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Franz Fühmann | Literatur in der DDR | bpb.de

Literatur in der DDR Editorial Die SED und die Schriftsteller 1946 bis 1956 Franz Fühmann "Taumele zwischen Optimismus und Depression" Abschied vom Leseland?

Franz Fühmann Ein deutsches Dichterleben in zwei Diktaturen

Günther Rüther

/ 25 Minuten zu lesen

Franz Fühmann zählt zu den bekannten Autoren der DDR. Nach seiner Rückkehr aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft gelingt ihm in den fünfziger Jahren eine beispiellose Karriere als Autor und Politiker.

Einleitung

Franz Fühmanns Lebensweg ist gekennzeichnet von großen Hoffnungen, schweren Enttäuschungen und bitteren Krisen. Dem Betrachter eröffnen sich Gegensätze radikaler und tief greifender als bei vielen seiner Zeitgenossen, die wie er in den zwanziger Jahren geboren werden, in die Fänge des Nationalsozialismus, später des Kommunismus geraten und ihre Prägungen durch die beiden deutschen Diktaturen in unserem Jahrhundert erfahren. Wandlungen erschüttern sein Leben. Sie sind Ausdruck der totalitären Versuchungen dieses Jahrhunderts. Wandlung kennzeichnet gleichermaßen seine weltanschauliche Haltung. Dazu zählen sein Ausbruch aus vertrauten Milieus, seine zunächst tiefe religiöse Bindung an den christlichen Glauben, seine Kehrtwendung zu einem radikalen Atheismus, dann ein in der Endphase seines Lebens sich erneut zeigendes wachsendes Interesse an religiösen Motiven und Stoffen, das einer Suche nach Gott gleichkommt.

Wandlung - plötzliche Wendung oder stete Entwicklung?

Einen Dichter zu verstehen heißt auch, einen Menschen und das, was ihn bewegt, verstehen zu lernen. Der Dichter ist "nicht nur ein Mund" , der nur an seinem Wort gemessen sein will. Wer ihm gerecht zu werden versucht, das Wagnis einer Annäherung eingehen möchte, tut gut daran, sich auch mit seinem Leben, seiner Zeit, seinem Land, seinem Schicksal auseinander zu setzen - den äußeren und inneren Rahmenbedingungen, in die sich der Schriftsteller und sein Werk geworfen sieht. Beide gehören zusammen, sie lassen sich nicht jeweils nur für sich betrachten.

Franz Fühmann verweist auf eine Aussage von Charles Baudelaire, die für sein Verlangen, Georg Trakl zu verstehen, von großer Bedeutung ist: "Um die Seele eines Dichters zu durchschauen, muss man in seinem Werk diejenigen Worte aufsuchen, die am häufigsten vorkommen. Das Wort verrät, wovon er besessen ist." Darf diese Vorgehensweise von Fühmann, Trakls Werk zu erschließen, auch auf seine eigenen Arbeiten angewandt werden? Ich glaube schon, zumal Fühmanns "Trakl-Buch" gleichermaßen eine Selbsterforschung, eine Auseinandersetzung mit seinem eigenen Leben und seinem Werk darstellt. In Trakl sieht er seinen "Bruder" . Dessen Verse gehen tief in sein Gedächtnis ein. Sie verändern sein Denken und sein Dasein am Ende des Zweiten Weltkrieges; sie nähren später seine Zweifel an der Doktrin des sozialistischen Realismus und helfen ihm, sich davon zu befreien.

Wie lautet nun das Schlüsselwort in Fühmanns Werk - das Wort, von dem er besessen ist, das ihn umtreibt, das ihn ruhelos macht? Es heißt "Wandlung". In diesem Wort drückt sich nicht nur Fühmanns Lebenserfahrung aus, sondern es dient ihm auch als Leitfaden zur Erforschung seines Weges von der Kindheit bis ins hohe Alter. Wandlung ist der Übergang des Menschen von einem Wertesystem in ein anderes. Sie kann eine plötzliche Wendung beschreiben, aber auch einen langanhaltenden Prozess, der sich über Jahre erstreckt. Mit dem Prozess der Wandlung kann eine Durchdringung des alten Wertesystems einhergehen, ein kritisches Nachfragen und Reflektieren. Wandlung kann aber auch bedeuten, dass ein altes Wertesystem einfach durch ein neues ersetzt wird. Dabei bleibt offen, ob das neue Wertesystem tatsächlich zu einer neuen Dimension des Humanen, zu einer neuen Form des Offenseins vorstößt oder ob sich in dieser Wandlung nur eine Wendung vollzieht, durch die eine totalitäre Ideologie durch eine andere ersetzt wird. Wandlung bedeutet für Fühmann einerseits den Gewinn einer neuen Erkenntnis, eine Umdeutung zentraler Begriffe, andererseits ist sie Ausdruck von Verzweiflung und Ratlosigkeit, die mit fortschreitendem Alter zu einer Erkenntnis des Scheiterns, einer späten Suche nach dem Weg in die Freiheit führen.

"Wandlung" ist also ein schillernder Begriff, und so fragt Fühmann danach, was es denn überhaupt heißt; "ein Mensch verändert, verwandelt sich?" Die Wandlung erschließt sich - wenn überhaupt - nur im Blick zurück, durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit, vor allem der in ihr gemachten eigenen Erfahrungen. Damit tritt dem Begriff der Wandlung derjenige der Erinnerung ergänzend zur Seite: "Sich-Erinnern, um vergessen zu können. Die Vergangenheit, an die ich mich erinnern kann, habe ich bewältigt, sie ist dadurch Erfahrung geworden; die andere Vergangenheit ist mir entfremdet und kann mich überwältigen."

Im "Judenauto" begibt sich Fühmann auf Spurensuche nach den Motiven und Ursachen durchlebter Umbrüche und Umwälzungen in seiner Kindheit und Jugend. Doch er bleibt dabei an der Oberfläche und im Klischee stecken. Viele Fragen werden nur gestreift, Hintergründe ausgeblendet und Privates wird so gut wie gar nicht in die Auseinandersetzung mit seiner Jugend einbezogen. Vater und Mutter, die Familie, sein engstes persönliches Umfeld, seine Freunde, letztlich auch die Schulzeit in Rochlitz, im Jesuitenkonvikt bei Wien, in Reichenberg und Hohenelbe bleiben, wenn überhaupt thematisiert, literarisch farblos. Die Darstellung wirkt schematisch und das Geschehen undurchdrungen. Besonders die Wandlung vom überzeugten Katholiken zum Nationalisten im SA-Hemd wird weder plausibel begründet noch überzeugend literarisch gestaltet. Der Hinweis auf das streng an jesuitischen Ordensregeln ausgerichtete Leben in der Klosterschule vermag seine spätere geistige und politische Umorientierung kaum zu erklären.

Die in den Erzählungen herausgestellten autobiographischen Bezüge erscheinen konstruiert, es fehlt ihnen das Poetische. Sie gleichen Schablonen. Kindheit und Jugend werden durch die Brille des sozialistischen Realismus gedeutet. So bleibt die Mitte seiner frühen Jahre weitgehend "ein weißer Fleck, Leere, verwundete Stille" . Auch die späteren Werke vermögen diese Lebensphase nicht intensiver auszuleuchten.

Demgegenüber wird Fühmanns Schritt vom durch den Krieg erschütterten Nationalsozialisten zum überzeugten Kommunisten literarisch vielfach gestaltet und findet sich in seinen frühen Werken ebenso thematisiert wie in seinen späten. Dabei zeigen die Texte deutlich, welche Entwicklung Fühmann nimmt. Für seinen Wandel vom Nationalsozialisten zum Kommunisten macht er im Antifa-Lager Noginsk bei Moskau in den Jahren 1946 bis 1949 rückblickend wesentlich vier Erschütterungen geltend:

- die Kriegsniederlage und den damit einhergehenden Identitätsverlust;

- die Entlarvung der Goebbels-Propaganda gegenüber der Sowjetunion, welche die dort lebenden Menschen als Untermenschen und Barbaren gebrandmarkt hatte;

- die Wahrheit über Auschwitz und die Verbrechen des Nationalsozialismus;

- die Begegnung mit dem Marxismus-Leninismus und die Überwindung der geistigen Leere durch das Studium des dialektischen Materialismus .

Bemerkenswert ist, dass Fühmann im Antifa-Lager an seinem vom Nationalsozialismus geprägten dualistischen Weltbild festhält, in dem es nur Sieger oder Besiegte, schwarz oder weiß, gut oder böse gibt. Die alten Begriffe erstrahlen in neuem Glanz: "Volk, Vaterland, Zukunft, Sinn des Lebens, Gemeinnutz, Opfermut, Glauben, Einsatz, Kampf, Hingabe" - und auch der Begriff des Helden, wie er im "Sturz des Engels" kritisch zurückblickend feststellt .

Fühmann vollzieht eine Umwertung der Werte innerhalb seines dualistischen Weltbildes. In der schuldbewussten, kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit vermeidet er jeden Zweifel gegenüber der neuen Weltanschauung. Sie eröffnet ihm eine neue Lebensperspektive und bietet ihm Halt auf dem Weg aus der Vergangenheit, indem sie ihm neue Gewissheiten in Gestalt des Klassenstandpunktes vermittelt. Im "Judenauto" bekennt er, dass ihm das Studium des Marxismus-Leninismus half, sich seines Lebens bewusster zu werden, und die Kriegsgefangenschaft seinem Leben neuen Sinn gab . Kritische Anfragen an die Gegenwart, vor allem auch an den Stalinismus, stellen sich nicht, oder sie werden bewusst verdrängt, um den Bruch mit der Vergangenheit und die neue, daraus gewonnene, noch fragile Identität nicht zu gefährden.

Fühmanns Wandlung vom Nationalsozialisten zum Stalinisten gleicht damit einem Film, in dem das Negativ zum Positiv entwickelt wird. Ein Beleg dafür ist ein Vergleich seiner frühen nationalsozialistischen Gedichte mit den in der DDR 1953 entstandenen Lyrikbänden "Die Nelke Nikos" und "Die Fahrt nach Stalingrad". Fühmann selbst entdeckt darin später "die ganze HJ!"

Im Dienst des Stalinismus

Franz Fühmanns politische Karriere begann bereits auf der sowjetischen Antifa-Schule. Vom Kriegsgefangenen stieg er dort zum Assistenzlehrer auf. In seiner Archivakte wird er als kluger Antifaschist bezeichnet, der "die Grundlagen des Marxismus-Leninismus gut beherrscht" . Ein Zeugnis seiner ideologischen Ausbildung legt er mit dem im "Neuen Deutschland" am 27. November 1948 erscheinenden Beitrag zum Thema "Die Kunst als Aufgabe" vor. Fühmann präsentiert sich damit erstmals in der Öffentlichkeit als klassenkämpferischer Schriftsteller. Er offenbart eine geistige Grundhaltung, die für ihn viele Jahre bestimmend werden sollte. Sie zieht sich gleichermaßen durch sein literarisches wie sein politisch-essayistisches Werk. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft zu Weihnachten 1949 besteht für ihn kein Zweifel, wo in Deutschland seine Zukunft liegt: in der DDR. Seine Entscheidung kommentiert er später im "Judenauto": "Ich hatte auf der Schule von Dozenten, die aus Deutschland zurückkamen, manches über die antisowjetische Hetze in Westdeutschland gehört; nun hatte ich sie vor Augen, das erste Mal nach der Goebbelszeit, und nun fand ich Goebbels wieder. Mir ekelte: Was für Gemeinheiten, was für Schmutz, welche Lügen!"

Seine Ankunft in Ostberlin empfindet er als Heimkehr: "Ich war heimgekehrt in meine Republik" , obwohl seine eigentliche Heimat in der Tschechoslowakei bzw. in Böhmen lag. Vor diesem politischen und patriotischen Hintergrund nimmt seine beispiellose Karriere als Parteifunktionär und Schriftsteller ihren Lauf. Schon 1952 gehört er als hauptamtlicher Funktionär dem Parteivorstand der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD) an. Er versucht sich besonders in der Kulturpolitik zu profilieren. In den NDPD-nahen Organen "National-Zeitung" und "Die Nation" erscheinen zahlreiche Aufsätze von ihm. Sie zeugen von einem starken Selbstbewusstsein und der aufdringlichen Gewissheit, die einzig mögliche und moralisch vertretbare Konsequenz aus der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus gezogen zu haben. Im Geiste der stalinistischen Kulturpolitik der frühen fünfziger Jahre beschimpft er westliche Schriftsteller und Künstler. Jean-Paul Sartre sieht er mit "wahrhaft pathologischer Wollust in der Kloake" wühlen. In dem Maler Salvadore Dali und anderen Surrealisten entdeckt er Todfeinde der Menschheit und der Menschenwürde . In der DDR hingegen erkennt er das wahre Vaterland der Deutschen, "in dem die Schaffenden aus vollem Herzen tanzen, singen und froh sein können" .

Fühmann ist zu einem "Täter mit gutem Gewissen" geworden. Ihn kennzeichnet der Verlust der Fähigkeit, die Wirklichkeit in dem Staat, in dem er sich zu Hause fühlt, so wahrzunehmen, wie sie ist. In dieser Hinsicht ist Fühmann auch zu einem Opfer geworden, ein Opfer totalitärer Weltanschauungsideologien. Eines ihrer wesentlichen Merkmale ist die Verblendung; eine mentale Deformation, die dort am stärksten und gefährlichsten in Erscheinung tritt, wo die Nähe zur Macht ideologischen Manipulationen Tür und Tor öffnet und Gewissheiten verbreitet, wo keine sind. In seinen Publikationen sind keinerlei Anzeichen dafür zu erkennen, dass er in irgendeiner Weise daran zweifelt, mit seinem politischen Handeln und Schreiben stets das Richtige und moralisch Vertretbare zu tun. Am 17. Juni sieht er sich wie selbstverständlich auf der Seite der Staatspartei. In den aufständischen Arbeitern erkennt er faschistische Provokateure, die nichts dazugelernt haben. Parallelen zur Bücherverbrennung zwanzig Jahre zuvor drängen sich ihm auf .

Vorbehaltlos unterwirft Fühmann sich der neuen Weltanschauungsdiktatur, deren Führer nunmehr Stalin und Ulbricht heißen. Es fällt ihm nicht schwer, das Amt des hohen Parteifunktionärs mit dem des Schriftstellers zu verknüpfen. Fühmann versucht die von der Partei geforderte Symbiose von Geist und Macht zu leben. Zwischen Politik und Poesie tun sich für ihn, wenn es darum geht, Botschaften zu verkünden, keine Gegensätze auf. Im Zweifel bestimmt die Doktrin die Dichtung. Stalin ist für ihn nicht nur sein politischer, sondern auch sein literarischer Führer. "Von Stalin stammt das schönste, treffendste und verpflichtendste Wort", schreibt er, "das jemals über Beruf und Berufung des Schriftstellers gesagt wurde. Stalin nannte die Schriftsteller ,Ingenieure der menschlichen Seele'."

Mit einem derartigen politischen wie literarischen Loyalitätsbewusstsein ausgestattet, reüssiert er nicht nur in der Politik, sondern auch als Schriftsteller. Er steht schon wenige Monate nach seiner Ankunft in der DDR in Kontakt zu den bekanntesten ostdeutschen Autoren, begegnet Johannes R. Becher, Louis Fürnberg, Paul Wiens, Kuba (alias Kurt Barthel) und vielen anderen. Bereits 1952 nimmt er an einem gesamtdeutschen Literaturgespräch in Stuttgart teil, was als eine besondere Auszeichnung für einen ehemaligen Nationalsozialisten zu verstehen ist. Noch bevor er durch nennenswerte Publikationen, die ihn als Schriftsteller ausweisen, hervorzutreten vermag, wird er in den Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbandes berufen und Mitglied des Präsidialrates im Kulturbund. Fühmann erfährt die Gunst der Partei und fühlt sich eins mit ihr. Seine ersten Buchveröffentlichungen "Die Nelke Nikos" und "Die Fahrt nach Stalingrad" (beide 1953) weisen ihn als Apologeten des sozialistischen Realismus aus. Er schreibt schuldbeladene Kriegserinnerungs- und schwärmerische Aufbaugedichte, die einen kräftigen Trennungsstrich zwischen der düsteren nationalsozialistischen Vergangenheit und der verheißungsvollen sozialistischen Zukunft zu ziehen versuchen. Die meisten seiner Zeilen aus dieser frühen Schaffensphase sind ideologiegesättigt; sie teilen die Welt in eine faschistisch-westlich-reaktionäre und eine sozialistisch-östlich-fortschrittliche Hälfte.

Seinen ersten großen literarischen Erfolg und damit auch Durchbruch als Schriftsteller erlebt Fühmann mit der Novelle "Kameraden". Sie erscheint 1955, wird in viele Sprachen übersetzt und zwei Jahre nach ihrem Erscheinen auch verfilmt. Bis dahin war Fühmann als Prosaautor noch nicht nennenswert in Erscheinung getreten. Mit dieser Novelle aber schreibt er sich in die erste Reihe der DDR-Literatur der fünfziger Jahre. Er hat damit sein eigentliches Thema gefunden: die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Ideologie und den Schrecknissen des Krieges. Wie seine vorherigen Arbeiten enthält dieses Werk auch eine didaktische Absicht. Fühmann will die Spaltung des Bewusstseins und in ihrer Konsequenz die Unterwerfung unter den Ungeist, die unbemerkte Herrschaft der Unmoral und der Lüge im Nationalsozialismus, mit dem friedlichen, offenen Leben in der DDR kontrastieren . Ideologisch erfüllen diese und andere seiner Schriften, die sich in den fünfziger und zum Teil auch noch in den sechziger Jahren mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus beschäftigen, zwei Funktionen: Sie dienen der Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit und der Legitimation des Ulbricht-Regimes.

Unmittelbar vor dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 befindet sich Fühmann auf dem Höhepunkt seiner schriftstellerischen und politischen Anerkennung in der DDR. Die Abrechnung Chruschtschows mit Stalin und dessen jäher Sturz vom Sockel des großen Führers der kommunistischen Staatenwelt löst jedoch in seinem politischen und literarischen Koordinatensystem ein Erdbeben aus. Sein leuchtendes Vorbild Stalin wird wie vorher Hitler als Verbrecher enttarnt, und die von Fühmann in den freundlichsten Farben dargestellte Welt des Sowjetkommunismus wird als Welt der Lüge und des Massenmordes entlarvt. In dieser schweren Stunde bemüht er sich, nach vorne zu schauen, und hofft, dass der offenkundig gewordene Abgrund zwischen Ideologie und Realität alsbald wieder geschlossen werden kann. Dazu will er selbst seinen Beitrag leisten. Aber er muss schließlich erkennen, dass mit dem XX. Parteitag seine poetische Konzeption ebenso ins Wanken geraten ist wie seine politische Orientierung. Beiden ist die weltanschauliche Basis verloren gegangen. Die Illusion, erfolgreich den Weg aus der Finsternis des Nationalsozialismus in das "strahlende, helle, untrübbare Morgenrot" gefunden zu haben, zerbricht. Fühmann kann fortan keine Gedichte mehr schreiben. Er bemüht sich um einen literarischen Neuanfang. Statt didaktisch will er dialektisch schreiben, das dualistische Weltbild neu justieren. Er glaubt, dass es auch in der DDR zu einer Entstalinisierung und zu einer Reform des unter Ulbricht erstarrten Sozialismus kommen wird. Fühmanns literarische Neubesinnung steht in engem Zusammenhang mit der politischen und kulturellen Aufbruchstimmung am Anfang des Jahres 1956 .

Er kritisiert den sozialistischen Realismus und tritt für eine individuelle Schaffensmethode der Künstler ein. Mit dieser Absage an die kulturpolitische Doktrin des Stalinismus setzt er sich in offenen Gegensatz zur offiziellen Kulturpolitik der SED. Nach der Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn durch sowjetische Panzer rechnet Ulbricht nach und nach mit seinen politischen und geistigen Widersachern ab. Fühmann wird zur Zielscheibe massiver ideologischer und damit auch politischer Auseinandersetzungen, und obwohl er Selbstkritik übt, wird er schließlich aus allen Ämtern der NDPD ausgestoßen. Dem rasanten politischen Aufstieg folgt der jähe politische Absturz. Für Fühmann bedeutet dies zwar eine tiefe innere Zäsur, aber noch keine Abkehr von der sozialistischen Idee und ihren Idealen.

Widerworte im Dienst der sozialistischen Gesellschaft

Es ist schwierig zu sagen, ob Franz Fühmann in dieser spätstalinistischen Phase der DDR in völliger Übereinstimmung mit sich selbst - politisch und literarisch betrachtet - lebt. Er selbst schreibt dazu in seinem "Ungarn-Tagebuch", dies sei nur zwei Mal überhaupt der Fall gewesen: "hinter Stacheldraht auf der Antifaschule und damals auf der Warnowwerft" . In seinem Essay über Trakl deutet er an, dass er bereits in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre dem Alkohol verfiel und der XX. Parteitag der KPdSU ihm einen Weg zu eröffnen schien, von seiner Alkoholabhängigkeit loszukommen. "Nie strahlte die Hoffnungsgewissheit auf die unbesiegbare Wahrheit so hell" , lesen wir dort. Offenkundig vermochte er aber trotz vieler Enttäuschungen zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht die Kraft aufzubringen, "einen privaten Scheiterhaufen zu errichten". Deshalb fasste er den Entschluss, "den Blick nicht mehr ins Gestern zu lenken, sondern im Wissen geschehener Veränderungen unbeirrbar ins Morgen zu schreiten" .

Dieses "Morgen" glaubt er zunächst in der Bitterfelder Kulturbewegung zu erkennen. Fühmann will zehn Jahre nach seinem Eintreffen das Land näher kennenlernen, in dem er lebt. Die Tätigkeit in der NDPD erscheint ihm nunmehr wie unter einer Käseglocke, abgeschnitten von den eigentlichen Problemen: "Ich wusste gar nichts, nicht einmal das Primitivste." Da kommt ihm die Einladung des Rostocker Hinstorff-Verlages gerade recht, eine Reportage über den Alltag auf einer neuen, großen Werft zu schreiben. So begibt sich Fühmann, wie viele andere Autoren, begeistert auf den "Bitterfelder Weg". Er hofft, seinem bisherigen Leben entfliehen zu können und endlich das wahre Gesicht des Arbeiter- und Bauernstaates zu entdecken. Doch schon bald muss er ernüchtert feststellen, einer Illusion nachzujagen. Die Probleme auf den großen Bauplätzen der Republik unterscheiden sich kaum von denen im Konsumladen um die Ecke, in dem er in Berlin einkauft. Zudem bemerkt er, dass es ihm nicht gelingt, das Vertrauen der Arbeiter zu erwerben und sich in ihre Mentalität und Denkweise hineinzuversetzen. Dennoch schafft er es, den begonnenen Reportage-Roman über die Warnow-Werft, "Kabelkran und Blauer Peter" (1961), fertig zu stellen.

Kulturpolitisch steht Fühmann damit weiter an der Seite der Staatspartei. Die Perspektive stimmt. Auch allgemein politisch meidet er Differenzen. Er begrüßt den Bau der Berliner Mauer und bekennt sich in einem Offenen Brief an Wolfdietrich Schnurre und Günter Grass uneingeschränkt zu den von seiner Regierung ergriffenen Maßnahmen . Der SED gefällig dürfte auch seine Kritik an Heiner Müllers "Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande" vom 17. Dezember 1961 gewesen sein .

Literarisch ist Fühmann außerordentlich produktiv. Neben dem "Kabelkran" erscheinen die autobiographischen Erzählungen "Das Judenauto" und "Böhmen am Meer" (1962) sowie ein eindrucksvoller Bildband über Ernst Barach (1963) in kurzer Zeitfolge. Fühmann hat seine neue Rolle als freier Schriftsteller angenommen. Der "Bitterfelder Weg" hat ihm politisch und literarisch neuen Halt gegeben. Um so mehr überrascht es, dass er auf Einladung von Hans Bentzien - 1961 bis 1966 Minister für Kultur - in einem Offenen Brief am 1. März 1964 schonungslos zu den kulturpolitischen Problemen im Lande Stellung nimmt. Er setzt sich dafür ein, die dogmatische Enge zu überwinden und eine schöpferisch-kritische Atmosphäre zu schaffen . Doch er erfährt abermals, dass die SED keine Fundamentalkritik - schon gar nicht, wenn diese öffentlich vorgetragen wird - an ihren ideologischen Grundpositionen duldet. Fühmann gerät erneut ins politische Abseits.

Mit seiner Haltung zum 11. Plenum des ZK der SED 1965 verschärft sich der Konflikt mit der Staatspartei weiter. Ihre kulturpolitische Schelte und aggressiven Forderungen nach mehr Parteilichkeit und sozialistischer Moral in Literatur, Kunst und Film treffen Fühmann - obwohl er selbst nicht persönlich angeprangert wird - so sehr, dass er sich entschließt, aus dem Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbandes auszutreten, dem er seit 1953 ununterbrochen angehört hat. Er begründet seinen Schritt in einem lakonischen Schreiben an den Schriftstellerverband damit, dass die Aussagen dieses Plenums "in Ton und Inhalt absolut unmissverständlich" seien. Er habe damit verschiedene Illusionen verloren, was ihn sehr schmerze und bitter stimme . In langen, zeitraubenden Gesprächen und Briefwechseln versucht die Parteileitung der NDPD - Fühmann gehört bis 1972 zu ihren Mitgliedern -, ihn dazu zu bewegen, seine Haltung zu überdenken, vor allem aber seinen Rücktritt aus dem Vorstand des Schriftstellerverbandes zu korrigieren. Fühmann lässt sich jedoch auf keine Kompromisse ein. Er betont seine positive Grundeinstellung zur DDR, lehnt es aber ab, durch seinen Wiedereintritt in den Vorstand ein Bekenntnis zur neuen kulturpolitischen Linie abzugeben. Fühmann gerät von nun an literarisch und politisch in die Isolierung. Die National-Zeitung kritisiert ihn öffentlich und nennt ihn in einem Atemzug mit Regimekritikern wie Robert Havemann, Wolf Biermann und Stefan Heym .

Fühmann empfindet die Jahre nach diesem Tribunal als "eine Zeit unerträglicher Verengung" und "die unbewältigte Vergangenheit des Sozialismus als immer mehr quälende Gegenwart" . Eine Konsequenz daraus ist, dass sich seine literarische Arbeit verändert. Er wendet sich vom "Bitterfelder Weg" ab, verlässt die Bauplätze der Republik und geht auf Distanz zur Doktrin des sozialistischen Realismus.

Sein Interesse gilt fortan dem Mythos, indem er individuelle Erfahrungen - natürlich auch seine eigenen - "an Modellen von Menschheitserfahrung zu messen" versucht, die er im Mythos entdeckt. Die Auseinandersetzung mit mythologischen Stoffen stellt für ihn einen Vorgang der Objektivierung dar: "Nur wenn wir das Einzelne verallgemeinern, aus dem Einzelnen das Allgemeine ziehen, können wir lernen, d. h. Erlebnisse in Erfahrungen umschmelzen, und nur wenn wir das Einzelne richtig, d. h. seinem objektiven Wesen gemäß verallgemeinern, können wir erfolgreich lernen und unseren Erfahrungen vertrauen." Der Mythos beherbergt für Fühmann einen unermesslichen Schatz an Erfahrungen, welcher der Wirklichkeit zugleich fern und doch nah ist; weil er als geronnenes zeitloses Wissen stets unmittelbar auf sie verweist.

Die Annäherung an den Mythos löst bei Fühmann einen doppelten Prozess der Befreiung aus: Er löst sich politisch aus der Umklammerung der Ideologie des Marxismus-Leninismus als einer deterministischen Interpretationsfolie für die Wirklichkeit. Dabei geht es um die Überwindung eines dualistischen Weltbildes, welches nur zwischen gut und böse, richtig und falsch unterscheidet, zugunsten eines offenen und differenzierten Blicks auf die Realität in ihrer Konfliktträchtigkeit und Komplexität. Im ästhetisch-literarischen Sinn entdeckt Fühmann im mythischen Element jenes Ingrediens, welches im intellektuellen Begreifen allein nicht aufgehen will, jenes "Gleichnishafte, in dem wir Außen und Innen zu einem so ist es verschmelzen fühlen, ohne dass wir genau sagen könnten, was denn nun eigentlich so ist" .

Fühmann setzt dieses Konzept erstmals in seiner letzten, umfangreichsten und wohl auch eindringlichsten Kriegserzählung "König Ödipus" (1966) um. Er gelangt damit inhaltlich wie auch ästhetisch zu einer neuen Form von Prosa, die deutlich macht, dass der inzwischen fünfundvierzigjährige Autor seine literarische Entwicklung keinesfalls abgeschlossen hat . Mit seiner Annäherung an mythologische Stoffe distanziert er sich bewusst von den Vorgaben der offiziellen Literaturpolitik.

Mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag 1968 gerät Fühmann in seine größte Lebenskrise; er steht am Abgrund, an der "Grenze des Zerbrechens" . In Anspielung an Trakls Gedicht "Grodek" schreibt er: "Ich gestehe, dass sich in jenen Tagen jählings vor mir auch ein schwarzer Weg auftat; ich wählte schließlich den des hellen Bewusstseins und fand die Kraft, mit dem weißen Magier zu brechen, dem süßen Rauschgift zerbrannter Saaten, in dessen Bann ich mich Jahr um Jahr immer mehr des Bewusstseins begeben hatte."

Sein Versuch, der eigenen Erkenntnis zu trauen, leitet schließlich bei ihm einen radikalen Prozess des Umdenkens ein. Er erkennt, dass man nicht in erster Linie Kommunist und dann in zweiter Linie Schriftsteller sein kann. Er kündigt den Primat der Politik gegenüber der Literatur auf und bekennt sich zur Eigenverantwortlichkeit, zur Souveränität des Autors, die zukünftig in jeder Zeile, die er schreibt, und in jedem Schritt, den er tut, zum Ausdruck kommen soll.

Zur Wahrheit entschlossen

Mit der Überwindung seiner existenziellen Krise, die die Ereignisse in Prag auslösen, gelingt Fühmann 1973 mit dem Tagebuch einer Ungarnreise "22 Tage oder Die Hälfte des Lebens" ein literarischer Neuanfang. Er selbst bezeichnet dieses Buch als seinen "eigentlichen Eintritt in die Literatur" . Fühmann distanziert sich damit von wesentlichen Teilen seines bisherigen Werkes, das er mit Blick auf die Lyrik als "billigste Reimereien" , allgemein als politisch-didaktische Literatur gering schätzt: "Es war das Mitteilen von etwas, was für mich klar war, was ich wusste. Das heißt, ich bin aus diesen Büchern nicht anders herausgegangen als ich hineingegangen bin." Diese Bewertung trifft für das Ungarntagebuch gewiss nicht zu. Es ist nicht nur in seiner konzeptionellen Gestaltung offen, sondern es dient vor allem der Selbstvergewisserung des Autors, der seine Identität jenseits ideologischer Vorgaben sucht. Aus dem Blickwinkel des Fünfzigjährigen geraten damit zwei Themen in den Mittelpunkt: zum einen die existenzielle Frage, ob er vor der Gaskammer in Auschwitz genau so funktioniert hätte wie als Soldat der Wehrmacht, zum anderen seine Aufgabe als Schriftsteller in der zunehmend konfliktgeladenen sozialistischen Gesellschaft. Beide Themen, die für ihn miteinander aufs engste verbunden sind, führen ihn in Grenzbereiche als Mensch und Dichter in der real existierenden sozialistischen Gesellschaft.

Seine drei Kurzgeschichten "Bagatelle, rundum positiv", "Spiegelgeschichte" und "Drei nackte Männer" (alle 1977) zeigen Fühmann in einer bisher unbekannten Erzählhaltung, indem er sich unmittelbar und kritisch kommentierend in die gesellschaftspolitische Diskussion einschaltet. Frühere Selbstbeschränkungen entfallen. Fühmann setzt sich erstmals mit der Selbstgerechtigkeit sozialistischer Funktionäre und ihrer Distanz zum Bürger auseinander. Dem Hochmut kommunistischer Führungskader wird auf eindringliche Weise die Ohnmacht des Einzelnen gegenübergestellt. Das aggressive, stets gleichförmig selbstbewusste Auftreten der Funktionäre spiegelt er mit der distanzierten, abweisenden Haltung der Ohnmächtigen. "Oben" und "Unten" haben sich nichts mehr zu sagen, ihre Begegnungen sind ritualisiert . Für die viel beschworene Identität zwischen den Beherrschten und den Herrschern, den Bürgern und der SED Führungsspitze gibt es für ihn keine Grundlage mehr.

Einen ebensolchen Positionswechsel in der Erzählhaltung vollzieht Fühmann auch in seinen Kinderbüchern. Vor allem in "Prometheus" (1974) und in "Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel" (1978) ist nichts mehr von dem früher so vehement erhobenen Zeigefinger zu spüren. An die Stelle dogmatischer Gewissheit des Erzählers sind nun Offenheit und Spiel, Frage und Reflexion getreten. Es geht nicht mehr darum, die Macht durch Gehorsam zu stützen, sondern Grundformen des demokratischen Denkens und Handelns zu entwickeln. Toleranz und Individualität, nicht Kadavergehorsam und Kollektiv, stellen die neuen Attribute in seinen Kinderbüchern dar.

Dass Fühmann diese neuen Ideale nicht nur beschreibt und literarisch verarbeitet, sondern sie auch selbst zu leben versucht, stellt er in der Auseinandersetzung um den Liedermacher und Dichter Wolf Biermann im Herbst 1976 unter Beweis. Wie kaum ein anderer setzt er sich dafür ein, dass die politische Führung den Beschluss zur Ausbürgerung Biermanns zurücknimmt und ihm die Rückkehr in die DDR erlaubt. Fühmann gehört zu den Erstunterzeichnern eines Offenen Briefes, in dem zwölf bekannte DDR-Autoren gegen diese Ausbürgerung protestieren. Zudem schreibt er an den Vorsitzenden des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Willy Stoph, und äußert seine Bestürzung über die getroffene Entscheidung. Er vertritt in diesem Schreiben die Auffassung, dass die Ausbürgerung Biermanns weder mit der Würde noch dem Wesen eines sozialistischen Staates zu vereinbaren sei . Fühmann bezieht damit unmissverständlich Position. Wie hier wendet er sich auch in zahlreichen anderen Fällen gegen die Entmündigung der Bürger, gegen die Mechanismen der Repression, gegen Zensur und das Wahrheitsmonopol der SED .

Franz Fühmann ist in den siebziger Jahren nicht mehr bereit, die zuvor still auf sich genommenen Leiden der Unterwerfung und Anpassung zu tragen. Der ehemalige Parteisoldat wird zu einem unbestechlichen und standfesten Förderer der sich formierenden literarischen und politischen Opposition . Opposition bedeutet hier vor allem die Bereitschaft, sich unabhängig von der veröffentlichen Meinung zu äußern und sich damit sichtbar in Gegensatz zur politischen Macht zu stellen. So wird Fühmann zum Mentor unangepasster Nachwuchsautoren wie Wolfgang Hilbig oder Uwe Kolbe. Er mischt sich aber nicht nur in die literarische Entwicklung ein. Kein in der DDR lebender Schriftsteller unterstützt so entschieden, engagiert und mutig wie er die Ziele der Friedensbewegung, deren ultimativer Forderung "Schwerter zu Flugscharen. Frieden schaffen ohne Waffen" er politisch und literarisch nachkommt. Auf der ersten Berliner Begegnung zur Friedensförderung, zu der die Akademie der Künste in der DDR einlädt, plädiert er im September 1981 für die ideologische Überwindung von Feindbildern und gegen ein Auftrumpfen als Ausdruck vermeintlicher Stärke. "Sich als Mensch verstehen zu lernen", ruft er ins Auditorium, "setzt voraus, den Anderen verstehen zu lernen." Mit dieser Auffassung spricht er dem ideologisch-aggressiven Klassenkampfdenken in der DDR die Berechtigung ab und entzieht der hoch militarisierten sozialistischen Gesellschaft an einem zentralen Punkt ihre politische Legitimation. Dass sich sein Appell zugleich auch an die westliche Welt richtet, versteht sich von selbst. Vor diesem Hintergrund vermag es nicht zu überraschen, dass die Staatssicherheit in Fühmanns öffentlichem Auftreten und in seinen literarischen Beiträgen "eine feindlich-ideologische Grundhaltung zur DDR erkennt" .

Literarisch verarbeitet Fühmann sein Eintreten für die Friedensbewegung vor allem in der posthum erschienenen Erzählung "Der Mund des Propheten". Der biblische Stoff, dem vierten Kapitel des Buches Micha entnommen, beschäftigt sich mit den Fragen von Macht, Gerechtigkeit und Wahrheit in der Diktatur. Fühmann reflektiert in diesem Kontext auch seine eigene Lage, deren Aussichtslosigkeit er sich bewusst ist, zu der er allerdings keine Alternative sieht. Es geht ihm "um Wahrheit und Wahrhaftigkeit", um mutiges und standfestes Bekennen, um notwendiges Einstehen für das als wahr Erkannte . Dazu gehört an dieser Stelle auch sein eindringliches Bekenntnis zur Abrüstung und sein Eintreten für die Friedensbewegung. Wie der Prophet hat der Dichter für Fühmann in der Diktatur die Aufgabe, "gegen den Strom zu schwimmen, sich mit dem Königshof anzulegen" , den Ohnmächtigen Mund zu sein. Genau darum geht es ihm in den achtziger Jahren.

Seine Wiederentdeckung der Bibel knüpft an seine Kindheitserfahrungen an. Damals war es für ihn das "stattlichste Buch", "ein Felsblock", "Ausdruck des Geborgensein in Sinn und Ordnung, Gerechtigkeit von Lohn und Strafe, das Vernünftig-Schöne des Guten und die Abscheulichkeit des Bösen" . Nun, im Alter, entdeckt er darin "ein Buch der Subversion", "des Unerhörten, des Unerlaubten, des Umkehrens von Oben nach Unten und des Zerschlagens der alten Tafeln"; ein Buch, das auf der Seite der Armen und Schwachen steht und das diejenigen in Frage stellt, die sich in Sicherheit wähnen, weil sie die Macht ausüben . Mit der Macht streitet Fühmann der SED gleichzeitig ab, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein. Statt dessen plädiert er für eine offene Gesellschaft jenseits eines Entweder-oder, jenseits dogmatischer Parteilichkeit und künstlicher, realitätsferner Gleichsetzung von Partei, Staat und Gesellschaft.

Am Ende seines Lebenswegs hat Fühmann sich nach bitteren und schmerzhaften Erfahrungen, vielen Enttäuschungen und groben Demütigungen aller dogmatischen Fesseln entledigt. Bei der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises in München 1982 formuliert er seine Entschlossenheit, die bestehenden Konflikte mit dem SED-Staat auszutragen. Er will die ganze Wahrheit, "nicht abgewogen, nicht zugemessen, nicht ausgewählt und nicht abgestuft, nicht in irgendeinem Dienste stehend, der sie nach Belieben gebraucht und von dafür Befugten verwalten lässt, nicht für Programme zugeschnitten, nicht Strategien untergeordnet, nicht modifiziert nach Erfordernissen, nicht Präzeptoren vorbehalten, die Volk als das schlechthin Unmündige ansehen, nicht wie Tranquilizer auf Rezepten verordnet, nicht zweigeteilt nach Nutzen und Schaden, ungeachtet aller Konsequenzen, nicht einteilbar nach diesen Konsequenzen, nicht moderierbar behufs Konsequenzen, ein absoluter, kein relativer Wert" . Fühmann kämpft gegen die Lüge für die Wahrhaftigkeit, was ja nichts anderes heißt als "Entschlossenheit zur Wahrheit als des vornehmsten Menschenrechtes" . Fühmann steht auf der Seite der Freiheit und der Toleranz. Dafür tritt er in seinem Spätwerk ein, dafür legt er als Bürger der DDR Zeugnis ab.

Gottfried Benn, den Fühmann zunächst verachtete, später schätzen lernte, schreibt in seinen biographischen Aufzeichnungen "Doppelleben": "Immer alles gewusst zu haben, immer recht behalten zu haben, das alleine ist nicht groß. Sich irren und dennoch seinem Inneren Glauben schenken müssen: - das ist der Mensch."

In seinem Testament erklärt sich der vom Tod bereits gezeichnete Fühmann als gescheitert. Aber können wir dieses persönliche Fazit - gerade auch im Blick auf das Diktum von Benn - von jemandem gelten lassen, der zweimal der Faszination totalitärer Weltanschauungsideologien erlag, sich daraus befreite, den Konflikt zwischen Doktrin und Dichtung nach schweren inneren Kämpfen zugunsten der Dichtung entschied und mit seinem Spätwerk denen moralische Kraft und Hoffnung schenkte, die sich wie er widersetzten?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Gekürzter Vorabdruck aus: Deutsch-jüdische Literatur im 20. Jahrhundert, hrsg. von Hans-Peter Bayerdörfer u. a., Bonn 2000. 1 Franz Fühmann, Der Sturz des Engels. Erfahrungen mit Dichtung, München 1985, S. 7.

  2. Ebd., S. 79.

  3. Ebd., S. 43.

  4. Franz Fühmann, 22 Tage oder Die Hälfte des Lebens, Berlin 1978, S. 116.

  5. Ebd., S. 194.

  6. Franz Fühmann, Das Judenauto. 14 Tage aus zwei Jahrzehnten, Berlin 1962.

  7. Peter Demetz, Auf der Suche nach sich selber. Der schwere Weg Franz Fühmanns, in: Die Zeit vom 17. 9. 1976.

  8. Vgl. Franz Fühmann, Wandlung. Wahrheit. Würde. Aufsätze und Gespräche 1964 bis 1981, Darmstadt-Neuwied 1985, S. 19.

  9. F. Fühmann, Der Sturz des Engels (Anm. 1), S. 113.

  10. Vgl. F. Fühmann, Das Judenauto (Anm. 6) S. 180.

  11. F. Fühmann, 22 Tage (Anm. 4), S. 200.

  12. Franz Fühmann, Eine Biographie in Bildern, Dokumenten und Briefen, hrsg. von Barbara Heinze, Rostock 1998, S. 42.

  13. F. Fühmann, Das Judenauto (Anm. 6), S. 181.

  14. Ebd., S. 181.

  15. Franz Fühmann, Die Wiedergeburt unserer nationalen Kultur, in: Die Nation (Sonderheft), (1952) S. 170.

  16. Vgl. ebd., S. 170.

  17. Franz Fühmann, Tage der Freude, in: National-Zeitung vom 4. 7. 1952.

  18. Lothar Fritze, Täter mit gutem Gewissen. Über menschliches Versagen im diktatorischen Sozialismus, Köln 1998, S. 19.

  19. Vgl. Franz Fühmann, Arm in Arm vor dem Univermag, in: National-Zeitung vom 2. 7. 1953.

  20. Franz Fühmann, Stalin und die Literatur, in: Die Nation, 4 (1953) S. 96.

  21. Vgl. F. Fühmann: Eine Biographie (Anm. 12), S. 61.

  22. Ebd S. 71.

  23. Vgl. Günther Rüther, "Greif zur Feder, Kumpel". Schriftsteller, Literatur und Politik in der DDR 1949-1990, Düsseldorf 1991, S. 77 ff.

  24. F. Fühmann, 22 Tage (Anm. 4), S. 76.

  25. F. Fühmann, Der Sturz des Engels (Anm. 1), S. 153.

  26. Ebd., S. 153.

  27. F. Fühmann, Eine Biographie (Anm. 12), S. 105.

  28. Vgl. Fühmann, Panzer gegen Ungeist, in: National-Zeitung vom 9. 3. 1961.

  29. Vgl. ebd.

  30. In der Rezension heißt es: "Da es in diesem Stück keine innere Aufwärtsentwicklung gibt, stellt sich der seltsame Effekt ein, dass nicht der Weg von 1946-1960 sichtbar wird, sondern dass alles, auch Vorkommnisse, die eindeutig der Vergangenheit angehören, wie die Verletzung der Gesetzlichkeit, in die Gegenwart projiziert erscheinen . . . Ich glaube, dass die negative Aussage des Stücks durch die Bühnenaufführung nur unterstrichen und verstärkt werden kann. Ich halte es daher für richtig, dieses Stück nicht aufzuführen". Zit. nach: Sinn und Form, (1991) 3, S. 470.

  31. Vgl. F. Fühmann, Wandlung. Wahrheit. Würde (Anm. 8), S. 16.

  32. F. Fühmann, Eine Biographie (Anm. 12), S. 131.

  33. Vgl. Eine ernste Anfrage, in: National-Zeitung vom 21. 1. 1966.

  34. Miteinander Reden. Gespräche mit Margarete Hannsmann, in: Franz Fühmann, Essays, Gespräche, Aufsätze, 1964-1981, Rostock 1986, S. 441.

  35. F. Fühmann, Wandlung. Wahrheit. Würde (Anm. 8), S. 67.

  36. Ebd., S. 81.

  37. Ebd., S. 110.

  38. Vgl. Marcel Reich-Ranicki "Der exemplarische Weg. . ." in: Die Zeit vom 31. 3. 1967.

  39. F. Fühmann, Der Sturz des Engels (Anm. 1), S. 237.

  40. Vgl. Georg Trakl, Das dichterische Werk, München 1973, S. 94.

  41. F. Fühmann, Der Sturz des Engels (Anm. 1), S. 237.

  42. Wilfried F. Schöller, Der Kampf gegen das Dogma, in: Süddeutsche Zeitung vom 19./20. 5. 1982.

  43. F. Fühmann, Der Sturz des Engels (Anm. 1), S. 95.

  44. Vgl. das Interview "Ein Roman ist die Krönung für jeden Schriftsteller, Karl Corino und Franz Fühmann", in: Deutschland Archiv, (1975), S. 293.

  45. Vgl. Andreas Schrade, Veränderungen im Gegenstand - Veränderungen im Erzählen?, in: Weimarer Beiträge, (1982) 1, S. 88 ff.

  46. Vgl. F. Fühmann, Eine Biographie (Anm. 12), S. 241 f.

  47. Vgl. Franz Fühmann, Offener Brief an den Leiter der Hauptverwaltung Buchhandel und Verlage im Ministerium für Kultur, Klaus Höpke, vom 20. 11.1977, in: Sinn und Form (1990), S. 459 ff.; Joachim Walther, Protokoll eines Tribunals. Die Ausschlüsse aus dem DDR-Schriftstellerverband 1979, Reinbek 1991, S. 119 ff.

  48. Auf der Mitgliederversammlung des Berliner Schriftstellerverbandes wurden am 7. Juni 1979 neun Schriftsteller ausgeschlossen, weil sie sich gegen die zunehmende Diffamierung und strafrechtliche Verfolgung von Kollegen zu Wort gemeldet hatten. In einem Schreiben an Erich Honecker vom 16. 5. 1979, das Kurt Bartsch, Jurek Becker, Adolf Endler, Erich Loest, Klaus Poche, Klaus Schlesinger, Dieter Schubert und Martin Stade unterzeichneten, heißt es: "Immer häufiger wird versucht, engagierte, kritische Schriftsteller zu diffamieren, mundtot zu machen oder, wie unseren Kollegen Stefan Heym, strafrechtlich zu verfolgen. Durch die Koppelung von Zensur und Strafgesetzen soll das Erscheinen kritischer Werke verhindert werden." Zit. nach: J. Walther (Anm. 47), S. 11.

  49. F. Fühmann: Wandlung. Wahrheit. Würde (Anm. 8), S. 277.

  50. Vgl Joachim Walther, Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1996, S. 289 ff.

  51. Hans Richter, Franz Fühmann. Ein deutsches Dichterleben, Berlin-Weimar 1992, S. 371.

  52. Franz Fühmann, Das Ohr des Dionysios, Rostock 1985, S. 139.

  53. Ebd., S. 114.

  54. Ebd., S. 135.

  55. Franz Fühmann, Wahrheit und Würde, Scham und Schuld, in: Süddeutsche Zeitung vom 23. 11. 1982.

  56. Ebd.

  57. Gottfried Benn, Doppelleben. Zwei Selbstdarstellungen, Stuttgart 1984, S. 96.

Dr. phil., M. A., geb. 1948; Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin.

Anschrift: Konrad-Adenauer-Stiftung, Rathausallee 12, 53757 Sankt Augustin.

Veröffentlichungen u. a.: Politische Kultur und innere Einheit, St. Augustin 1995; (Hrsg.) Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus, Paderborn 1997.