Neumann (Jahrgang 1942) und seinen "Literaturbrüder(n)" (S. g., 80). Das Beispiel Neumanns, der 1969 aus der SED ausgeschlossen und am Leipziger Literaturinstitut exmatrikuliert wurde, später in der DDR Publikationsverbot hatte und nur in den inoffiziellen Literaturzeitschriften veröffentlichen konnte, mag zwar eine Extremposition darstellen, verdeutlicht aber zugleich Brigitte Reimanns Grenzen. Ihre Versuche, Neumann mit der Beschaffung eines Jobs wenigstens halbwegs in die DDR-Gesellschaft zu integrieren, scheiterten öfter an seiner grundsätzlichen Verweigerungshaltung. Hinsichtlich Neumanns literarischem Konzept einer "reinen Sprache" (S. g., 81) vermisste Brigitte Reimann das Engagement von Literatur, dem sie sonst - wenn es politisch verordnet wurde - durchaus skeptisch gegenüberstand. Hier zeichnete sich für sie ein Generationsbruch ab, mit ungewissem Ausgang: "Vielleicht sollten wir wirklich abtreten - aber nicht, um diesen Vertretern einer anderen Generation Platz zu machen" (S. g., 81).