Einleitung
Im Zusammenhang mit der öffentlichen Diskussion um Aggression und Gewalt, insbesondere von Kindern und Jugendlichen, werden z. T. empirisch nicht abgesicherte Annahmen, diffuse Konzepte und nicht begründbare Präventions- und Interventionsansätze ins Spiel gebracht. Klärungen und Präzisierungen würden Prävention und Intervention effektiver gestalten, wozu wir mit den hier vorgelegten Überlegungen beizutragen versuchen. Wir plädieren dafür, die Diskussion um den Einsatz physischer Gewalt von anderen Formen der Einwirkung auf Menschen oder Sachen zu trennen. Eine solche Einschränkung könnte dabei helfen, einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber herbeizuführen, auf Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit sowohl von staatlicher Seite als auch in alltäglichen Interaktionen unmittelbar sanktionierend zu reagieren.
I. Was ist eigentlich los? Die empirische Basis
MedienberichteVgl. Der Spiegel, (1994) 3; Stern, (1999) 47. erwecken zuweilen den Eindruck, Deutschland und Deutschlands Schulen gingen unter in einer Welle von Gewalt. Ein solcher Eindruck ist falsch. Richtig ist, dass es in Deutschland tatsächlich im Verlaufe der letzten zehn Jahre eine quantitative Zunahme an physischer Gewalt gegeben hat, auch unter Jugendlichen
Auf der Basis empirischer Erhebungen kann als gesichert gelten, dass
- physische Gewalt vornehmlich von männlichen Tätern zum Einsatz gebracht wird
- der Ort des Einsatzes von Jugendgewalt weniger die Schule ist als die Straße und andere öffentliche Räume und die verschiedenen Schultypen in sehr unterschiedlichem Maße betroffen sind (Sonder- und Hauptschulen haben stärker unter Gewalt zu leiden als Real- und Gesamtschulen, Gymnasien weisen die geringste Gewaltrate auf
- die Zunahme an Gewalt unter Jugendlichen zumindest teilweise auf einen relativ kleinen Teil von Mehrfachtätern zurückgeht
Darüber hinaus deutet vieles darauf hin, dass
- die Austragungsformen physischer Gewalthandlungen eskalieren, weil die Kriterien für den Abbruch physischer aggressiver Attacken sich verändern oder ganz verschwinden - das Opfer wird auch dann noch malträtiert, wenn es bereits wehrlos auf dem Boden liegt - und
- die Symbolisierung oder Realisierung von physischer Gewalt zunehmend zum Identifikationskriterium von bestimmten Jugendgruppen wird
II. Worüber reden wir überhaupt?
Die Begriffe "Aggression" und "Gewalt" werden wissenschaftlich
Mit einer solchen Beschränkung der Diskussion auf physische Aggression und Gewalt wollen wir nicht behaupten, dass es andere Formen der Belästigung und Schädigung unter Jugendlichen nicht gibt oder dass diese Formen der gegenseitigen Beeinträchtigung zu verharmlosen seien. Aber ein zerrissener Schulranzen ist qualitativ etwas anderes als eine blutende Nase. Der Verweis auf die Vermeidungsabsicht des Opfers bei der Festlegung des Gegenstandsbereichs ist wichtig, um endlose Debatten darüber auszuschließen, ob es akzeptabel ist, dass Kinder spielerisch miteinander raufen. Solange beide Seiten dies wollen, sollte das Verhalten nicht unter dem Etikett der physischen Aggression behandelt werden
Der Vorteil einer Konzentration auf physische Aggression liegt darin, dass auf diese Weise Maßnahmen gezielter zum Einsatz gebracht werden können, nämlich gegen physische Aggression und nicht für oder gegen diffuse andere Ziele. Damit wird auch die Kontrolle des Erfolgs von Maßnahmen zum Abbau von physischer Gewaltbereitschaft effektiver; der Erfolg wird eindeutiger interpretierbar. Neben dieser pragmatischen und für die Verteilung von Geldmitteln für Interventionsprogramme wichtigen Konsequenz ergibt sich aus einer solchen Verengung der Perspektive vor allem der Effekt, dass mit dem Hinweis auf Gewaltprävention nicht mehr nahezu beliebige Sanktionen gegen (politische, ethnische etc.) Abweichler und Unliebsame zu rechtfertigen sind. Eine soziale Erziehung mit dem Ziel physischer Gewaltfreiheit beinhaltet nicht den Verzicht auf die Vermittlung von Kompetenzen zur Wahrung eigener Rechte und Interessen.
Fazit: Eine eingeschränkte Begriffsverwendung macht Interventionen bewertbar und vermindert die Gefahr des politischen Missbrauchs.
III. Was sind mögliche Ursachen?
Die Ursachen für die Entstehung physischer Gewalt sind vielfältig, sie können auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen: Soziologische Erklärungen führen sie beispielsweise auf gesellschaftliche Benachteiligungen zurück (Individualisierungsthese)
- Bekräftigungslernen: Danach wird physische Aggression gezeigt, weil dieses Verhalten Belohnung nach sich zieht. Die Belohnung kann bestehen in der Erreichung eines materiellen Ziels: Der Räuber erhält das geraubte Gut, oder die aggressive Tat steigert das Selbstwertgefühl, sie führt zur Beachtung und Anerkennung bei Gleichaltrigen usw.
- Beobachtungslernen: Physisch aggressives Verhalten wird durch die Beobachtung von Personen erworben, die sich aggressiv verhalten. So erlerntes aggressives Verhalten wird dann zum Einsatz gebracht, wenn dies erfolgversprechend erscheint, d. h. Bekräftigung (s. o.) verspricht.
Einige Fälle von Aggression sind allein unter Rückgriff auf die angeführten Lernmechanismen zu erklären: Der kühl kalkulierende Täter hat nur den Erfolg, d. h. seine Bekräftigung, im Auge. In anderen Fällen ist die Entstehung von physischer Aggression multikausal bedingt. Richtig ist, dass Frustrationen, Selbstwertschädigungen u. ä. die Auftretenswahrscheinlichkeit physisch aggressiven Verhaltens erhöhen. Dies ist aber (fast immer) nur dann der Fall, wenn die handelnde Person gelernt hat, auf diese psychischen Zustände mit physischen Attacken gegen andere zu reagieren. Frustration und Selbstwertschädigungen können anderenfalls auch Resignation oder Rückzug nach sich ziehen. Und natürlich geht die Häufigkeit physischer Aggression mit gesellschaftlicher Benachteiligung einher - u. a. deshalb, weil gesellschaftliche Benachteiligung die Schaffung einer Lernumwelt begünstigt, die wiederum auf dem Wege über Bekräftigungs- und Beobachtungslernen zu aggressivem Verhalten führen kann. Gesellschaftliche Benachteiligung, Selbstwertverletzungen und Frustrationen tragen somit unbestritten zur Entstehung von Gewaltbereitschaft bei, allerdings in der Regel nur in Verbindung mit Lernerfahrungen.
Fazit: Eine Vereinfachung der Modellvorstellungen könnte pragmatisch hilfreich sein.
IV. Wer ist schuld und wer ist in Verantwortung zu nehmen?
Welche Akteure und Institutionen begünstigen oder erschweren den Erwerb physisch aggressiver Verhaltensweisen? Für Kinder und Jugendliche sind dies Eltern, die Schule, Gruppen von Gleichaltrigen und die Medien. Beobachtungslernen ist bei all diesen für die Sozialisation wichtigen Personen, Institutionen und Gruppen von Bedeutung. Physisch aggressive Kinder haben beispielsweise häufig selbst Gewalterfahrungen in ihren Familien gemacht
Bekräftigungslernen wird im Zusammenhang mit Personen - Eltern und Geschwister, Lehrer und Gleichaltrige - realisiert. Vor allem Jungen werden für die physisch aggressive Durchsetzung eigener Interessen immer noch gelobt, und unter Gleichaltrigen wird die Ausführung physisch aggressiver Handlungen häufig mit der Aufnahme in eine Gruppe oder mit dem Aufstieg innerhalb von Gruppen belohnt.
Die Frage der Verantwortung für die Entstehung von jugendlicher Aggression ist nicht durch Verweis auf einzelne der oben aufgeführten Personen oder Institutionen zu beantworten - bei der Entstehung von physischer Gewaltbereitschaft wirken diese zusammen. Aber wenn es um die Frage der Prävention und Verminderung der Bereitschaft zum Einsatz physischer Gewalt geht (s.u.), sind alle Beteiligten mit unterschiedlicher Verbindlichkeit zur Beteiligung zu verpflichten. Der Hinweis auf die Verantwortung der Familie ist richtig, aber häufig auch müßig, haben doch die Eltern aggressiver Kinder oft selbst schon unter der physischen Gewalt ihrer Eltern gelitten usw. Auch Lernerfahrungen mit Gleichaltrigen sind direkt nur schwer zu beeinflussen. Im Gegensatz dazu besteht aber die Möglichkeit staatlicher Einflussnahme auf Sozialisationspraktiken der Schule, und auch die Gestaltung von Medieninhalten ist von staatlicher Seite beeinflussbar.
V. Was ist zu tun?
Wenn man akzeptiert, dass physisch aggressives Verhalten unter wesentlicher Beteiligung von Lernprozessen entsteht, ergibt sich daraus, dass auch der Abbau physischer Aggression durch Lernprozesse zu beeinflussen ist. Gewaltprävention setzt entsprechend gestaltete Lernumwelten voraus. Kinder müssen unter Bedingungen aufwachsen können, die gesellschaftliche Benachteiligungen und die damit einhergehenden Frustrationen und Selbstwertverletzungen weitgehend vermeiden.
Hans-Dieter Schwind
Der Umgang mit bereits bestehender physischer Aggressionsneigung und deren Reduktion müssen auf die Beseitigung der auf Aggression folgenden bekräftigenden Konsequenzen bauen. Dies ist theoretisch leichter gesagt als in der Praxis umgesetzt: Das in der Schule durch physische Aggression auffallende Kind beispielsweise erhält seine Bekräftigung häufig durch die Aufmerksamkeit, die der Gewaltakt nach sich zieht. Wie sollen die Lehrerin oder der Lehrer die physische Aggression unterbinden, ohne dem Schüler Aufmerksamkeit zuzuwenden? Aus theoretischer Sicht ist auch Bestrafung unter bestimmten Bedingungen geeignet, physisch aggressives Verhalten zu reduzieren und abzubauen. Auch Olweus
Welche Entscheidung auch immer darüber fällt, wie aggressives Verhalten reduziert werden soll, wesentlich für jegliche Intervention ist ihre Kontingenz. Das bedeutet: Nur wenn physische Aggression für den Akteur unmittelbare Konsequenzen nach sich zieht, ist die Intervention erfolgversprechend. Umgekehrt reduziert sich aus lernpsychologischer Perspektive die Effektivität von Maßnahmen gegen null, wenn beispielsweise eine physische Attacke in der Schule erst eine Woche später durch ein Gespräch beim Schulleiter aufgearbeitet wird, wenn das Jugendamt nach zwei Monaten tätig wird oder wenn im Falle einer Behandlung durch die Gerichte der Prozess nach zwei Jahren stattfindet.
Wir fordern, auf allen Ebenen, d. h. in der interpersonalen Begegnung ebenso wie in der institutionellen Behandlung von physischer Aggression, auf Laissez-faire zu verzichten. Eine Unkultur des Wegschauens ist nicht zu tolerieren. Sie drückt sich darin aus, dass Lehrer und Lehrerinnen physische Auseinandersetzungen auf dem Schulhof einfach übersehen, dass Mitfahrende in Bus und Bahn Attacken auf andere Mitfahrer ignorieren oder dass Behörden auf die Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit mit Gleichgültigkeit oder Verzögerung reagieren.
Um nicht missverstanden zu werden: Wir fordern die Einhaltung von Kontingenz, nicht die Verschärfung der Schwere von Sanktionen. D. h., physische Gewalt muss zu Konsequenzen für den Täter führen, der (potentielle) Täter muss dies wissen und voraussehen können. Ist der Einsatz einer Intervention zur Reduzierung physischer Aggression nicht erfolgreich, ist es notwendig, weitere Interventionen, auch dem Täter bewusst, in der Hinterhand zu halten.
Über das Recht auf körperliche Unversehrtheit scheint es in demokratischen Staaten einen weiten gesellschaftlichen Konsens zu geben. So ist in Artikel 19 der Konvention über die Rechte des Kindes ausdrücklich festgelegt, dass Kinder vor jeglicher körperlicher Gewalt zu schützen sind