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Kinder in der Dritten Welt  Editorial  Die Situation der Kinder in der Welt Kindheit in der Dritten Welt Vom Sextourismus zur Kinderpornografie Kinderarbeit in Entwicklungsländern Der Schutz von Kindern durch die UN-Kinderkonvention

Die Situation der Kinder in der Welt

Michael Klaus

/ 6 Minuten zu lesen

Wie dramatisch ist die Lage der Kinder in den Dritte-Welt-Ländern? Hoffnung kann es vielleicht nur dann geben, wenn der Teufelskreis von Armut und Unterdrückung überwunden werde.

Einleitung

Das 20. Jahrhundert sollte ein "Jahrhundert des Kindes" werden. So wünschten es sich die europäischen Reformpädagogen vor 100 Jahren. Doch es wurde ein "Jahrhundert der Widersprüche". Zu Beginn des 21. Jahrhunderts muss die Bilanz deshalb zwiespältig ausfallen: Enormen Fortschritten im technischen, medizinischen und sozialen Bereich stehen unvorstellbare Verbrechen an Kindern und zahlreiche neue Herausforderungen gegenüber. Was hat sich verbessert?

- Die Kindersterblichkeit ist in den zurückliegenden drei Jahrzehnten halbiert worden - vor allem durch breitangelegte Impfkampagnen. Diese retten jährlich mindestens drei Millionen Kindern das Leben. Heute sind 80 Prozent der Kinder gegen Masern, Keuchhusten, Tetanus, Tuberkulose, Kinderlähmung und Diphtherie geimpft - im Vergleich zu fünf Prozent im Jahr 1960.

- Verschmutztes Trinkwasser ist die Hauptursache für 80 Prozent aller Krankheiten. Neu entwickelte, kostengünstige Techniken ermöglichten, dass allein im vergangenen Jahr 200 Millionen Menschen erstmals Zugang zu sauberem Wasser erhielten.

- 1960 besuchten weniger als die Hälfte der Kinder in den Entwicklungsländern eine Grundschule. Heute werden 80 bis 90 Prozent der Kinder in den Ländern des Südens zumindest eingeschult. Worunter leiden aber Kinder heute?

- Noch immer sterben jedes Jahr über elf Millionen Kinder vor ihrem fünften Geburtstag. Die meisten erliegen Krankheiten, gegen die es längst wirksame Medikamente und Impfstoffe gibt.

- Die Schere zwischen Reich und Arm wird immer größer. 600 Millionen Kinder wachsen in extremer Armut auf.

- 90 Prozent der Opfer in bewaffneten Konflikten sind Frauen und Kinder. Seit 1990 sind über zwei Millionen Kinder im Krieg umgekommen. Sechs Millionen wurden verwundet.

- Mädchen haben in vielen Ländern bis heute schlechtere Lebensbedingungen als Jungen. Aufgrund der erhöhten Mädchensterblichkeit "fehlen" weltweit nach Schätzungen zwischen 60 und 100 Millionen Frauen.

Zu Beginn des 21. Jahrhundert sind die Unterschiede in den Lebensbedingungen der Kinder so groß wie nie zuvor. Auf den Devisenmärkten wechseln täglich rund 1,5 Billionen Dollar den Besitzer. Gleichzeitig wächst die Zahl der Armen. 1,2 Milliarden Menschen haben weniger als einen Dollar am Tag zur Verfügung, um zu überleben. Das heißt, jeder fünfte Erdenbewohner wächst in extremer Armut auf. Die Hälfte von ihnen sind Kinder. 1960 betrug die Einkommensdifferenz zwischen dem ärmsten und dem reichsten Fünftel der Weltbevölkerung 1 zu 30. 1997 waren es bereits 1 zu 74. In Brasilien beispielsweise entfallen nur 2,5 Prozent des Volkseinkommens auf die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung. Das reichste Fünftel bringt es dagegen auf fast 65 Prozent.

Zwischen 1945 und 1992 gab es weltweit rund 150 "größere Kriege". Gegenwärtig leiden rund 540 Millionen Kinder unter den direkten oder indirekten Folgen - sei es, dass in ihrer Heimat gekämpft wird, sei es, dass ein Konflikt unterschwellig brodelt, sei es, dass sie aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Von den weltweit 31 Millionen Flüchtlingen und Inlandsvertriebenen sind rund die Hälfte Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.

Kinder sind in Kriegen und bewaffneten Konflikten besonders gefährdet. Vielerorts werden sie bewusst angegriffen und getötet. Oft entführen Kriegsparteien auch gezielt Kinder und zwingen sie, unvorstellbare Gräueltaten zu begehen. 300 000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren werden nach UNICEF-Schätzung gegenwärtig weltweit als Soldaten und Kämpfer ausgebeutet. Die große Verbreitung von und der leichte Zugang zu Kleinwaffen wie Maschinenpistolen haben einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung.

Ein Thema, das auch in den Entwicklungsländern tabuisiert wird, ist AIDS. Diese Immunschwächekrankheit fordert immer mehr Opfer. 16 Millionen Menschen sind daran bereits gestorben, 13 Millionen davon in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Allein im vergangenen Jahr fielen der Seuche dort zehn Mal mehr Menschen zum Opfer als in Kriegen und bewaffneten Konflikten. Neun Prozent der Kinder in Sambia haben die Mutter oder beide Elternteile durch AIDS verloren. In Uganda sind es sogar elf Prozent. Ende 2000 wird die Zahl der AIDS-Waisen nach Schätzungen weltweit auf 13 Millionen gestiegen sein. Großeltern, sonstige Verwandte oder die Dorfgemeinschaft, die sich vielerorts traditionell verwaister Kinder annehmen, sind zunehmend überfordert. Immer mehr AIDS-Waisen müssen sich alleine durchschlagen.

Und viele Kinder werden auch selbst Opfer der Seuche. Meist sind es Neugeborene, die sich bei der Geburt oder durch die Muttermilch anstecken. Allein 1998 starben 510 000 Kinder an den Folgen von AIDS. In Afrika steigt die Kindersterblichkeitsrate deshalb bereits wieder. Die Erfolge der vergangenen Jahrzehnte im Gesundheitsbereich werden dadurch zunichte gemacht. Am stärksten gefährdet ist jedoch die Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen. Elf Millionen haben sich bereits infiziert. Jede Minute kommen fünf weitere hinzu. Besonders betroffen sind die Mädchen. Aufgrund ihrer niedrigen gesellschaftlichen Stellung können sie meist nicht selbst über ihre Geschlechtspartner entscheiden oder den Gebrauch von Kondomen durchsetzen. Eine fatale Mischung aus Tabuisierung des Problems und Stigmatisierung der Opfer hat in Afrika wesentlich zu der rasanten Ausbreitung der Seuche beigetragen.

Was ist zu tun? Zuerst gilt es, Wege aus der Armutsfalle aufzuzeigen. Beispielsweise durch die flächendeckende Bereitstellung sozialer Grunddienste. Um allen Menschen den Zugang zu einer Basisgesundheitsversorgung, einer Grundschulbildung, sauberem Trinkwasser und Maßnahmen der Familienplanung zu verschaffen, wären jährliche Mehrausgaben von 70 bis 80 Milliarden US-Dollar nötig. Um diese Summe aufbringen zu können, müssten die Entwicklungs- und Industrieländer gezielt in die sozialen Grunddienste investieren. 20 Prozent ihrer Haushaltsausgaben bzw. ihrer Entwicklungshilfe müssten die Länder dafür zur Verfügung stellen. Die sogenannte 20/20-Initiative wurde bereits beim Weltsozialgipfel 1995 in Kopenhagen auf den Weg gebracht. Doch bis heute sind die meisten Länder von diesem Ziel weit entfernt.

In vielen Entwicklungsländern verhindert die hohe Verschuldung eine Kehrtwende. Kamerun z. B. wandte 1996/97 vier Prozent seines Haushaltes für Basisgesundheit, Grundbildung und sauberes Wasser auf. 36 Prozent flossen in den Schuldendienst. In Tansania waren die Aufwendungen für Zins und Tilgung vier Mal so hoch wie die Ausgaben für die Grundschulen und neun Mal so hoch wie die für die medizinische Basisversorgung.

Hinzu kommt, dass die Industrieländer ihre Entwicklungshilfeleistungen weiter zurückfahren. Würden sich alle Geberländer an das vereinbarte Ziel halten und 0,7 Prozent ihres BSP in die Entwicklungshilfe stecken, stünden dafür jährlich 100 Mrd. US-Dollar mehr zur Verfügung. Dies würde reichen, um in den Entwicklungsländern ein für alle zugängliches Netz von sozialen Grunddiensten aufzubauen.

Der Kampf gegen AIDS erfordert eine umfassende Strategie, wie sie sich in vielen Industrieländern bereits als erfolgreich erwiesen hat. Dazu gehören allen zugängliche HIV-Tests, eine effektive Hilfe und Betreuung der Erkrankten, Unterstützung der AIDS-Waisen und eine offensive Aufklärung über die Ansteckungswege. Doch bisher beschränken sich die Investitionen meistens auf die wohlhabenden Länder, in denen wesentlich weniger Menschen betroffen sind. UNICEF setzt in seinen AIDS-Programmen vor allem auf die junge Generation. In Uganda und Kenia unterstützt die Organisation Rundfunkprogramme und eine Zeitung, in denen Jugendliche ihren Altersgenossen beschreiben, wie man sich vor AIDS schützen kann. In Malawi hat UNICEF den Aufbau einer nationalen Politik für AIDS-Waisen unterstützt.

Die neunziger Jahre haben das weltweite Engagement für Kinder ein wichtiges Stück voran gebracht. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistete die UN-Konvention über die Rechte des Kindes von 1989. Sie gibt Orientierungsmarken für die Schaffung einer kinderfreundlichen Gesellschaft vor. Die Konvention formuliert Standards, die alle Bereiche betreffen: die Gesellschaft genauso wie die Familie, die Rechtsprechung ebenso wie die Kinder- und Jugendpolitik. Nie zuvor sind so viele Staaten einem Menschenrechtsabkommen beigetreten. Fast alle Staaten haben die Konvention mittlerweile ratifiziert. Nur die USA und Somalia fehlen noch. Viele änderten oder ergänzten ihre Gesetze, einige nahmen die Kinderrechte sogar in die Verfassung auf. Die lange Liste der Probleme und Verbrechen, unter denen Kinder bis heute leiden, zeigt aber auch, dass sich zwischen der weltweiten Anerkennung der Kinderrechte und ihrer Umsetzung eine tiefe Kluft auftut.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht die Menschheit vor der Herausforderung, diese zu schließen. Bei der Gestaltung der Zukunft müssen die Kinder als Mittelpunkt der Entwicklung begriffen werden. Der Einsatz für ihre Rechte ist der Ausgangspunkt verantwortlichen Handelns für eine bessere Welt. Aufgabe für die kommenden Jahrzehnte wird es deshalb sein, die Belange der Kinder ganz oben auf die politische Tagesordnung zu bringen. Nur so können die sozialen Probleme der Menschheit gelöst werden. So kann aus dem 21. Jahrhundert ein "Jahrhundert des Kindes" werden.

Redakteur und Journalist; geb.1960; seit 1997 beim Deutschen Komitee für UNICEF als Bereichsleiter Grundsatz und Information.

Anschrift: Deutsches Komitee für UNICEF e. V., Höninger Weg 104, 50969 Köln.

Zahlreiche Veröffentlichungen zur UN-Kinderrechtskonvention, Kindheit in Deutschland, Kinder in Osteuropa, Kinderarbeit und Straßenkinder, Kinder im Krieg.