I. Kinderarbeit allgemein
Die Eliminierung von Kinderarbeit, speziell in der Dritten Welt und dort in besonders gefährlichen oder erniedrigenden Arbeitsverhältnissen, ist ein Thema, das international seit Mitte der achtziger Jahre steigende Aufmerksamkeit erfährt und sich praktisch-politisch in einer Vielzahl von nationalen und internationalen Initiativen und Programmen niedergeschlagen hat, die sich diesem Ziel widmen. Dazu zählen Bestrebungen gesellschaftlicher Gruppen und Regierungen, Mindestrechte für Arbeitnehmer in Entwicklungsländern durch die Einführung von Sozialklauseln in internationale Handelsverträge zu erzwingen
Über den Umfang der weltweiten Kinderarbeit existieren bislang nur vage Schätzungen mit einer großen Bandbreite zwischen 73 und 250 Mio. betroffener Kinder
Vergleichsweise sicher scheint nur, dass auf Asien und Afrika der größte Teil (40 bzw. 25 Prozent) der Kinderarbeit entfällt, dort wiederum vornehmlich auf einige Staaten (Indien, Pakistan, Bangladesh, China, Nigeria, Kenia und Ägypten), sektoral vor allem auf die Landwirtschaft, den hauswirtschaftlichen Bereich und den Straßenverkauf, nur zu rund zehn Prozent auf die binnenmarkt- und exportorientierten Industriesektoren
Versuche, die bislang eher oberflächlichen Schätzungen zum Umfang der weltweiten Kinderarbeit durch solide Felderhebungen wenigstens für einige Länder der Dritten Welt zu untermauern, sind recht jungen Datums. Erst im Jahre 1996 wurde eine einschlägige ILO-Studie veröffentlicht
Es existieren eine stattliche Anzahl länderspezifischer Arbeiten zur Kinderarbeit. Überwiegend fallen sie in den Bereich der "grauen Literatur", sind also nicht oder nur schwer greifbar
- Kinderarbeit findet man nach den Einzelstudien vorwiegend auf dem Lande und im Bereich der häuslichen Dienste, wobei der diesbezügliche Anteil natürlich mit dem Entwicklungsstand zurückgeht. Kinder arbeiten ansonsten relativ selten in modernen, technologieintensiveren Sektoren, sondern vornehmlich in rückständigen Betrieben mit vergleichsweise schlechtem Lohnniveau
- Die familiäre Armut wird in den meisten der vorliegenden Studien als wichtigste Ursache der Kinderarbeit genannt. Die ILO fasst zusammen: "poverty is the most important reason why children work"
- Ein natürliches Korrelat der Armutsbegründung ist es, Kinderarbeit fehlendem Schulbesuch zuzuschreiben und umgekehrt, Kinderarbeit in einen direktem Zusammenhang mit fehlendem gesetzlichen Schulzwang zu bringen
- Eng mit der Armutsbegründung hängen Vermutungen zusammen, arbeitende Kinder entstammten überproportional Familien mit nur einem Elternteil (in der Regel Frauen) oder besonders großen Familien. Die empirische Evidenz ist hier eher dürftig. Die Tatsache der Arbeitsaufnahme scheint bei Kindern stärker als von diesen Faktoren von ihrer Stellung in der Alterskette der Geschwister abzuhängen (der/die Älteste sorgen für die Betreuung der Geschwister und den Haushalt, die mittleren Kinder arbeiten eher).
- Besonders gravierende Defizite gibt es bei Ermittlungen über die Kinderarbeitern ausbezahlten Löhne und ihre Arbeitsbedingungen. Der Literatur entnimmt man, dass beides grauenhaft sein muss. Es gibt aber diesbezüglich sehr wenige empirische Arbeiten. Salazar und Glasinovitch
- An gesetzlichen Vorkehrungen zum Einstellungsverbot von Kindern und Jugendlichen unter einem gewissen Alter und in gefährlichen Beschäftigungsverhältnissen mangelt es in Entwicklungsländern nicht; in der Regel sind die einschlägigen Regelungen und die damit einhergehenden Sanktionen in den letzten Jahren (z. T. unter Druck lokaler Nicht-Regierungsorganisationen [NGO], aber auch von Konsumenten in Industrieländern) auch noch verschärft worden. Zuweilen führte dies wie in Nepal und Bangladesh zu einer erheblichen Freisetzung von Kinderarbeitern, die sich ohne wirtschaftliche Alternative teilweise in noch schlechteren Verhältnissen wiederfanden. Der gesetzliche Schutz der Kinder leidet nach aller Erkenntnis vornehmlich an der Durchsetzung der einschlägigen Vorschriften, nämlich der Ausnahme des informellen Sektors und der häuslichen Arbeitsverhältnisse hiervon (womit der dominante Kinderarbeitssektor unberührt bleibt), den unterschiedlichsten Zuständigkeiten bei der Aufdeckung und Strafverfolgung, der viel zu geringen Zahl der eingesetzten Arbeitsinspektoren, ihrer Korruptionsanfälligkeit und der zumeist geringen Strafen gegen Gesetzesbrecher.
II. Kinderarbeit im Teppichsektor
Nach diesem Überblick über den Kenntnisstand zur Kinderarbeit weltweit soll der besseren Anschaulichkeit halber und weil dieser Bereich längere Zeit im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand, Kinderarbeit im Teppichsektor beleuchtet werden. Dieser Sektor wird deshalb behandelt, weil der bundesdeutsche Teppichhandel durch Kampagnen von NGO aufgeschreckt, sich zögerlich zwei konkurrierenden Initiativen anschloss, die kinderarbeitsfreie Teppiche zu importieren und die arbeitenden Kinder und ihre Familien in bessere Lebensumstände zu bringen versprechen. Eine dieser Initiativen (Rugmark) genießt nicht unbeträchtliche Unterstützung durch staatliche Stellen und NGO. Auch über den Umfang und die Bedingungen der Kinderarbeit in diesem Bereich ist wenig Präzises bekannt. Es gibt zwar eine Reihe (wiederum schwer zugänglicher) Auftragsuntersuchungen, die aber alle darunter leiden, dass sie innerhalb kürzester Zeit (ein bis drei Monate) durchgeführt wurden
Zunächst einige Bemerkungen zur Relevanz des Themas: Das Volumen des internationalen Knüpfteppichhandels beläuft sich auf etwa 2,3 Mrd. US-Dollar; 24 Prozent der Teppiche stammen aus Indien, 44 Prozent der von Indien exportierten Ware geht allein in die Bundesrepublik Deutschland. Entsprechend groß ist die Zahl der Arbeitskräfte in Indien (fast eine Mio.), die von der Teppichproduktion abhängen. Diese konzentriert sich zudem zu etwa 85 Prozent auf zwei ärmere Distrikte (Badohi/Mirzapur) im ohnedies schon unterprivilegierten Bundesstaat Uttar Pradesh, der nur mit schwachem Wirtschaftswachstum, schlechter Versorgung mit staatlichen Leistungen und geringer Industriedichte gesegnet ist. Der sogenannte Teppichgürtel in diesem Staat umfasst etwa die Größe Niedersachsens, beheimatet über 180 000 Knüpfstühle und über 2 000 Exporteure. Über die Zahl der Kinderarbeiter in der Teppichmanufaktur kursieren die unterschiedlichsten Angaben, die UNICEF
Es ist ein Spezifikum der Teppichherstellung als einer kunsthandwerklichen Manufaktur, dass Produktivitätssteigerung durch Maschineneinsatz bzw. technische Innovationen nicht oder nur sehr begrenzt möglich ist. Das bedeutet, dass bei vorgegebenen Weltmarktpreisen und Kosten der Inputs eine Kostensenkung bei der Produktion theoretisch nur durch Senkung der Lohnstückkosten möglich ist. Ein Weg hierzu wäre die Ausweitung der Kinderarbeit, vor allem in Gestalt sklavenähnlicher Arbeitsverhältnisse und/oder die Einführung des Verlagssystems, d. h. der Auslagerung des Knüpfens in die Familienhaushalte zur Einsparung von Lohnnebenkosten. Die spärlichen Erhebungen der verschiedenen Felduntersuchungen erlauben weder generelle Schlüsse hinsichtlich der Erwachsenenlöhne im Teppichsektor, noch des durchschnittlichen Lohnabstandes von Kindern. Angaben zu den Netto-Kinderlöhnen zeigen überdies (selbst am gleichen Ort) eine beträchtliche Bandbreite zwischen Null (also der Beschränkung auf Kost und Logis) und dem Normalgehalt eines Ungelernten in Indien
Auf der Vermarktungsebene in den Produzentenländern und im Klein- und Großhandel der Konsumentenländer scheint es einen erheblichen Verdrängungswettbewerb zu geben, der offenbar in Form scharf kalkulierter Einkaufspreise an die Produzenten weitergegeben wird. Zur indischen Teppichwirtschaft gibt es ein Kurzpapier von Ashraf
III. Die Siegelungskampagnen
Auf Druck westlicher Konsumenten und südasiatischer Menschenrechtsorganisationen kam es Mitte der neunziger Jahre zu mehreren Teppichinitiativen (Rugmark, Care&Fair, Step, Kaleen) mit dem Ziel der Eliminierung der Kinderarbeiter (bei Rugmark durch Kontrolle der einzelnen Knüpfstühle), ihrer Rehabilitierung, schulischen Ausbildung und finanziellen Absicherung sowie der Verbesserung der sozialen Infrastruktur in den Knüpfdistrikten
Um dieses durch ein universelles Verständnis der Menschenrechte begründete Leitbild in die Armutsregionen Südasiens zu transportieren, muss man mit verschiedenen, oben schon als problematisch charakterisierten Voraussetzungen arbeiten (Schulen in Reichweite, Vermittlung sinnvollen Stoffes, Unfreiwilligkeit der Arbeit etc.). Sind diese aber nicht gegeben und können kein Ersatz für die entfallenden Zusatzeinkommen der Kinder in der Familie oder nach Ausbildung keine Beschäftigungsverhältnisse außerhalb des Teppichsektors (und der Landwirtschaft) gefunden werden, kann die administrative Unterbindung von Kinderarbeit oder ein Konsumentenboykott die Verhältnisse noch verschlechtern. Die gegenwärtig laufenden Teppich-Kampagnen beinhalten allerdings nur unzureichende Kompensationselemente für das entfallende Arbeitsentgelt der Kinder, von der Schaffung alternativer Einkommensmöglichkeiten ganz abgesehen. Über den sozialen Hintergrund der arbeitenden Kinder in der Knüpfmanufaktur und ihren Beitrag zum Familieneinkommen haben wir nur rudimentäre Kenntnisse. Demnach entstammen die Kinder meist landlosen oder armen, kinderreichen und niedrigkastigen Familien, ihr durchschnittlicher Beitrag zum Familieneinkommen wird auf bis zu ein Viertel geschätzt
Über Effizienz, Effektivität und Nachhaltigkeit der durch Rugmark und Care&Fair geförderten Projekte und Programme gibt es noch keine Felduntersuchungen. Es gibt jedoch Erkenntnisse über ähnliche, ältere Versuche: Als 1972 die Bhutto-Regierung Kinderarbeit verbot, Mindestlöhne, Sozialversicherungspflicht, Arbeitsschutz usw. dekretierte, lösten sich Großmanufakturen im Teppichbereich zugunsten der Verlagerung in die Heimarbeit auf, die Lage der Teppichknüpfer verschlechterte sich bei Verbesserung der Möglichkeit zur Steuerhinterziehung für die Fabrikanten. In Nepal wurde 1994 regierungsseitig ein Zertifizierungssystem für kinderarbeitsfreie Teppiche eingeführt. Weder Schulstipendien noch finanzielle Kompensation für die freigesetzten Kinder und ihre Familien waren vorgesehen; die Überwachung der Manufakturen war unzureichend. In Indien versuchte die Regierung parallel zum Erlass des Child Labour Act (1986) Kinder-Teppicharbeiter in eigens für sie errichtete Schulen umzusetzen und zahlte ihnen dafür ein kleines Stipendium.
IV. Vorläufige empirische Erkenntnisse
Der Überblick über unsere bisherigen Kenntnisse zur Herkunft, zu den Arbeitsbedingungen der "Teppich-Kinder" und den Produktions- und Marktstrukturen zeigte erhebliche Wissenslücken, die geschlossen werden müssten, bevor sinnvolle Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Kinder und ihrer Familien eingeleitet werden. Zwei nicht sehr ausgedehnte Feldbesuche des Verfassers im indischen Teppichgürtel, deren Ergebnisse noch keinen repräsentativen Charakter beanspruchen, legen nahe, dass unsere Vorstellungen über die Verhältnisse in der indischen Teppich-Produktion und die Fähigkeit, in diese von außen wohlfahrtssteigernd einzugreifen, starker Revision bedürfen. Diese laufen darauf hinaus, dass es in der indischen Teppichmanufaktur erstens massenhaft Kinderarbeit gibt, die zweitens sowohl hinsichtlich der Arbeitsbedingungen (Arbeitstag von bis zu 15 Stunden in dunklen und ungelüfteten Hütten) als auch der Entlohnung (faktisch nichts) schamlos ausgenutzt wird von skrupellosen Exporteuren und deren Mittelsmännern, eine Situation, die sich drittens nur durch das Wirken von Rugmark und anderen Initiativen (und dem begleitenden Druck der Konsumenten in den Industrieländern) zu bessern beginnt, Initiativen, die viertens zur effektiven Kontrolle der Kinderarbeit und zur Rehabilitation der Betroffenen ohne wesentliche Streuverluste in der Lage sind. Die tatsächliche Situation stellt sich allerdings etwas differenzierter dar:
- Kinderarbeit hat dem Umfang nach in der indischen Teppichknüpfmanufaktur drastisch abgenommen. Bei meinen Besuchen in indischen Dörfern sind mir nur wenige, tatsächlich an Knüpfstühlen arbeitende Kinder begegnet; neuentdeckte Fälle bei Rugmark-Inspektionen tendieren gegen Null. Dies hat als wesentlichen Grund die Verschärfung der indischen Rechtsdurchsetzung. Es gibt ein Urteil des Obersten Gerichtshofes in Neu Delhi von 1996, dass es dem Unternehmer bei Strafe von 25 000 indischen Rupees (iRs) oder ersatzweiser Haft untersagt, Kinder in definierten gefährlichen Industriezweigen zu beschäftigen und im Streitfalle eine Kaution des indischen Unternehmers von mittlerweile 80 000 iRs verlangt. Dieses Urteil stellt unmittelbar geltendes Recht dar. In der Folge hat sich die einschlägige Inspektion indischer Betriebe intensiviert und verschärft. Interviews zufolge sollen indische Arbeits- und Finanzinspektoren mit Hinweis auf die nicht unerheblichen Geldstrafen ihre Bestechungsforderungen erheblich in die Höhe geschraubt haben, was die Unternehmer zum massenhaften Verzicht auf Kinderarbeit auch und gerade in der Teppichmanufaktur veranlasst hat. Man mag darüber spekulieren, ob das Urteil des Obersten Gerichts durch die negative internationale Presse zur Kinderarbeit in Indien beeinflusst worden ist, letztlich hat es aber nur ein seit 1986 geltendes Recht bestätigt und mit "Zähnen versehen". Die spannende Frage ist nun, ob die Kinder tatsächlich die Knüpfstühle verlassen haben oder nur beim Herannahen eines Inspektors (der indischen Regierung oder seitens Rugmark) ins freie Feld entweichen und - noch wichtiger - in welche Bereiche die Kinder abgewandert sind, wobei schulische Ausbildung, Mithilfe im Haushalt/in der Landwirtschaft, Rückkehr in die Herkunftsgebiete oder Abwanderung in andere, nicht regulierte und in der Regel schlechter bezahlte Arbeitsverhältnisse zur Auswahl stehen. Nach meinen vorläufigen Erkenntnissen ist nur ein kleiner Teil der früheren Teppichkinder eingeschult worden (v. a. weil es bislang zu wenig Einrichtungen für späte Einschuler gibt), der größere Teil aber (hauptsächlich nach Bihar, den ärmsten indischen Bundesstaat) ist rückgewandert und in anderen Beschäftigungsverhältnissen untergekommen.
- Die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in der indischen Teppichmanufaktur sind nicht idyllisch, aber doch besser, als sie von den Gewerkschaften in Industrieländern und von den NROs dargestellt werden. Arbeitszeiten von 15 Stunden und mehr sind schon technisch unmöglich. Die meisten Dörfer im Teppichgebiet verfügen über keine oder nur minimale Elektrifizierung. In Indien wird es im Winter um 7.30 Uhr hell und um 18.00 dunkel, im Sommer um 6.30 bzw. 19.00 Uhr. Das ergibt eine maximale Arbeitszeit von 10,5 bzw. 12,5 Stunden, von der noch die Mittagspause abgezogen werden muss. Zudem ist es in den Wintertagen morgens zu kalt zum Knüpfen (während meiner Anwesenheit nur wenige Grade über Null), im Sommer dagegen mittags zu heiß. Die effektive Arbeitszeit der befragten Knüpfer lag bei sechs (Winter) bis acht Stunden (Sommer), den Samstag eingeschlossen. Knüpfer mit Nebenerwerbslandwirtschaft arbeiten entsprechend weniger. Die Unterbringung der Knüpfer in nicht gerade luxuriösen Arbeitsstätten entspricht den Tatsachen; diese sind aber in der Regel ein Appendix der meist schäbigen, aus einem Raum bestehenden Behausung des Knüpfstuhlbesitzers, stellen also keine absichtliche Grausamkeit dar. Die Beleuchtung des Arbeitsplatzes ist mäßig; das hat aber freilich seinen Sinn. Würde man zuviel Licht hereinlassen, wäre es im Sommer unmäßig heiß und hell. So dunkel wie oft behauptet, kann es aber auch nicht sein, weil dann die Knüpfer die bis zu 20 verschiedenen Farben beim Knüpfen nicht unterscheiden könnten. Reguläre, erwachsene Arbeitskräfte beziehen nach den bisherigen Erhebungen einen Durchschnittslohn von 60 bis 70 iRs pro Tag, und zwar auf Stücklohnbasis (pro Quadratyard, gewichtet mit der Qualität des zu knüpfenden Teppichs), bei einer Arbeitszeit von sieben Stunden und durchschnittlicher Geschicklichkeit. Bei Überstunden kann die Entlohnung auf 100 iRs pro Tag steigen. Dies würde auf Monatsbasis das Gehalt eines Grundschullehrers (2000 iRs pro Monat) bereits erreichen. Mithelfende Kinder im Familienbetrieb des Vaters verdienen verständlicherweise wenig oder nichts, tragen aber natürlich zum Familieneinkommen bei. Familienfremde Kinder bekommen den gleichen Lohn wie Erwachsene, gemindert um die Tatsache, dass sie minderwertigere Qualitäten produzieren, die einen Lohnabschlag mit sich bringen. Kinder in Schuldknechtschaft verdienen sehr wenig, da sie die von ihren Eltern empfangenen Vorschüsse abarbeiten müssen. Sie sind die eigentlich Unterprivilegierten, die wohl auch am längsten arbeiten. Freilich gibt es solche Arbeitsverhältnisse kaum noch in der Teppichmanufaktur; ursächlich hierfür ist die Furcht indischer Unternehmer vor strafrechtlicher Verfolgung und dem Totalverlust der Vorschüsse für die Kinder.
Die Darstellung von Knüpfstuhlbesitzern, Kontraktoren und Exporteuren als skrupellose Ausbeuter von Kinderarbeit bedarf deutlicher Modifikation. Die Knüpfstuhlbesitzer sind für unsere Begriffe in bezug auf Wohlstand kaum von den Knüpfern zu unterscheiden. Sie "besitzen" in der Regel ein bis vier Knüpfstühle (also nicht riesige Fabrikhallen), wobei das Kapital hierfür, für die verarbeitete Wolle und für die Arbeitslöhne von den Kontraktoren/Exporteuren vorgeschossen wird. Ihr Luxus besteht im allgemeinen aus dem Besitz eines Fernsehgerätes und eines Motorrades/Fahrrades (zum Transport der Teppiche). Die Exporteure bezahlen die Teppiche nach Fläche und Qualität. Sie heuern die Arbeitskräfte nicht an, profitieren von Kinderarbeit also auch nicht. Gleiches gilt für die Kontraktoren, die zuweilen zwischengeschaltet sind und eine Provision von zehn bis 15 Prozent auf den gefertigten Teppich erhalten. Der einzig mögliche Nutznießer der Kinderarbeit ist der Knüpfstuhlbesitzer, das schwächste Glied in der Kette, der auch die Vorschüsse für Kinder in Schuldknechtschaft leistet. Die indische Teppichmanufaktur ist viele Jahrzehnte ohne Kinderarbeit ausgekommen, erst die massiv steigende internationale Nachfrage nach indischen Teppichen (namentlich aus der Bundesrepublik Deutschland) im Gefolge der deutlichen Verteuerung persischer Teppiche und der Erschließung neuer, weniger wohlhabender Kundenkreise im Westen, haben in den späten Siebziger- und Achtzigerjahren zu einem nachhaltig stärkeren Einsatz von Kinderarbeit geführt.
Die lokalen Teppichexporteure sind auch nach unseren Maßstäben wohlhabend, nach indischen leben sie im Luxus. Das schürt allerlei Ressentiments, zumal es sich bei ihnen überwiegend um Moslems handelt. Ihnen ein übertrieben starkes soziales Gewissen zu unterstellen, wäre verfehlt. In der Tat haben sie das Thema Kinderarbeit zunächst geleugnet, dann verniedlicht und sich erst spät zu der Erkenntnis durchgerungen, dass weiteres Beharren auf ihrem Standpunkt geschäftsschädigend sein könnte.
Das überraschendste Ergebnis der Feldforschung war die Erkenntnis, dass die Exporteure, teils aus eigenem Antrieb, teils unter dem Druck der internationalen Öffentlichkeit bereits in beachtlichem Maße soziale Aktivitäten entfalten. Viele haben sich - oft unter Mithilfe der Importeure (im Wesentlichen aus der Bundesrepublik, den Niederlanden, der Schweiz und den USA) - als Sponsoren von Schulen und Krankenhäusern profiliert, dabei oft ihren eigenen Grund und Boden eingebracht und die Baukosten getragen. Von den Teppich-Initiativen musste deshalb vielfach nur der laufende Unterhalt dieser Einrichtungen finanziert werden. Gründe für diese relative Generosität ist wohl das Bestreben, sich durch soziales Engagement politisches und soziales Wohlwollen zu erkaufen. Die von ihnen finanzierten Projekte sparen nicht mit Hinweisen auf den Geber, als Projektmanager werden oft der lokale Bürgermeister oder ähnliche politische Größen eingespannt, die dann ihrerseits mit den Projekten auf Stimmenfang gehen können. Schließlich sind die Exporteure oft ethnisch und religiös von ihrer Umgebung geschieden, was im kommunal aufgeheizten politischen Klima in Indien ein gewisses soziales Engagement als Überlebensstrategie nahelegt. Zuletzt kennt Indien (und vor allem der moslemische Teil des Landes) eine lang anhaltende Tradition des Almosens für die Bedürftigen, dem nicht von vornherein jede verhaltenssteuernde Wirksamkeit abgesprochen werden kann.
- Recht eindeutig hat sich der schon andernorts geäußerte Verdacht, eine umfassende Kontrolle kinderarbeitsfreier Teppichmanufaktur sei nicht möglich, erhärtet. Da Rugmark (und Step) seine Existenzberechtigung genau mit der gegenteiligen Behauptung rechtfertigt, bedarf diese Erkenntnis aber noch der Erhärtung. So viel zunächst: Es gibt in Indien etwa 180 000 Knüpfstühle in mehreren Gebieten, von denen der Teppichgürtel Bhadohi/Mirzapur das bedeutendste ist. Aber auch das letztgenannte Gebiet umfaßt bereits eine Fläche von den Ausmaßen Niedersachsens. Seine Tausende von Dörfern, auf die sich die Knüpfstühle verteilen, sind oft nur sehr schwer, über winzige, nicht asphaltierte Sträßchen zugänglich, auf denen die Durchschnittsgeschwindigkeit eines PKW auf ca. 15 km in der Stunde sinkt. Die Exporteure kontrollieren im Durchschnitt etwa je 80 Knüpfstühle (mit deren Besitzern sie freilich meist gar nicht direkt, sondern über die Kontraktoren verhandeln), die bei unterschiedlichen Initiativen registriert sein können und je nach Marktlage und Nachfrage unterschiedlich ausgelastet werden. Eine flächendeckende Kontrolle ist deswegen nicht möglich, weil Rugmark nur über 17 Inspektoren (Anfang 2000) verfügt, die ca. 28 000 Knüpfstühle überprüfen müssen. Da pro Tag maximal 20 Knüpfstühle überprüft werden können, vor Ort aber dazu zunächst nur vier Fahrzeuge zur Verfügung standen, können die vier möglichen Teams (à 2 Inspektoren) jeden Knüpfstuhl nur etwa alle 15 Monate examinieren. Das statistische Risiko möglicher Entdeckung von Kinderarbeit ist also gering. Es wird noch gemindert durch die Tatsache, dass das zwangsläufig langsame Herannahmen eines Automobils in einem indischen Dorf, extrem auffällig ist und zum schnellen Abzug der Kinder genutzt werden könnte. Auf den von mir begleiteten Inspektionsfahrten konnten Kinderarbeiter daher auch nur dort entdeckt werden, wo der Knüpfstuhl in unmittelbarer Nähe der Hauptstraße lag. Exporteure können überdies durch die (in der Regel gegebene) Zugehörigkeit zu verschiedenen Initiativen mit den "Labels" jonglieren. Dies auch, weil sie diese in jeweils gewünschter Menge ordern können.
- Die sozialen Aktivitäten der vier (und weiterer) Teppich-Initiativen sind ansehnlich, dienen aber nur zum geringeren Teil der Rehabilitation und schulischen Ausbildung ehemaliger Kinderarbeiter in diesem Sektor. Leistungsfähigkeit, Verwaltungsaufwand und Wirkung der geförderten Projekte sind bei den Initiativen (und dem massiven, von der Zentralregierung geförderten Programm gegen Kinderarbeit allgemein) nach ersten Eindrücken sehr unterschiedlich.
Den schlechtesten Eindruck vermittelten die Aktivitäten der offiziösen Kaleen-Initiative. Offiziös, weil sie unter Druck der Regierung und in Reaktion auf die Rugmark-Kampagne ins Leben gerufen wurde, teilweise weil Letztere als ausländisch (= deutsch) unterwandert galt, teils wegen Differenzen bei der Besetzung von Leitungspositionen. Kaleen beruht auf der nicht ernstlich kontrollierten Selbstverpflichtung der exportierenden Zwangsmitglieder, keine Kinderarbeit in den ihr angeschlossenen Betriebe zu dulden. Aus den erhobenen Prämien wird ein Sozialfonds gespeist, der schulische und Gesundheitsprojekte indischer NGO unterstützt. Der größere Teil der Mittel wird allerdings für die Registrierung der Knüpfstühle und der Exportbetriebe verwandt, was angesichts der sich dauernd ändernden Zahl dieser Einrichtungen erhebliche Probleme verursacht. Knüpfbetriebe entstehen nämlich stets neu, schließen oder verlegen ihren Standort. Für soziale Projekte bleibt nur ein relativ bescheidener Betrag, der bislang für die Einrichtung von 24 Schulen aufgewandt wurde, wobei die relativ große Zahl den geringen Umfang der Schulen (meist nur zwei Klassen) kaschiert. Eine Liste der finanzierten Schulen war nicht verfügbar, wie auch insgesamt die Verwaltung von Kaleen einen eher chaotischen Eindruck hinterließ. Geförderte Schüler sind nicht notwendigerweise ehemalige Kinderarbeiter, sondern ganz generell Kinder armer Leute, wobei die Definition von "arm" dem Belieben des Schulleiters überstellt wird. Der Standard der geförderten Schulen ist dürftig, die Bezahlung der Lehrer sehr bescheiden, allerdings werden armen Kinder fallweise Stipendien (von 100 iRs pro Monat) gewährt.
Die Projektaktivitäten von Rugmark, das vom BMZ, den deutschen Kirchen, amnesty international etc. unterstützt wird, hinterließen keinen sehr viel besseren Eindruck. Ein großer Teil der Mittel wird für die Inspektion der Knüpfstühle aufgewandt (etwas über die Hälfte der Gesamtausgaben), ein nicht unbeträchtlicher Rest entfällt auf Verwaltungskosten. Entsprechend wenig bleibt für Einzelprojekte übrig. Rugmark betreibt lediglich vier Schulen mit rund 500 Schülern, ein Rehabilitierungszentrum (62 ehemalige Schuldknechte) und ein Fortbildungszentrum für erwachsene Knüpfer (rund 90 Nutznießer). Allerdings sollen in den Schulen nur ehemalige Kinderarbeiter unterkommen, eine Behauptung, die nicht näher überprüft werden konnte. Dem Rehabilitierungszentrum gehen angesichts massiv rückläufiger Schuldknechtschaft langsam die Schüler aus, die Schulen haben einen sehr bescheidenen Standard. Das Büro von Rugmark in Varanasi befand sich dagegen zunächst in teurer, gut wahrnehmbarer Lage, Dienstreisen des Vorstandes finden nach Auskunft (vermutlich etwas böswilliger Exporteure) in der Luxusklasse statt.
Vergleichsweise viel vorzuweisen hat Care&Fair, einer wegen ihres Verzichts auf Kontrolle der Kinderarbeit vor Ort oft negativ angesehenen Initiative. Care&Fair hat nur 130 Mitglieder (alles Exporteure), hat aber bislang (nach gewissen Anlaufschwierigkeiten) 16 Schulen erstellt (für über 6000 Schüler) und zehn Krankenhäuser/Polikliniken mit einem Patientendurchlauf von etwa 12 000 pro Monat). Die Mittel für diese Einrichtungen kommen nicht nur aus den Prämien, sondern vielfach aus Stiftungen der Mitglieder (v.a. die Überlassung von Grundstücken und die Übernahme der Baukosten), der Standard der Schulen und Krankenstationen liegt deutlich über dem indischen Durchschnitt, so dass die Schulen einen erheblichen Überhang an Bewerbern haben. Wie bei den anderen Initiativen werden die Kosten des Schulbesuchs (Mittagsmahl, Bücher, Uniformen) von Care&Fair übernommen, ein Stipendium gibt es hier aber nicht, weil die Organisation mögliche Zweckentfremdung fürchtet. Die Schulen und Krankenhäuser befinden sich direkt im Teppichgürtel, die Zulassung zu diesen Einrichtungen und die Kostenübernahme unterliegt einer einfachen Einkommensschätzung. Care&Fair kommt nach eigenen Aussagen mit einem Verwaltungskostenaufwand von sechs bis sieben Prozent des Prämienaufkommens aus; dies ist Folge der wenig aufwendigen Vergabeverfahren und der Kostenübernahme einzelner Positionen durch die Mitglieder.
V. Schlussbemerkung
Druck von außen zur Verbesserung der Sozialstandards in Gestalt von Siegelungsaktivitäten kann also durchaus erfolgreich sein. Wie das indische Beispiel zeigt, ist Kinderarbeit im engeren Teppichgürtel stark zurückgegangen, Kinderarbeiter in Schuldknechtschaft gibt es fast gar nicht mehr. Dieser Erfolg wird dadurch nur geringfügig geschmälert, dass er auch und vielleicht mehr durch die schärfere Rechtsdurchsetzung in Indien ermöglicht wurde, weil sich diese partiell internationalem Druck verdankt. Freilich machen sich die Initiativen durch ihren Erfolg auch überflüssig, wenn sie ihre Existenzberechtigung weiter vornehmlich in der Kontrolle von Kinderarbeit sehen. Es kommt hinzu, dass deren Eliminierung in einem Sektor noch nicht garantiert, dass freigesetzte Kinder die Schule besuchen oder nach deren Besuch in besseren Verhältnissen unterkommen, solange sich nicht die allgemeinen Verhältnisse in der Region so weit gebessert haben, dass sich Beschäftigungsalternativen auftun oder die Entlohnung der bisherigen steigt. Wenn nicht sozialer Fortschritt generell angestoßen werden kann oder Produzenten bessere Preise für ihre Produkte erzielen können, so muss daher das Fazit lauten: Die Kontrolle der Kinderarbeit bleibt weitgehend ein Alibi zur Beruhigung unseres schlechten Gewissens.