Einleitung
Franz Fühmanns Lebensweg ist gekennzeichnet von großen Hoffnungen, schweren Enttäuschungen und bitteren Krisen. Dem Betrachter eröffnen sich Gegensätze radikaler und tief greifender als bei vielen seiner Zeitgenossen, die wie er in den zwanziger Jahren geboren werden, in die Fänge des Nationalsozialismus, später des Kommunismus geraten und ihre Prägungen durch die beiden deutschen Diktaturen in unserem Jahrhundert erfahren. Wandlungen erschüttern sein Leben. Sie sind Ausdruck der totalitären Versuchungen dieses Jahrhunderts. Wandlung kennzeichnet gleichermaßen seine weltanschauliche Haltung. Dazu zählen sein Ausbruch aus vertrauten Milieus, seine zunächst tiefe religiöse Bindung an den christlichen Glauben, seine Kehrtwendung zu einem radikalen Atheismus, dann ein in der Endphase seines Lebens sich erneut zeigendes wachsendes Interesse an religiösen Motiven und Stoffen, das einer Suche nach Gott gleichkommt.
Wandlung - plötzliche Wendung oder stete Entwicklung?
Einen Dichter zu verstehen heißt auch, einen Menschen und das, was ihn bewegt, verstehen zu lernen. Der Dichter ist "nicht nur ein Mund"
Franz Fühmann verweist auf eine Aussage von Charles Baudelaire, die für sein Verlangen, Georg Trakl zu verstehen, von großer Bedeutung ist: "Um die Seele eines Dichters zu durchschauen, muss man in seinem Werk diejenigen Worte aufsuchen, die am häufigsten vorkommen. Das Wort verrät, wovon er besessen ist."
Wie lautet nun das Schlüsselwort in Fühmanns Werk - das Wort, von dem er besessen ist, das ihn umtreibt, das ihn ruhelos macht? Es heißt "Wandlung". In diesem Wort drückt sich nicht nur Fühmanns Lebenserfahrung aus, sondern es dient ihm auch als Leitfaden zur Erforschung seines Weges von der Kindheit bis ins hohe Alter. Wandlung ist der Übergang des Menschen von einem Wertesystem in ein anderes. Sie kann eine plötzliche Wendung beschreiben, aber auch einen langanhaltenden Prozess, der sich über Jahre erstreckt. Mit dem Prozess der Wandlung kann eine Durchdringung des alten Wertesystems einhergehen, ein kritisches Nachfragen und Reflektieren. Wandlung kann aber auch bedeuten, dass ein altes Wertesystem einfach durch ein neues ersetzt wird. Dabei bleibt offen, ob das neue Wertesystem tatsächlich zu einer neuen Dimension des Humanen, zu einer neuen Form des Offenseins vorstößt oder ob sich in dieser Wandlung nur eine Wendung vollzieht, durch die eine totalitäre Ideologie durch eine andere ersetzt wird. Wandlung bedeutet für Fühmann einerseits den Gewinn einer neuen Erkenntnis, eine Umdeutung zentraler Begriffe, andererseits ist sie Ausdruck von Verzweiflung und Ratlosigkeit, die mit fortschreitendem Alter zu einer Erkenntnis des Scheiterns, einer späten Suche nach dem Weg in die Freiheit führen.
"Wandlung" ist also ein schillernder Begriff, und so fragt Fühmann danach, was es denn überhaupt heißt; "ein Mensch verändert, verwandelt sich?"
Im "Judenauto"
Die in den Erzählungen herausgestellten autobiographischen Bezüge erscheinen konstruiert, es fehlt ihnen das Poetische. Sie gleichen Schablonen. Kindheit und Jugend werden durch die Brille des sozialistischen Realismus gedeutet. So bleibt die Mitte seiner frühen Jahre weitgehend "ein weißer Fleck, Leere, verwundete Stille"
Demgegenüber wird Fühmanns Schritt vom durch den Krieg erschütterten Nationalsozialisten zum überzeugten Kommunisten literarisch vielfach gestaltet und findet sich in seinen frühen Werken ebenso thematisiert wie in seinen späten. Dabei zeigen die Texte deutlich, welche Entwicklung Fühmann nimmt. Für seinen Wandel vom Nationalsozialisten zum Kommunisten macht er im Antifa-Lager Noginsk bei Moskau in den Jahren 1946 bis 1949 rückblickend wesentlich vier Erschütterungen geltend:
- die Kriegsniederlage und den damit einhergehenden Identitätsverlust;
- die Entlarvung der Goebbels-Propaganda gegenüber der Sowjetunion, welche die dort lebenden Menschen als Untermenschen und Barbaren gebrandmarkt hatte;
- die Wahrheit über Auschwitz und die Verbrechen des Nationalsozialismus;
- die Begegnung mit dem Marxismus-Leninismus und die Überwindung der geistigen Leere durch das Studium des dialektischen Materialismus
Bemerkenswert ist, dass Fühmann im Antifa-Lager an seinem vom Nationalsozialismus geprägten dualistischen Weltbild festhält, in dem es nur Sieger oder Besiegte, schwarz oder weiß, gut oder böse gibt. Die alten Begriffe erstrahlen in neuem Glanz: "Volk, Vaterland, Zukunft, Sinn des Lebens, Gemeinnutz, Opfermut, Glauben, Einsatz, Kampf, Hingabe" - und auch der Begriff des Helden, wie er im "Sturz des Engels" kritisch zurückblickend feststellt
Fühmann vollzieht eine Umwertung der Werte innerhalb seines dualistischen Weltbildes. In der schuldbewussten, kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit vermeidet er jeden Zweifel gegenüber der neuen Weltanschauung. Sie eröffnet ihm eine neue Lebensperspektive und bietet ihm Halt auf dem Weg aus der Vergangenheit, indem sie ihm neue Gewissheiten in Gestalt des Klassenstandpunktes vermittelt. Im "Judenauto" bekennt er, dass ihm das Studium des Marxismus-Leninismus half, sich seines Lebens bewusster zu werden, und die Kriegsgefangenschaft seinem Leben neuen Sinn gab
Fühmanns Wandlung vom Nationalsozialisten zum Stalinisten gleicht damit einem Film, in dem das Negativ zum Positiv entwickelt wird. Ein Beleg dafür ist ein Vergleich seiner frühen nationalsozialistischen Gedichte mit den in der DDR 1953 entstandenen Lyrikbänden "Die Nelke Nikos" und "Die Fahrt nach Stalingrad". Fühmann selbst entdeckt darin später "die ganze HJ!"
Im Dienst des Stalinismus
Franz Fühmanns politische Karriere begann bereits auf der sowjetischen Antifa-Schule. Vom Kriegsgefangenen stieg er dort zum Assistenzlehrer auf. In seiner Archivakte wird er als kluger Antifaschist bezeichnet, der "die Grundlagen des Marxismus-Leninismus gut beherrscht"
Seine Ankunft in Ostberlin empfindet er als Heimkehr: "Ich war heimgekehrt in meine Republik"
Fühmann ist zu einem "Täter mit gutem Gewissen"
Vorbehaltlos unterwirft Fühmann sich der neuen Weltanschauungsdiktatur, deren Führer nunmehr Stalin und Ulbricht heißen. Es fällt ihm nicht schwer, das Amt des hohen Parteifunktionärs mit dem des Schriftstellers zu verknüpfen. Fühmann versucht die von der Partei geforderte Symbiose von Geist und Macht zu leben. Zwischen Politik und Poesie tun sich für ihn, wenn es darum geht, Botschaften zu verkünden, keine Gegensätze auf. Im Zweifel bestimmt die Doktrin die Dichtung. Stalin ist für ihn nicht nur sein politischer, sondern auch sein literarischer Führer. "Von Stalin stammt das schönste, treffendste und verpflichtendste Wort", schreibt er, "das jemals über Beruf und Berufung des Schriftstellers gesagt wurde. Stalin nannte die Schriftsteller ,Ingenieure der menschlichen Seele'."
Mit einem derartigen politischen wie literarischen Loyalitätsbewusstsein ausgestattet, reüssiert er nicht nur in der Politik, sondern auch als Schriftsteller. Er steht schon wenige Monate nach seiner Ankunft in der DDR in Kontakt zu den bekanntesten ostdeutschen Autoren, begegnet Johannes R. Becher, Louis Fürnberg, Paul Wiens, Kuba (alias Kurt Barthel) und vielen anderen. Bereits 1952 nimmt er an einem gesamtdeutschen Literaturgespräch in Stuttgart teil, was als eine besondere Auszeichnung für einen ehemaligen Nationalsozialisten zu verstehen ist. Noch bevor er durch nennenswerte Publikationen, die ihn als Schriftsteller ausweisen, hervorzutreten vermag, wird er in den Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbandes berufen und Mitglied des Präsidialrates im Kulturbund. Fühmann erfährt die Gunst der Partei und fühlt sich eins mit ihr. Seine ersten Buchveröffentlichungen "Die Nelke Nikos" und "Die Fahrt nach Stalingrad" (beide 1953) weisen ihn als Apologeten des sozialistischen Realismus aus. Er schreibt schuldbeladene Kriegserinnerungs- und schwärmerische Aufbaugedichte, die einen kräftigen Trennungsstrich zwischen der düsteren nationalsozialistischen Vergangenheit und der verheißungsvollen sozialistischen Zukunft zu ziehen versuchen. Die meisten seiner Zeilen aus dieser frühen Schaffensphase sind ideologiegesättigt; sie teilen die Welt in eine faschistisch-westlich-reaktionäre und eine sozialistisch-östlich-fortschrittliche Hälfte.
Seinen ersten großen literarischen Erfolg und damit auch Durchbruch als Schriftsteller erlebt Fühmann mit der Novelle "Kameraden". Sie erscheint 1955, wird in viele Sprachen übersetzt und zwei Jahre nach ihrem Erscheinen auch verfilmt. Bis dahin war Fühmann als Prosaautor noch nicht nennenswert in Erscheinung getreten. Mit dieser Novelle aber schreibt er sich in die erste Reihe der DDR-Literatur der fünfziger Jahre. Er hat damit sein eigentliches Thema gefunden: die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Ideologie und den Schrecknissen des Krieges. Wie seine vorherigen Arbeiten enthält dieses Werk auch eine didaktische Absicht. Fühmann will die Spaltung des Bewusstseins und in ihrer Konsequenz die Unterwerfung unter den Ungeist, die unbemerkte Herrschaft der Unmoral und der Lüge im Nationalsozialismus, mit dem friedlichen, offenen Leben in der DDR kontrastieren
Unmittelbar vor dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 befindet sich Fühmann auf dem Höhepunkt seiner schriftstellerischen und politischen Anerkennung in der DDR. Die Abrechnung Chruschtschows mit Stalin und dessen jäher Sturz vom Sockel des großen Führers der kommunistischen Staatenwelt löst jedoch in seinem politischen und literarischen Koordinatensystem ein Erdbeben aus. Sein leuchtendes Vorbild Stalin wird wie vorher Hitler als Verbrecher enttarnt, und die von Fühmann in den freundlichsten Farben dargestellte Welt des Sowjetkommunismus wird als Welt der Lüge und des Massenmordes entlarvt. In dieser schweren Stunde bemüht er sich, nach vorne zu schauen, und hofft, dass der offenkundig gewordene Abgrund zwischen Ideologie und Realität alsbald wieder geschlossen werden kann. Dazu will er selbst seinen Beitrag leisten. Aber er muss schließlich erkennen, dass mit dem XX. Parteitag seine poetische Konzeption ebenso ins Wanken geraten ist wie seine politische Orientierung. Beiden ist die weltanschauliche Basis verloren gegangen. Die Illusion, erfolgreich den Weg aus der Finsternis des Nationalsozialismus in das "strahlende, helle, untrübbare Morgenrot"
Er kritisiert den sozialistischen Realismus und tritt für eine individuelle Schaffensmethode der Künstler ein. Mit dieser Absage an die kulturpolitische Doktrin des Stalinismus setzt er sich in offenen Gegensatz zur offiziellen Kulturpolitik der SED. Nach der Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn durch sowjetische Panzer rechnet Ulbricht nach und nach mit seinen politischen und geistigen Widersachern ab. Fühmann wird zur Zielscheibe massiver ideologischer und damit auch politischer Auseinandersetzungen, und obwohl er Selbstkritik übt, wird er schließlich aus allen Ämtern der NDPD ausgestoßen. Dem rasanten politischen Aufstieg folgt der jähe politische Absturz. Für Fühmann bedeutet dies zwar eine tiefe innere Zäsur, aber noch keine Abkehr von der sozialistischen Idee und ihren Idealen.
Widerworte im Dienst der sozialistischen Gesellschaft
Es ist schwierig zu sagen, ob Franz Fühmann in dieser spätstalinistischen Phase der DDR in völliger Übereinstimmung mit sich selbst - politisch und literarisch betrachtet - lebt. Er selbst schreibt dazu in seinem "Ungarn-Tagebuch", dies sei nur zwei Mal überhaupt der Fall gewesen: "hinter Stacheldraht auf der Antifaschule und damals auf der Warnowwerft"
Dieses "Morgen" glaubt er zunächst in der Bitterfelder Kulturbewegung zu erkennen. Fühmann will zehn Jahre nach seinem Eintreffen das Land näher kennenlernen, in dem er lebt. Die Tätigkeit in der NDPD erscheint ihm nunmehr wie unter einer Käseglocke, abgeschnitten von den eigentlichen Problemen: "Ich wusste gar nichts, nicht einmal das Primitivste."
Kulturpolitisch steht Fühmann damit weiter an der Seite der Staatspartei. Die Perspektive stimmt. Auch allgemein politisch meidet er Differenzen. Er begrüßt den Bau der Berliner Mauer
Literarisch ist Fühmann außerordentlich produktiv. Neben dem "Kabelkran" erscheinen die autobiographischen Erzählungen "Das Judenauto" und "Böhmen am Meer" (1962) sowie ein eindrucksvoller Bildband über Ernst Barach (1963) in kurzer Zeitfolge. Fühmann hat seine neue Rolle als freier Schriftsteller angenommen. Der "Bitterfelder Weg" hat ihm politisch und literarisch neuen Halt gegeben. Um so mehr überrascht es, dass er auf Einladung von Hans Bentzien - 1961 bis 1966 Minister für Kultur - in einem Offenen Brief am 1. März 1964 schonungslos zu den kulturpolitischen Problemen im Lande Stellung nimmt. Er setzt sich dafür ein, die dogmatische Enge zu überwinden und eine schöpferisch-kritische Atmosphäre zu schaffen
Mit seiner Haltung zum 11. Plenum des ZK der SED 1965 verschärft sich der Konflikt mit der Staatspartei weiter. Ihre kulturpolitische Schelte und aggressiven Forderungen nach mehr Parteilichkeit und sozialistischer Moral in Literatur, Kunst und Film treffen Fühmann - obwohl er selbst nicht persönlich angeprangert wird - so sehr, dass er sich entschließt, aus dem Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbandes auszutreten, dem er seit 1953 ununterbrochen angehört hat. Er begründet seinen Schritt in einem lakonischen Schreiben an den Schriftstellerverband damit, dass die Aussagen dieses Plenums "in Ton und Inhalt absolut unmissverständlich" seien. Er habe damit verschiedene Illusionen verloren, was ihn sehr schmerze und bitter stimme
Fühmann empfindet die Jahre nach diesem Tribunal als "eine Zeit unerträglicher Verengung" und "die unbewältigte Vergangenheit des Sozialismus als immer mehr quälende Gegenwart"
Sein Interesse gilt fortan dem Mythos, indem er individuelle Erfahrungen - natürlich auch seine eigenen - "an Modellen von Menschheitserfahrung zu messen"
Die Annäherung an den Mythos löst bei Fühmann einen doppelten Prozess der Befreiung aus: Er löst sich politisch aus der Umklammerung der Ideologie des Marxismus-Leninismus als einer deterministischen Interpretationsfolie für die Wirklichkeit. Dabei geht es um die Überwindung eines dualistischen Weltbildes, welches nur zwischen gut und böse, richtig und falsch unterscheidet, zugunsten eines offenen und differenzierten Blicks auf die Realität in ihrer Konfliktträchtigkeit und Komplexität. Im ästhetisch-literarischen Sinn entdeckt Fühmann im mythischen Element jenes Ingrediens, welches im intellektuellen Begreifen allein nicht aufgehen will, jenes "Gleichnishafte, in dem wir Außen und Innen zu einem so ist es verschmelzen fühlen, ohne dass wir genau sagen könnten, was denn nun eigentlich so ist"
Fühmann setzt dieses Konzept erstmals in seiner letzten, umfangreichsten und wohl auch eindringlichsten Kriegserzählung "König Ödipus" (1966) um. Er gelangt damit inhaltlich wie auch ästhetisch zu einer neuen Form von Prosa, die deutlich macht, dass der inzwischen fünfundvierzigjährige Autor seine literarische Entwicklung keinesfalls abgeschlossen hat
Mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag 1968 gerät Fühmann in seine größte Lebenskrise; er steht am Abgrund, an der "Grenze des Zerbrechens"
Sein Versuch, der eigenen Erkenntnis zu trauen, leitet schließlich bei ihm einen radikalen Prozess des Umdenkens ein. Er erkennt, dass man nicht in erster Linie Kommunist und dann in zweiter Linie Schriftsteller sein kann. Er kündigt den Primat der Politik gegenüber der Literatur auf und bekennt sich zur Eigenverantwortlichkeit, zur Souveränität des Autors, die zukünftig in jeder Zeile, die er schreibt, und in jedem Schritt, den er tut, zum Ausdruck kommen soll.
Zur Wahrheit entschlossen
Mit der Überwindung seiner existenziellen Krise, die die Ereignisse in Prag auslösen, gelingt Fühmann 1973 mit dem Tagebuch einer Ungarnreise "22 Tage oder Die Hälfte des Lebens" ein literarischer Neuanfang. Er selbst bezeichnet dieses Buch als seinen "eigentlichen Eintritt in die Literatur"
Seine drei Kurzgeschichten "Bagatelle, rundum positiv", "Spiegelgeschichte" und "Drei nackte Männer" (alle 1977) zeigen Fühmann in einer bisher unbekannten Erzählhaltung, indem er sich unmittelbar und kritisch kommentierend in die gesellschaftspolitische Diskussion einschaltet. Frühere Selbstbeschränkungen entfallen. Fühmann setzt sich erstmals mit der Selbstgerechtigkeit sozialistischer Funktionäre und ihrer Distanz zum Bürger auseinander. Dem Hochmut kommunistischer Führungskader wird auf eindringliche Weise die Ohnmacht des Einzelnen gegenübergestellt. Das aggressive, stets gleichförmig selbstbewusste Auftreten der Funktionäre spiegelt er mit der distanzierten, abweisenden Haltung der Ohnmächtigen. "Oben" und "Unten" haben sich nichts mehr zu sagen, ihre Begegnungen sind ritualisiert
Einen ebensolchen Positionswechsel in der Erzählhaltung vollzieht Fühmann auch in seinen Kinderbüchern. Vor allem in "Prometheus" (1974) und in "Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel" (1978) ist nichts mehr von dem früher so vehement erhobenen Zeigefinger zu spüren. An die Stelle dogmatischer Gewissheit des Erzählers sind nun Offenheit und Spiel, Frage und Reflexion getreten. Es geht nicht mehr darum, die Macht durch Gehorsam zu stützen, sondern Grundformen des demokratischen Denkens und Handelns zu entwickeln. Toleranz und Individualität, nicht Kadavergehorsam und Kollektiv, stellen die neuen Attribute in seinen Kinderbüchern dar.
Dass Fühmann diese neuen Ideale nicht nur beschreibt und literarisch verarbeitet, sondern sie auch selbst zu leben versucht, stellt er in der Auseinandersetzung um den Liedermacher und Dichter Wolf Biermann im Herbst 1976 unter Beweis. Wie kaum ein anderer setzt er sich dafür ein, dass die politische Führung den Beschluss zur Ausbürgerung Biermanns zurücknimmt und ihm die Rückkehr in die DDR erlaubt. Fühmann gehört zu den Erstunterzeichnern eines Offenen Briefes, in dem zwölf bekannte DDR-Autoren gegen diese Ausbürgerung protestieren. Zudem schreibt er an den Vorsitzenden des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Willy Stoph, und äußert seine Bestürzung über die getroffene Entscheidung. Er vertritt in diesem Schreiben die Auffassung, dass die Ausbürgerung Biermanns weder mit der Würde noch dem Wesen eines sozialistischen Staates zu vereinbaren sei
Franz Fühmann ist in den siebziger Jahren nicht mehr bereit, die zuvor still auf sich genommenen Leiden der Unterwerfung und Anpassung zu tragen. Der ehemalige Parteisoldat wird zu einem unbestechlichen und standfesten Förderer der sich formierenden literarischen und politischen Opposition
Literarisch verarbeitet Fühmann sein Eintreten für die Friedensbewegung vor allem in der posthum erschienenen Erzählung "Der Mund des Propheten". Der biblische Stoff, dem vierten Kapitel des Buches Micha entnommen, beschäftigt sich mit den Fragen von Macht, Gerechtigkeit und Wahrheit in der Diktatur. Fühmann reflektiert in diesem Kontext auch seine eigene Lage, deren Aussichtslosigkeit er sich bewusst ist, zu der er allerdings keine Alternative sieht. Es geht ihm "um Wahrheit und Wahrhaftigkeit", um mutiges und standfestes Bekennen, um notwendiges Einstehen für das als wahr Erkannte
Seine Wiederentdeckung der Bibel knüpft an seine Kindheitserfahrungen an. Damals war es für ihn das "stattlichste Buch", "ein Felsblock", "Ausdruck des Geborgensein in Sinn und Ordnung, Gerechtigkeit von Lohn und Strafe, das Vernünftig-Schöne des Guten und die Abscheulichkeit des Bösen"
Am Ende seines Lebenswegs hat Fühmann sich nach bitteren und schmerzhaften Erfahrungen, vielen Enttäuschungen und groben Demütigungen aller dogmatischen Fesseln entledigt. Bei der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises in München 1982 formuliert er seine Entschlossenheit, die bestehenden Konflikte mit dem SED-Staat auszutragen. Er will die ganze Wahrheit, "nicht abgewogen, nicht zugemessen, nicht ausgewählt und nicht abgestuft, nicht in irgendeinem Dienste stehend, der sie nach Belieben gebraucht und von dafür Befugten verwalten lässt, nicht für Programme zugeschnitten, nicht Strategien untergeordnet, nicht modifiziert nach Erfordernissen, nicht Präzeptoren vorbehalten, die Volk als das schlechthin Unmündige ansehen, nicht wie Tranquilizer auf Rezepten verordnet, nicht zweigeteilt nach Nutzen und Schaden, ungeachtet aller Konsequenzen, nicht einteilbar nach diesen Konsequenzen, nicht moderierbar behufs Konsequenzen, ein absoluter, kein relativer Wert"
Gottfried Benn, den Fühmann zunächst verachtete, später schätzen lernte, schreibt in seinen biographischen Aufzeichnungen "Doppelleben": "Immer alles gewusst zu haben, immer recht behalten zu haben, das alleine ist nicht groß. Sich irren und dennoch seinem Inneren Glauben schenken müssen: - das ist der Mensch."
In seinem Testament erklärt sich der vom Tod bereits gezeichnete Fühmann als gescheitert. Aber können wir dieses persönliche Fazit - gerade auch im Blick auf das Diktum von Benn - von jemandem gelten lassen, der zweimal der Faszination totalitärer Weltanschauungsideologien erlag, sich daraus befreite, den Konflikt zwischen Doktrin und Dichtung nach schweren inneren Kämpfen zugunsten der Dichtung entschied und mit seinem Spätwerk denen moralische Kraft und Hoffnung schenkte, die sich wie er widersetzten?