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"Taumele zwischen Optimismus und Depression" | Literatur in der DDR | bpb.de

Literatur in der DDR Editorial Die SED und die Schriftsteller 1946 bis 1956 Franz Fühmann "Taumele zwischen Optimismus und Depression" Abschied vom Leseland?

"Taumele zwischen Optimismus und Depression" Zur Wahrnehmung der Schriftstellerin Brigitte Reimann

Christina Onnasch

/ 25 Minuten zu lesen

Als Ende der Neunzigerjahre Brigitte Reimanns Tagebücher erschienen, wurde die bis dahin im Westen eher unbekannte DDR-Schriftstellerin hier neu entdeckt. Im Osten hingegen war sie schon lange bekannt.

I. Brigitte Reimann zwischen Diktatur und Demokratie gelesen

Als Brigitte Reimann wenige Monate vor ihrem Tod im April 1972 an ihre Jugendfreundin Veralore Schwirtz schrieb: ". . . ,Ankunft im Alltag': später wurde von den Germanisten die ganze Literaturströmung jener Jahre danach benannt, und so geistere ich wenigstens als Vortruppler der ,Ankunftsliteratur' durch die Lexika . . ." , erfasste sie damit hellsichtig ihre spätere Stellung innerhalb der Literaturgeschichte. Dass sie über ihre 1961 erschienene Erzählung "Ankunft im Alltag" und die schlagwortgebende ,Ankunftsliteratur' hinaus bis in die Gegenwart allenfalls als Verfasserin des unvollendet gebliebenen Romanes "Franziska Linkerhand" erwähnt wird, scheinen die nach der Wende veröffentlichten Überblicksdarstellungen zur DDR-Literatur zu bestätigen. Die beiden Bände der Reimannschen Tagebücher , die in den Jahren 1997 und 1998 erschienen, eröffnen nun die Möglichkeit, diese Zuordnung zu revidieren.

Die im Literaturstreit von 1990 aufgeworfene Frage, was nach dem Untergang der DDR von deren Literatur übrig geblieben sei, zeigte, dass diese Beurteilung nicht ausschließlich ästhetischen Kriterien unterlag. Es ging "um den literarischen Text als politisches Exponat" und über die evidente Verknüpfung von Politik und Literatur hinaus auch um ethische Fragen. Das Diktum einiger Akteure dieses Streits lautete, durch die enge Verbindung der DDR-Schriftsteller mit der SED-Führung wären erstere moralisch diskreditiert, was die gesamte DDR-Literatur wertlos gemacht habe. Dem wurde mit dem Verweis auf Differenzierung zu Recht widersprochen. Die seit der Wende publizierte autobiografische Literatur von DDR-Schriftstellern wie Günter de Bruyn, Christoph Hein, Günter Kunert u. a. muss auch in diesem Zusammenhang gesehen werden; hier scheint ja gerade die subjektive Schilderung der pauschalen Verurteilung gegenüberzustehen.

Die Tagebücher Brigitte Reimanns haben den Vorzug, eine unter dem unmittelbaren Erlebniseindruck abgefasste Alltags- und Sozialgeschichte - die ihrer subjektiven Wahrnehmung - zu sein; sie erweitern zugleich die Quellenbasis, auf der die Bewertung der Rolle der DDR-Schriftsteller vorzunehmen ist. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Person und das Werk der Schriftstellerin im Westen weitgehend unbekannt blieben. Im Osten hingegen war Brigitte Reimann bereits eine bekannte und öffentlichkeitswirksam publizierte Autorin. Diese Differenz verweist nicht nur auf einen bis heute in beiden Teilen Deutschland unterschiedlichen Umgang mit Literatur, sondern auch auf unterschiedliche Mentalitäten sowie auf bestimmte Ursachen für Verständigungsschwierigkeiten im Einigungsprozess. Darüber hinaus offenbaren sich divergierende, jeweils gesellschaftlich sanktionierte Regeln in der Auseinandersetzung mit literarischen Texten.

Die offizielle Wahrnehmung von Person und Werk Brigitte Reimanns in der DDR geschah auf verschiedenen Ebenen, und zwar zum Teil gegenläufig. Ihre Texte waren zu keiner Zeit in den Lehrplänen für den Deutschunterricht an den Schulen enthalten, womit ihr Werk ganz offensichtlich vom Volksbildungsministerium als unvereinbar mit dem erklärten Schüler-Leitbild "allseits gebildeter sozialistischer Persönlichkeiten" erachtet wurde . Die Literaturkritik besprach Brigitte Reimanns Werke teils positiv, teils negativ; Letzteres gerade dann, wenn sie - wie etwa im Jahr 1961 - mit den Vorgaben der 1. Bitterfelder Konferenz 1959 in Konflikt geriet. Auch das zeigt, man kann nicht generalisierend behaupten, die Schriftsteller hätten sich der SED-Kulturpolitik und ihrer Doktrin des Sozialistischen Realismus zwangsläufig und bedingungslos untergeordnet. So gab es nicht wenige Auseinandersetzungen um die Erzählung "Ankunft im Alltag". Gleichzeitig gewann Brigitte Reimann in mehreren Reportagen, Porträts und Interviews zu ihrer Person seit Anfang der sechziger Jahre auch an kulturpolitischer Bedeutung. Hier nahm anfangs ihre Arbeit "an der Basis" im Braunkohletagebau in Hoyerswerda im Rahmen des "Bitterfelder Weges" einen breiten Raum ein; sie wurde zu einer engagierten und kritischen, dennoch den Aufbau des Sozialismus ausdrücklich bejahenden Schriftstellerin stilisiert.

Dagegen zeigen ausgeprägt individuelle Lektüreerlebnisse des in Brigitte Reimanns Werk eine besondere Stellung einnehmenden Romans "Franziska Linkerhand", wie die offizielle Wahrnehmung ihres literarischen Schaffens unterlaufen werden konnte. Die Figur der Franziska Linkerhand bot für viele Leser in der DDR eine Identifikationsmöglichkeit; die darin enthaltenen Provokationen wurden als eine Selbstbestätigung im Widerspruch zum DDR-System verortet; nicht umsonst erlangte der Roman nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1974 einen Kultstatus. Allerdings wurde das Buch von der damals jüngeren Generation kritischer aufgenommen, wie der Publizist Christoph Dieckmann (Jahrgang 1956), der erstmals 1977 den Roman las, sich erinnert: "Aber jede Generation beansprucht, bis zum Gegenbeweis, ihre eigene Hoffnung. Franziska Linkerhand erzählte die ihre in Figuren und Sujets, die mir zehn Jahre zu alt und also widerlegt erschienen. Franziska rang noch um eine sozialistische Moral. Ihr 77er Leser maß einheimische Kunst an einem anderen Wahrheitsbegriff: Sprach sie aus, wie sehr die DDR missraten war?"

Eine positive Identifikation war Dieckmann nicht mehr möglich, worin sich auch ein Generationenproblem offenbarte. Lektüre ist immer auch an einen autobiografischen Kontext geknüpft. Literatur oder Kunst im allgemeinen fungierte in der DDR als ein Erlebnis, "das die Denk- und Empfindungsweisen einer Generation entscheidend prägt(e)." Wirklichkeit und Fiktion wurden unmittelbar aufeinander bezogen. Ein so intensives Lektüreerlebnis in seiner Zustimmung und Ablehnung, wie es der Roman "Franziska Linkerhand" bei vielen Lesern in der DDR hervorrief, wurde in der Bundesrepublik nicht verstanden. Dort besprachen viele Literaturkritiker "Franziska Linkerhand" als "Roman, der 1974 vielen gestaltlos vorkam" ; Gabriele Wohmann kritisierte: "Merkwürdigerweise kommt bei mir, trotz aller Beredsamkeit des Textes, keine Identifikationsmöglichkeit, keine vertiefte Anteilnahme für die wahrhaftig nicht wortkarge Erzählperson zustande." Hier war also die Kritik am Buch in ästhetisch-formaler Hinsicht ausschlaggebend. Dies zeigt, die Art und Weise der Lektüre in der Bundesrepublik war insofern eine andere, als sie das Bezugssystem der Diktatur weniger beachtete, das wiederum den Lesern in der DDR ständig gegenwärtig war. Dies geschah in Kenntnis der Lebenswirklichkeit und dogmatischer SED-Kulturpolitik sowie mit einem Gespür für Unterwanderungsstrategien. Und noch ein Unterschied ist evident: Während in der DDR die eigene Biografie bei der Interpretation und Beurteilung eine wichtige Rolle spielte, besaß in der Bundesrepublik die Literaturkritik die Deutungshoheit. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen werfen u. a. die Frage nach ihrer Nutzbarmachung für die Wahrnehmung einer gesamtdeutschen Literatur auf.

Es erscheint zunächst erstaunlich, dass in den Jahren 1997 und 1998 nach der Veröffentlichung ihrer beiden Tagebuch-Bände diese in allen Feuilletons der überregionalen Zeitungen an herausgehobener Stelle rezensiert wurden. Brigitte Reimanns Tagebücher sowie ihr Briefwechsel mit Veralore Schwirtz, Christa Wolf und Hermann Henselmann haben heute offenbar deshalb eine so große Resonanz, weil die politischen Bedingungen ihres Zustandekommens nicht mehr existieren. Brigitte Reimanns Roman "Franziska Linkerhand" wurde in einer unzensierten Ausgabe neu aufgelegt; ihre frühen Erzählungen erlebten Neuauflagen . 1999 wurde eine Reimann-Biografie publiziert; es entstanden zwei Dokumentarfilme über die DDR-Schriftstellerin. In Neubrandenburg, dem letzten Wohnort der Autorin, wurde ein Brigitte-Reimann-Haus eröffnet, das ihren Nachlass beherbergt. Ob man diesen begonnenen Prozess als eine Reimann-Renaissance bezeichnen kann, in dessen Verlauf sie von einem "Objekt der DDR-Vergangenheit" zu einer gesamtdeutschen Autorin wird, muss sich zeigen.

Inwieweit beeinflusst diese Entwicklung die Rezeption der Tagebücher in den überregionalen Tageszeitungen, deren Umfang und herausgehobene Platzierung markant waren? Die Rezensenten waren überwiegend Westdeutsche; die Wahrnehmung von Person und Werk Brigitte Reimanns wurde von zwei Extrempositionen begrenzt: Volker Hage stilisierte im "Spiegel" Brigitte Reimann zu einer erotischen, gegen den DDR-Sozialismus protestierenden Rebellin, wobei seine Überschrift "Rebellisch aus Lebensgier" als Kernaussage gelten kann. Ihre Tagebücher las Hage als eine Art Abenteuerroman; sie seien "das spannende Dokument eines gelebten Liebesromans voller Pointen und wilder Verwicklungen - gefährliche Liebschaften im DDR-Sozialismus" . Damit vollzog Hage eine Stilisierung der Schriftstellerin unter umgekehrtem Vorzeichen: War sie für die SED-Führung eine glühende Sozialismus-Verfechterin, wurde sie nun zur männerbetörenden Widerstandskämpferin. Jürgen Serke hingegen bezeichnete Brigitte Reimann in der "Welt" als Schriftstellerin, die ihr Schreiben für ihren Glauben an den Sozialismus instrumentalisiert habe. Jeglichen literarischen Rang sprach er ihr ab: ". . . sie war keine Dichterin." ; politisch erscheine sie als "Ohnmächtige" . Ihr Glaube an den Sozialismus, ihre mangelnde moralische Integrität und eine unzureichende literarische Qualität ihres Werkes waren Vorwurf bzw. Argumente, die Serke miteinander verband; seine Kritik erinnerte an Argumentationsmuster aus dem Literaturstreit von 1990 .

Differenziertere, sich der Widersprüche der Brigitte Reimann annehmende Besprechungen fanden sich in der "Frankfurter Rundschau" und in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ). Hans Stempel widmete sich in der "Frankfurter Rundschau" der privaten und politischen Brigitte Reimann gleichermaßen: Ihre Tagebücher seien "Lebensroman und politisches Dokument zugleich" . Mark Siemons thematisierte in der FAZ als einziger auch die bisher kaum erfolgte Wahrnehmung Brigitte Reimanns in der westdeutschen Literaturkritik. Ihre Tagebücher zeigten "die DDR nicht als Konglomerat abstrakter Begriffe, sondern von innen her, aus der Perspektive einer Frau, die sich von Ideen nicht ihre Erlebensfähigkeit nehmen lässt" .

II. Brigitte Reimann in der DDR-Gesellschaft

1. Die sozialistische Stadt als Ideal

Die Vision von der sozialistischen Stadt fungierte für Brigitte Reimann als Zentrum von Konflikten und Erfahrungen auf verschiedenen Ebenen: erstens als eine neuartige Begegnung mit dem Sozialismus; zweitens als eine praktische Auseinandersetzung mit kulturpolitischen, städtebaulichen und soziologischen Fragen beim Aufbau der sozialistischen Stadt, in der sich ihre Ideale mit der Realität messen lassen mussten, und drittens als eine Konfrontation dieser Ideale mit der Wirklichkeit in der literarischen Verarbeitung durch ihren Roman "Franziska Linkerhand".

Brigitte Reimanns Reden und Schreiben über ihre Ideale - womit ihre sozialistischen Ideale gemeint sind - durchzieht ihre Tagebuchaufzeichnungen; sie waren bereits früh in ihrer Jugend angelegt. Ihre Wendung vom christlichen Glauben zu einer sozialistischen Idealvorstellung, die sie in ihrem Briefwechsel mit ihrer Jugendfreundin Veralore Schwirtz allerdings nicht weiter analysierte, ist dabei besonders augenfällig. Möglicherweise spielte neben der jugendlichen Suche nach positiven Identifikationsmöglichkeiten in der Nachkriegszeit - wie sie sie als vielbeschäftigte Funktionärin der Freien Deutschen Jugend (FDJ) an ihrer Schule fand - die Aussicht eine entscheidende Rolle, die christlichen, auf ein Jenseits gerichteten Vorstellungen von einem besseren Leben auf ein Diesseits im Sozialismus zu richten. Als Siebzehnjährige hatte sie ihre Vorstellung vom neuen Menschen noch sehr allgemein als "den Menschen mit bewusstem Leben, mit der Zielsicherheit aller seiner Handlungen" (A. w. s. e, 133) beschrieben. Später charakterisierte ihre Aufzeichnungen der im-mer wieder vollzogene Vergleich ihrer Ideale mit der Realität und die häufige Feststellung von deren Spaltung. Man mag Brigitte Reimanns Wahrnehmung der DDR als von politischer Naivität und Unzulänglichkeit behaftet ansehen; deren Stärke liegt aber zweifellos in der oftmals selbstironischen Kommentierung dieser auch in ihrer eigenen Persönlichkeit angelegten Widersprüchlichkeit: "Ach, ich Esel und albernster aller Dummköpfe mit meinem gemütvollen Sozialismus . . ." (I. b. n., 296).

Obwohl bei einer chronologischen Einordnung die 1. Bitterfelder Konferenz von 1959 - auf der die SED-Führung von den Schriftstellern forderte, die Trennung zwischen Kunst und Leben, Künstlern und Arbeitern aufzuheben und in die Betriebe zu gehen - in das unmittelbare zeitliche Umfeld von Brigitte Reimanns Umzug nach Hoyerswerda fiel, war dieser doch nicht direkt jenem kulturpolitischen Ereignis geschuldet. Vielmehr waren materielle und psychische Existenzsorgen ausschlaggebend für ihren Wohnortwechsel im Januar 1960 gewesen. Gleichwohl brachte Brigitte Reimann nach einer ersten Besichtigung die Stadt, die sie als "überwältigend, das Kombinat von einer Großartigkeit" (I. b. n., 120) beschrieb, mit den Intentionen der Bitterfelder Konferenz in einen Zusammenhang: "H. (Hoyerswerda; C. O.) und das Kombinat werden noch oft genug - falls dies literarisch überhaupt zu überwältigen ist - in Erzählungen oder sogar einem Roman auftauchen" (I. b. n. 120). Die Erzählungen "Ankunft im Alltag", "Die Geschwister", die Reportage "Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise" sowie mehrere zusammen mit ihrem Mann Siegfried Pitschmann verfasste Hörspiele belegen dies .

Die anfängliche Begeisterung für das "gewaltige Bauvorhaben" (I. b. n., 121) scheint aus einer hier wahrgenommenen Modernität des Sozialismus gespeist, die in Hoyerswerda ein Gesicht erhielt. Nicht umsonst wurde Hoyerwerda als die "zweite sozialitische Stadt" nach Eisenhüttenstadt bezeichnet. Der Ministerrat der DDR hatte am 23. Juni 1955 beschlossen, zum Abbau der Lausitzer Braunkohlevorkommen das Kombinat "Schwarze Pumpe" zu errichten und gleichzeitig eine Wohnstadt für das Braunkohleveredelungskombinat aufzubauen. Sie sollte in Großplattenbauweise entstehen und unmittelbar an Hoyerswerda grenzen; erstmals wurde eine Stadt unter den Bedingungen des industriellen Wohnungsbau errichtet . Im August 1955 wurde der Grundstein für das Kombinat "Schwarze Pumpe", zwei Jahre später der für die Neustadt von Hoyerswerda gelegt.

Dass dieser Glaube an die Aufbauleistung des Sozialismus bei Brigitte Reimann mit idealistischen Zügen verknüpft war, lässt sich an ihrer realen Konfrontation mit der "Neue(n) Welt" und dem "neuen Menschen" (S. g., 24) bei einer Reise im Oktober 1963 in die Sowjetunion als Mutterland des Sozialismus erkennen. Allerdings konnte die Realität bei der Besichtigung des Moskauer Stadtteils Tscherjomuschki, "der mich tief enttäuschte" (I. b. n., 347), nicht mehr den Idealen standhalten: "Ich hatte mir . . . ein strahlendes Bild zurechtgemacht. Natürlich wird viel gebaut, es wird auch schnell gebaut . . ., aber es sieht schlampig aus, viel trister als Hoyerswerda" (I. b. n., 347). Die Konfrontation mit dieser Art sozialistischem Städtebau wirkte zwar ernüchternd, widerlegte aber nicht ihr "Prinzip Hoffnung".

2. "Wir leben in einer Stadt aus dem Baukasten" - Bestandsaufnahme der Realität

Ihre Vision von der sozialistischen Stadt und deren Gesellschaft führte Brigitte Reimann zu der Frage nach deren praktischer Verwirklichung; damit begann zugleich ihre Auseinandersetzung mit politischen, städtebaulichen und soziologischen Fragen. Ein möglicher Ausgangspunkt für diesen Prozess ist in Brigitte Reimanns Ende 1962 im "Neuen Deutschland" veröffentlichten Artikel "Entdeckung einer schlichten Wahrheit" zu sehen, den sie ursprünglich als Bericht für das Zentralkomitee (ZK) der SED über ihre Erfahrungen als Schriftstellerin "an der Basis" in Hoyerswerda verfasst hatte. Obwohl im Einleitungstext zu diesem Artikel die Redaktion des "Neuen Deutschland" nicht den "Bitterfelder Weg" als offensichtlichen kulturpolitischen Bezugspunkt erwähnte, lassen sich dennoch Brigitte Reimanns Ausführungen als Kritik an dessen Forderungen begreifen. Sie schreibt u. a., dass ihr ein tiefer gehendes Eindringen in die Probleme der Arbeiter im Kombinat "Schwarze Pumpe" nicht möglich gewesen sei, womit sie indirekt das geforderte Zusammengehen von Arbeitern und Künstlern bezweifelte. Zum Heldentum der Arbeiter fragte sie enttäuscht: "Wie ist es möglich, dass Menschen, die im Betrieb Aktivisten und Neuerer sind, zu Haus die Filzlatschen anziehen und sich begnügen?" Den positiven Helden des "Bitterfelder Weges" sah sie zu Unrecht "oft als unfehlbare(n) Supermann verstanden" .

Dieser Artikel, in dem Brigitte Reimann "ein paar scharfe Angriffe gestartet" (I. b. n., 261) hatte, löste widersprüchliche Reaktionen innerhalb der SED-Führung aus: Von Ulbricht hoch gelobt - auch auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 ausgewertet -, wurde ihr Bericht zugleich zum Anlass genommen für Angriffe der SED-Führung auf Schriftsteller, die sich dem "Bitterfelder Weg" nicht unterordnen wollten. Angesichts dieser Ereignisse erachtete Brigitte Reimann ihren Artikel als "nicht kritisch und klug genug" (I. b. n., 267) und: "Trauriger Held: ich fühle mich gar nicht tapfer und beständig, taumele zwischen Optimismus und Depression" (I. b. n., 279).

Ihr Engagement löste eine Vereinnahmungswelle seitens der SED-Führung aus. Brigitte Reimann wurde u. a. dazu aufgefordert, der SED beizutreten und einen Beitrag zu Ulbrichts 70. Geburtstag zu schreiben, was sie ablehnte. Lediglich der damals neugegründeten Jugendkommission beim Politbüro trat sie bei. Brigitte Reimanns Fall kann als Beispiel dafür gelten, wie die SED zu diesem Zeitpunkt Kritik an ihrer Kulturpolitik aufnahm, sie bei gleichzeitiger Beibehaltung ihrer Linie aber instrumentalisierte und die Schriftsteller durch Einbindung in verschiedene Institutionen zu kontrollieren suchte.

Im August 1963 druckte die "Lausitzer Rundschau" die überarbeitete Fassung einer Rede Brigitte Reimanns, die sie einige Monate zuvor vor dem Präsidium des Nationalrates der Nationalen Front gehalten hatte, unter der Überschrift "Bemerkungen zu einer neuen Stadt" . Darin vollzog sie eine kritische Bestandsaufnahme der Neustadt Hoyerswerdas und beklagte dort einen "Mangel an Atmosphäre, an Intimität" (B. Hens., 20). Eine dem industriellen Plattenbau geschuldete Monotonie sah sie in dieser "Stadt aus dem Baukasten: eine schnurgerade Magistrale, schnurgerade Nebenstraßen, standardisierte Häuser, standardisierte Lokale . . ." (B. Hens., 20 f.). Zu diesem Zeitpunkt glaubte Brigitte Reimann noch an individuelle Einflussmöglichkeiten auf die städtebaulichen Konzepte. Sie ging davon aus, dass die Isolierung und Standardisierung durch den Bau von kulturellen Begegnungsstätten aufgehoben werden könne. Ihre Hoffnungen erwiesen sich als Illusionen, als sie feststellen musste, dass "in der Wohnsiedlung für das Kraftwerk Boxberg Häuser hingehauen (wurden), die fatal denen in Hoyerswerda (aus den Jahren 55 und 65) ähneln" (B. Hens., 86). Die Auseinandersetzungen um die Industrialisierung des Städtebaus einerseits und die Notwendigkeit einer architektonischen Vielfalt andererseits kennzeichnen die oft diskutierten Probleme, hinter denen die Frage nach der Realisierung der Vision einer sozialistischen Stadt stand. Dies beschäftigte Brigitte Reimann auch in ihrem Briefwechsel mit dem zeitweiligen Chefarchitekten Ost-Berlins und Mitgestalter der damaligen Stalinallee, Hermann Henselmann. Dabei ging es immer auch um die Rechtfertigung einer ideologisch geprägten Auffassung von Architektur, indem der neue Typus des Architekten im Sozialismus und der neue Bauherr, nämlich die Arbeiterklasse, thematisiert wurden.

Die Enttäuschung über ihr vergebliches Engagement für Hoyerswerda formulierte Brigitte Reimann 1968: "Herrgott, ich habe für diese Stadt gekämpft, damit es den Leuten Spaß macht, dort zu wohnen . . ., aber sie war ja eine Errungenschaft, eine Heilige Kuh, die man nicht am Schwanz ziehen durfte" (S. g., 14).

3. "Die kluge Synthese" - zur literarischen Verarbeitung

Die Protagonistin in Brigitte Reimanns Roman, die Architektin Franziska Linkerhand, suchte immer noch das, was für ihre Autorin in Hoyerswerda unerreicht blieb: "Es muß, es muß sie geben, die kluge Synthese zwischen Heute und Morgen, zwischen tristem Blockhaus und heiter lebendiger Straße, zwischen dem Notwendigen und dem Schönen, und ich bin ihr auf der Spur" (F. L., 410). Darüber hinaus ging es um Mitwirkungs- und Existenzmöglichkeiten in der sozialistischen Gesellschaft, an die Franziska Linkerhand noch glaubte, während dies bei Brigitte Reimann kaum noch der Fall war. Dieser Anachronismus war wohl auch der Tatsache geschuldet, dass sie an ihrem im November 1963 begonnenen Roman zehn Jahre lang bis zu ihrem Tod arbeitete, ohne ihn noch überarbeiten zu können.

Dass dieser Roman über eine bloße Alltagsgeschichte der sechziger Jahre hinausgehend eine Auseinandersetzung mit dem Sozialismus wurde, in dem Brigitte Reimann tabuverletzende Themen aus der Vergangenheit und Gegenwart der DDR verarbeitete, ist offensichtlich. Sie reichten von den nach Kriegsende verübten Plünderungen und Vergewaltigungen durch die Rote Armee über den aus politischen Gründen zu Gefängis verurteilten Ben Trojanowicz (den Geliebten der Franziska Linkerhand) bis zu der hohen Selbstmordrate in Neustadt, deren Ursachen die Protagonistin auch in städtebaulichen Fehlentscheidungen sah, die die Menschen in ihren Wohnungen isolierten. Wie brisant diese Themen waren , zeigten Brigitte Reimanns eigene Befürchtungen, der Roman könnte wegen seines Inhalts in der DDR nicht erscheinen: "Dieses Buch belastet mich mit Problemen, die nicht so sehr seinen Inhalt und seine Form betreffen; vielmehr eigene Haltung, Übereinstimmung (oder: Nicht-Übereinstimmung) von Leben und Wünschen; Korrektur eigenen Verhaltens auf Mauskriptseiten" (B. Hens., 58).

III. Brigitte Reimann und die DDR-Schriftsteller

1. "Auch ihr Wesen ist dem meinen ganz entgegengesetzt." Die Freundschaft zu Christa Wolf

Die politische und ökonomische Instrumentalisierung der Intellektuellen durch die SED-Führung einerseits und das Beharren auf der eigenen künstlerischen Autonomie andererseits bezeichnen die beiden Pole eines Spektrums, das Schriftsteller wie Künstler immer wieder zu überbrücken versuchen mussten. Brigitte Reimann beobachtete und beschrieb diesen Prozess zunehmend eindringlicher, dabei den Blick auf sich selbst und andere gerichtet. Dass dabei ihre Tagebücher und ihr Briefwechsel als Medien der ungeschützten Verständigung und Selbstbestätigung im privaten Bereich verblieben, stimmt nur bedingt. Der Briefwechsel zwischen Brigitte Reimann und Christa Wolf ist zugleich eine vielseitige Reflexion von Lebenswirklichkeit, wie sie offiziell nicht erwünscht war.

Auch wenn der erste Brief schon vom November 1964 datierte, begann "diese enge Beziehung . . . eigentlich 1968" und sie dauerte bis zu Brigitte Reimanns Tod 1973. Es war eine sich langsam entwickelnde Freundschaft; Jahre zuvor hatte Brigitte Reimann in ihrem Tagebuch Christa Wolf noch "meine beste Feindin" (I. b. n., 133) genannt. Trotz vieler Gemeinsamkeiten sind die Unterschiede beider Frauen auch jenseits zweier gegensätzlicher Lebenskonzepte - bei Christa Wolf die Bedeutung der Familie, bei Brigitte Reimann trotz ihrer vier Ehen die der Ungebundenheit - evident. Beide fanden ihre Themen in der Tagespolitik bzw. Kulturpolitik, der schriftstellerischen Arbeit und dem Privatleben. In den kritischen wechselseitigen Kommentaren zu kultur- und tagespolitischen Geschehnissen, unter denen die Sitzungen des Schriftstellerverbandes am häufigsten thematisiert wurden, wussten sich die Briefpartnerinnen in bestärkender Übereinstimmung. Diese Kommentare fielen knapp, aber eindeutig aus; es ist anzunehmen, dass dies der befürchteten Briefzensur wegen geschah und der Austausch mündlich fortgesetzt wurde: "Es gäbe zu dem letzten, kulturpolitischen Teil Deines Briefes einiges zu sagen (aber eben nur zu sagen)" (S. g., 132). Diese Zurückhaltung galt weniger für die Enttäuschung, mit der Christa Wolf die Zensurpraktiken um ihr Buch "Nachdenken über Christa T." erlebte, an dem Brigitte Reimann großen Anteil auch im Namen des Lesepublikums nahm: ". . . ich wünschte, Du denkst öfter an die Bewundernden und die Verlässlichen und an die, die Dir zuhören und auf Dein Buch warten, weil sie auf Antworten (oder sollte ich besser sagen: auf Fragen?) warten . . ." (S. g., 27).

Zudem ist der Briefwechsel nicht nur Spiegel eines Entfremdungs- und Desillusionierungsprozesses, der über die politische Seite hinaus auch die Abkehr von der Kunstdoktrin des Sozialistischen Realismus betraf. Nach ihrem Umzug von Hoyerswerda nach Neubrandenburg beschwerte sich Brigitte Reimann: "Was mich zuerst befremdet, manchmal verstimmt hat, ist das Getue, als ob ich zum zweitenmal den Bitterfelder Weg beschreite" (S. g., 14). Brigitte Reimanns Arbeit an ihrem Roman "Franziska Linkerhand", um dessen mühevolle Fortschreibung trotz ihrer Krebskrankheit es im Briefwechsel immer wieder ging, stand im Zeichen der Emanzipation vom Sozialistischen Realismus und war von der ständigen Verunsicherung geprägt, ihr Roman könnte wegen seiner tabuverletzenden Themen in der DDR nicht oder nur zensiert erscheinen. Wie existentiell dies nicht nur für Brigitte Reimann war, benannte Christa Wolf in Erinnerung an den fortgesetzten Gedankenaustausch über das Buch: "Und der Tenor der Gespräche war immer der: Was ist Wahrheit, was ist Wahrheit in der Literatur, wie weit gehen wir, in dem Falle wie weit geht sie, die Wahrheit wirklich auszusprechen, die sie weiß."

Während Brigitte Reimann die Mühseligkeit ihrer literarischen Arbeit thematisierte, berichtete Christa Wolf laufend von neuen Projekten, wozu u. a. die Filme "Fräulein Schmetterling", der im Umfeld des 11. Plenum des ZK der SED 1965 verboten wurde, und der Beginn ihres Romans "Kindheitsmuster" zählten. Zudem fundierte sie theoretisch ihre Absage an die herrschende Kunstdoktrin in ihrem Essay "Lesen und Schreiben", in dem sie ihre Konzeption der "Subjektiven Authentizität" darstellte, während Brigitte Reimann dies erst in ihrer Schreibpraxis entwickeln musste . Nicht zuletzt war auch dieses Ungleichgewicht in der literarischen Arbeit ein Grund für Brigitte Reimanns Minderwertigkeitskomplexe gegenüber der "beneidete(n), bewunderte(n) Christa" (A. s. n. A., 222).

Ihr Empfinden, trotz des geringen Altersunterschiedes von vier Jahren zwischen beiden Schriftstellerinnen nicht derselben Generation anzugehören (S. g., 98), verweist auf eine weitere Differenz. Die Gründe hierfür sind wohl jenseits der gegensätzlichen Lebenskonzeptionen in den biografischen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus zu suchen. Während Brigitte Reimann bei Kriegsende zwölf Jahre alt war und die gesamte Zeit in einer Kleinstadt bei Magdeburg erlebte, dürften sich Christa Wolfs Erfahrungen mit dem Dritten Reich und der anschließenden Flucht tiefer eingeprägt haben. Die literarische Verarbeitung dieser Zeit ist in Brigitte Reimanns Kindheitskapiteln ihres Romans "Franziska Linkerhand" und in Christa Wolfs "Kindheitsmuster" nachzulesen.

In ihrem Gedankenaustausch über die eigene Generation und deren politischen bzw. gesellschaftlichen Kontext konnten Christa Wolf und Brigitte Reimann Gemeinsamkeiten herstellen, deren Grundton allerdings resignativ war. Der Blick auf die nachfolgende Generation war von der Befürchtung geprägt, die eigene Lebens- und Arbeitsleistung bleibe von ihr unbemerkt und ungewürdigt (S. g., 24), was sich in dem Misstrauen ausdrückte, "ob sie überhaupt etwas Bedeutendes leisten könnte" (S. g., 98). In der eigenen Generation vermutete Christa Wolf alte, tief geprägte Denk- und Verhaltensmuster, deren Fortwirkung sich auch im eigenen wie im gesellschaftlichen Versagen in Erziehungsfragen manifestierte. Diese Überlegungen gipfelten in der Befürchtung, die eigene Generation hätte zu lange ihre sozialistischen Ideale und den Glauben, die DDR sei der bessere der beiden deutschen Staaten, mit sich herumgetragen (S. g., 98).

2. Zwischen der "großen Anna Seghers" und den "Literaturbrüdern"

Trotz der bereits beschriebenen Differenzen innerhalb der eigenen Generation begriffen sich Brigitte Reimann, Christa Wolf und andere als zusammengehörig, wenn es um die Mittelstellung zwischen älterer und jüngerer Schriftstellergeneration ging. Dass die um 1900 geborenen DDR-Schriftsteller, die sich nach dem Dritten Reich zumeist bewusst für den Aufbau des Sozialismus entschieden hatten, misstrauisch auf die nachfolgende Generation reagierten, erlebte Brigitte Reimann angesichts des V. Deutschen Schriftstellerkongresses im Mai 1961 besonders deutlich: "Wieviele Große sind in der Zeit seit dem letzten Kongreß gestorben! Thomas Mann, Bert Brecht, F. C. Weiskopf, Johannes R. Becher, Lion Feuchtwanger . . . Die Alten im Präsidium hatten Angst, das spürte man auch in Zweigs Worten; sie glauben, wenn sie gehen, stirbt die deutsche Literatur, sie erwarten nichts von den Jungen, ja, sie wollen nicht einmal wahrhaben, daß es Talente unter den Jungen gibt. Nur Anna Seghers schien zuversichtlich; ihr Appell an die Alten freilich, sich mit jungen Schriftstellern helfend zusammenzusetzen, wird wohl ungehört verhallen" (I. b. n., 186 f.). Allerdings begegnete Brigitte Reimann ihrerseits in der Person des Schriftstellers Gert Neumann der jüngeren Generation der DDR-Schriftsteller ebenso mit Vorbehalt.

Brigitte Reimanns Tagebuchaufzeichnungen und ihre Ausführungen in den Briefwechseln über die Schriftstellerszene der DDR geben vielfach atmosphärische Schilderungen und Charakterskizzen einzelner Akteure. Ihre Stärke liegt in der Unmittelbarkeit und der Position einer "Perspektive von unten" als Korrektiv zu offiziellen kulturpolitischen Verlautbarungen. Wichtige Bezugspunkte waren für Brigitte Reimann die Sitzungen und Kongresse des DDR-Schriftstellerverbandes, des Bezirksverbandes und angegliederter Veranstaltungen als Teil der offiziellen Kulturpolitik sowie das Heim des Schriftstellerverbandes im mecklenburgischen Petzow. Die Aufenthalte in Petzow erlebte sie als relativen Freiraum in Begegnungen mit Kollegen im Unterschied zu den offiziellen Veranstaltungen.

Ihr Verhältnis zu "der großen Anna Seghers" (I. b. n., 190), die Brigitte Reimann angesichts ihres Auftretens und ihrer Referate auf Schriftstellerkongressen wiederholt als eine vermittelnde Person beschrieb, war geprägt von fast kindlicher Bewunderung und respektvoller Distanz zugleich: ". . . ich glaube, ich würde einfach umfallen, wenn sie ein Wort an mich richtete" (I. b. n., 187). Brigitte Reimann rechnete es ihr hoch an, als sich Anna Seghers in schwierigen und kleinlichen Diskussionen um ihren Roman "Ankunft im Alltag" schützend vor sie stellte. Vermutlich ist ihr Empfinden von Unnahbarkeit zum einen mit der ikonenhaften Bedeutung, die Anna Seghers neben Bertolt Brecht und Arnold Zweig für die DDR-Literatur besaß, zu erklären. Daneben dürfte ein - freilich offiziell nicht existierender - allgemeiner Generationenkonflikt, der auf der Ansicht beruht, dass die Fragen und Probleme der einen Generation nicht die der anderen seien, diese Distanz erklären.

Mit großer menschlicher Sympathie und einem positiven Urteil über die literarische Qualität seiner Werke nahm Brigitte Reimann Johannes Bobrowski (Jahrgang 1917) aus der älteren DDR-Schriftstellergeneration wahr. Sie erhielt 1965 gemeinsam mit Bobrowski den Heinrich-Mann-Preis; dessen vielbeachteter Roman "Levins Mühle" gehörte für sie zu denen, "die die nächsten Jahre überdauern werden" (B. Hens., 50). Bobrowskis Unkonventionalität im Sprachstil und in der Erzählweise wiesen ihn nicht als einen Autor des Sozialistischen Realismus aus, vielmehr war er ein in der DDR und der Bundesrepublik gleichermaßen beachteter Schriftsteller. Obwohl Brigitte Reimann vielen der Älteren wiederholt ihre menschliche und literarische Anerkennung zollte, waren sie keine Vorbilder ihrer eigenen Arbeit; die fand sie in den französischen und russischen Realisten. Über die Qualität der zeitgenössischen DDR-Literatur und den Dogmatismus äußerte sie sich in den Tagebüchern immer wieder spöttisch und kritisch.

Die Spannungen zwischen junger und alter Schriftstellergeneration - vor allem bedingt durch deren politische Erfahrungen von Emigration, Widerstand und die frühen Aufbaujahre - gaben immer wieder Anlass für Diskussionen zwischen Brigitte Reimann und ihren gleichaltrigen Kollegen. Das Verhältnis unter ihnen selbst war direkter und unkomplizierter, was sich auch auf den Schriftstellerkongressen widerspiegelte: "Zwischendurch die berühmten, interessanteren Privatdiskussionen in den Wandelgängen. Reiner Kunze, Sakowski, Nachbar, Panitz, kurz die ganze junge Garde. Wir kennen uns ja alle und haben (trotz gelegentlicher kollegialer Bosheiten) eine Sympathie füreinander, die mir ein glückliches Zeichen von verändertem, sozialistischem, Bewußtsein zu sein scheint" (I. b. n., 187). Aber einem im Dienst dogmatischer Kulturpolitik stehenden Autor, einem menschlichen Kleingeist oder einem politischen Opportunisten konnte Brigitte Reimann strikt ihre Sympathie versagen. Das betraf beispielsweise die Autoren Günter Görlich und Max Zimmering.

Mit einigen Schriftstellern, von denen heute nicht mehr alle bekannt sind, verband Brigitte Reimann aus unterschiedlichen Gründen eine persönliche Freundschaft. Wolfgang Schreyer, ein zu DDR-Zeiten erfolgreicher Schriftsteller und Fernsehautor, lernte Brigitte Reimann zu Beginn ihrer beider schriftstellerischen Karriere in der Arbeitsgemeinschaft "Junge Autoren" in Magdeburg kennen. 1958 hatte er Brigitte Reimann darin bestärkt, sich als "Geheimer Informator (GI)" "Caterine" der Staatssicherheit vor dem Bezirksverband des Schriftstellerverbandes zu dekonspirieren, nachdem sie 1957 aufgrund einer Straftat ihres damaligen Mannes unter Druck gesetzt und zur Mitarbeit aufgefordert worden war, zu der sie aber keine vorbehaltlose Zustimmung gegeben hatte. Wolfgang Schreyer sah in diesem Ereignis zu Recht keinen Einzelfall, sondern eine grundsätzliche Frage nach der Verbindung von Intellektuellen mit der SED-Macht, war dies doch "ein wichtiger Punkt, der auch auf meine Arbeit abgefärbt hat" . Brigitte Reimanns Informanten-Verhältnis war nicht nur die Geschichte eines Sicheinlassens mit der Macht, sondern auch eine der Verweigerung. In dem Lyriker Reiner Kunze, den Brigitte Reimann auch in der Arbeitsgemeinschaft "Junge Autoren" kennenlernte, kann man das Beispiel eines DDR-Intellektuellen sehen, der sich immer weiter von der Macht entfernte. Während er für Brigitte Reimann zunächst "ein dogmatisch strenger Genosse, kalt und trocken" (I. b. n., 265) war, sprach er 1959 nach seiner politisch motivierten Entlassung aus dem Universitätsdienst und 1968 nach der Rückgabe seines SED-Parteibuches im Zusammenhang mit dem Prager Frühling "alles aus über unsere unselige Vergangenheit, was endlich ausgesprochen werden muss . . ." (I. b. n., 265). Brigitte Reimann verarbeitete Reiner Kunzes politischen Prozess neben dem Erich Loests in der Figur des Ben Trojanowicz, des Geliebten der Franziska Linkerhand.

Das Nachdenken über die Kontinuität bzw. Diskontinuität der Werte und Ideale über die eigene Generation hinaus beschäftigte Brigitte Reimann in ihren Tagebüchern und im Briefwechsel mit Christa Wolf vor allem in der Person des Schriftstellers Gert Neumann (Jahrgang 1942) und seinen "Literaturbrüder(n)" (S. g., 80). Das Beispiel Neumanns, der 1969 aus der SED ausgeschlossen und am Leipziger Literaturinstitut exmatrikuliert wurde, später in der DDR Publikationsverbot hatte und nur in den inoffiziellen Literaturzeitschriften veröffentlichen konnte, mag zwar eine Extremposition darstellen, verdeutlicht aber zugleich Brigitte Reimanns Grenzen. Ihre Versuche, Neumann mit der Beschaffung eines Jobs wenigstens halbwegs in die DDR-Gesellschaft zu integrieren, scheiterten öfter an seiner grundsätzlichen Verweigerungshaltung. Hinsichtlich Neumanns literarischem Konzept einer "reinen Sprache" (S. g., 81) vermisste Brigitte Reimann das Engagement von Literatur, dem sie sonst - wenn es politisch verordnet wurde - durchaus skeptisch gegenüberstand. Hier zeichnete sich für sie ein Generationsbruch ab, mit ungewissem Ausgang: "Vielleicht sollten wir wirklich abtreten - aber nicht, um diesen Vertretern einer anderen Generation Platz zu machen" (S. g., 81).

Fussnoten

Fußnoten

  1. Brigitte Reimann, "Aber wir schaffen es, verlass Dich drauf!" Briefe an eine Freundin im Westen, hrsg. von Ingrid Krüger, Berlin 1999, S. 177. Dieser Briefwechsel wird im folgenden mit der Abkürzung "A. w. s. e." ("Aber wir schaffen es") zitiert.

  2. Zu DDR-Zeiten war bereits eine stark gekürzte und ausgewählte Fassung erschienen: Elisabeth Elten-Krause/Walter Lewerenz (Hrsg.), Brigitte Reimann in ihren Briefen und Tagebüchern. Eine Auswahl, Berlin (Ost) 1983.

  3. Brigitte Reimann, "Ich bedaure nichts." Tagebücher 1955-1963, hrsg. von Angela Drescher, Berlin 1977. Dieses Werk wird im Folgenden mit der Abkürzung "I. b. n." ("Ich bedaure nichts") zitiert.

  4. Brigitte Reimann, "Alles schmeckt nach Abschied." Tagebücher 1964-1970, hrsg. von Angela Drescher, Berlin 1998². Dieses Werk wird im Folgenden mit der Abkürzung "A. s. n.A." ("Alles schmeckt nach Abschied") zitiert.

  5. Frauke Meyer-Gosau, Modernisierung, Generationswechsel, Erleichterung. Zehn Jahre Literatur und literarische Debatten seit der Wende, in: Heinrich-Böll-Stiftung/Lothar Probst (Hrsg.), Differenz in der Einheit. Über die kulturellen Unterschiede der Deutschen in Ost und West, Berlin 1999, S. 199.

  6. Vgl. Günther Rüther, Nur "ein Tanz in Ketten"? DDR-Literatur zwischen Vereinnahmung und Selbstbehauptung, in: ders. (Hrsg.), Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus, Paderborn u. a. 1997, S. 255 ff.

  7. Christoph Dieckmann, Franziska Rediviva, in: Die Zeit vom 8. Oktober 1998 (Literaturbeilage), S. 7. Auch nach der Lektüre der ungekürzten Roman-Ausgabe von 1998 sah Dieckmann kaum Veränderungen in seiner generationsspezifischen Rezeption.

  8. Uwe Grüning, Deutschland - Deutschland. Politische Wirklichkeit und dichterische Gegenwelt, in: Gerd Langguth (Hrsg.), Autor, Macht, Staat, Literatur und Politik in Deutschland, Düsseldorf 1994.

  9. Beatrice von Matt, Gelebt und gelebt und gelebt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. April 1984 (Literaturbeilage), S. 2.

  10. Gabriele Wohmann, Eine Lanze für das Leben, in: Die Welt vom 10. Oktober 1974 (Beilage "Welt des Buches"). S. VII.

  11. Brigitte Reimann, Franziska Linkerhand. Roman, Berlin 1998. Dieses Werk wird im Folgenden mit der Abkürzung "F. L." zitiert. Darin gibt das Nachwort von Withold Bonner genaue Auskunft über die in der Ausgabe von 1974 vorgenommenen Kürzungen und Streichungen.

  12. Das gilt für: Die Geschwister, Berlin 1998, und Ankunft im Alltag, Berlin 1999.

  13. Vgl. Margret Gottlieb, ". . . als wär jeder Tag der letzte". Brigitte Reimann, München 1999. Bereits fünf Jahre zuvor war die romanartige Biografie von Barbara Krause, Gefesselte Rebellin. Brigitte Reimann, Berlin 1994, erschienen.

  14. Heide Hampel/Jürgen Tremper, Ankunft und Abschied. Die Neubrandenburger Jahre der Brigitte Reimann, 1998, und Ulrich Kasten, "Ich liebe, mein Gott, ich liebe". Das kurze Leben der Brigitte Reimann, 1999.

  15. Sven Bernitt, "Rebellisch aus Lebensgier"?, in: Margrid Bircken/Heide Hampel (Hrsg.), Als habe ich zwei Leben. Beiträge zu einer wissenschaftlichen Konferenz über Leben und Werk der Schriftstellerin Brigitte Reimann, Neubrandenburg 1998, S. 174.

  16. Volker Hage, Rebellisch aus Lebensgier, in: Der Spiegel, Nr. 17 vom 20. April 1998, S. 218.

  17. Jürgen Serke, "Ich bin so gierig auf Leben", in: Die Welt vom 17. Juni 1998, S. 10.

  18. Ebd.

  19. Vgl. Jürgen Serke, Was bleibt, das ist die Scham, in: Die Welt vom 23. Juni 1990, S. 17.

  20. Hans Stempel, Das Gewissen - ein Luxus, in: Frankfurter Rundschau vom 4. Juli 1998 (Beilage "Zeit und Bild"), S. 4.

  21. Mark Siemons, Blues des Ostens, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Mai 1998 (Beilage "Bilder und Zeiten"), S. V.

  22. Vgl. B. Reimann (Anm. 1).

  23. Vgl. dazu Günther Rüther, "Greif zur Feder, Kumpel". Schriftsteller, Literatur und Politik in der DDR 1949-1990, Düsseldorf 1992², S. 95 ff., und Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR 1946-1990, Köln 1994, S. 87 ff.

  24. Daneben arbeitete Brigitte Reimann einmal wöchentlich in einer Brigade des Kombinats "Schwarze Pumpe" und übernahm zusammen mit Siegfried Pitschmann den Aufbau und die Leitung des dortigen Zirkels "Schreibender Arbeiter".

  25. Weitere Ausführungen zum Aufbau des Kombinats "Schwarze Pumpe" und der Neustadt von Hoyerswerda in: Anett Schweitzer, "Die Lektion der Brigitte Reimann", in: Margrid Bircken/Heide Hampel (Hrsg.), Als habe ich zwei Leben. Beiträge zu einer wissenschaftlichen Konferenz über Leben und Werk der Schriftstellerin Brigitte Reimann, Neubrandenburg 1998, S. 136.

  26. Brigitte Reimann/Hermann Henselmann, Briefwechsel, hrsg. von Ingrid Kirschey-Feix, Berlin 1994, S. 37. Dieser Briefwechsel wird im folgenden mit der Abkürzung "B. Hens." ("Briefwechsel Henselmann") zitiert.

  27. Angela Drescher (Hrsg.), Brigitte Reimann, Christa Wolf. Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973, Berlin 1993, S. 24. Dieses Werk wird im Folgenden mit der Abkürzung "S. g." ("Sei gegrüßt") zitiert.

  28. Brigitte Reimann, Entdeckung einer schlichten Wahrheit, in: Neues Deutschland vom 8. Dezember 1962 (Beilage "Die gebildete Nation"), S. 1 f.

  29. Ebd.

  30. Ebd.

  31. Vgl. A. Schweitzer (Anm. 25), S. 133.

  32. Dieser am 17. August 1963 in der "Lausitzer Rundschau" erschienene Artikel ist abgedruckt in: B. Reimann/H. Henselmann (Anm. 26), S. 20 ff.

  33. W. Bonner (Anm. 11) verweist auf die Umformulierungen, Kürzungen und Auslassungen in der Roman-Ausgabe von 1974, die er als größtenteils politisch motiviert betrachtet. Dass Brigitte Reimann kein explizit positives Romanende, bei dem die Protagonistin einen Kompromiss zwischen Utopie und Realität vollzieht, im Sinne hatte, weist Bonner (S. 624 ff.) darin ebenso nach.

  34. Das vollständige Interview, das Heide Hampel und Jürgen Tremper für ihren Film (Anm. 14) mit Christa Wolf über ihre Freundschaft zu Brigitte Reimann führten, ist abgedruckt in: Heide Hampel (Hrsg.), Federlese. Wer schrieb Franziska Linkerhand? Brigitte Reimann 1933-1973. Fragen zu Person und Werk, Neubrandenburg 1998, S. 17 ff.

  35. Ebd., S. 19.

  36. Vgl. Karin McPherson, "Kann man sich denn auf irgendeinen Briefpartner verlassen"?. Brigitte Reimann/Christa Wolf. Eine Freundschaft in Briefen, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, (1997) 3, S. 552.

  37. Vgl. Joachim Walther, Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1996, S. 715 f.

  38. Das vollständige Interview, das Heide Hampel und Jürgen Tremper für ihren Film (Anm. 14) mit Wolfgang Schreyer führten, ist abgedruckt in: H. Hampel (Anm. 34), S. 28 ff.

geb. 1972; Studium der Neueren Deutschen Literatur, Geschichte und Politikwissenschaft in Berlin.

Anschrift: Pappelallee 72, 10437 Berlin.

Veröffentlichung: Der Einfluss von Frauen in politischen Führungspositionen der DDR. Das Beispiel Inge Lange, in: Deutschland Archiv, 32 (1999) 3.