Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

E-Voting in Estland: Vorbild für Deutschland? | Wählen gehen | bpb.de

Wählen gehen Editorial Was entscheidet die Wahl? Zu Themen und Wahlmotiven im Superwahljahr 2017 Warum wählen wir? Zur Etablierung und Attraktivität von Massenwahlen Garantieren Wahlen demokratische Legitimität? Für eine Wahlpflicht Gegen eine Wahlpflicht E-Voting in Estland: Vorbild für Deutschland?

E-Voting in Estland: Vorbild für Deutschland?

Markus Reiners

/ 13 Minuten zu lesen

Estland gilt in Sachen E-Voting als Vorreiter. Bereits seit 2005 ist dort die elektronische Stimmabgabe möglich. Welche Chancen und Risiken sind mit E-Voting verbunden? Und inwiefern lassen sich die estnischen Wahl-Verhältnisse auf Deutschland übertragen?

Auf der Suche nach Vorbildern in Sachen "Wählen übers Internet" stößt man unweigerlich auf Estland. Der nördlichste der baltischen Staaten ist weltweit das einzige Land, in dem ein flächendeckendes und über alle Ebenen institutionalisiertes E-Voting-System umgesetzt ist. Mit E-Voting ist dabei nicht nur der schlichte Einsatz von Wahlcomputern in Wahllokalen gemeint, sondern die elektronische Stimmabgabe mit Privatgeräten über das Internet als optionales, alternatives Angebot zur klassischen "Offline-Stimmabgabe". Das E-Voting in Estland ist dabei prinzipiell als Early-voting-Möglichkeit konzipiert, das heißt, die Stimmabgabe über das Internet erfolgt bereits in einer mehrtägigen Phase vor dem eigentlichen Wahltag.

Estland wählt bereits seit 2005 über das Internet und hat seither durchaus positive Erfahrungen damit gemacht. Der technische Prozess sieht dabei wie folgt aus: Um zu gewährleisten, dass es sich tatsächlich um die wahlberechtigte Person handelt und die Stimme geheim und verschlüsselt übermittelt wird, ist ein mehrstufiges Verfahren erforderlich. Die Identifizierung läuft über den Personalausweis, der verpflichtend mit einer digitalen Signatur ausgestattet ist. Der Chip auf dem Dokument erlaubt es, sich mithilfe eines speziellen Kartenlesegerätes einzuloggen und die Identifizierung mit einem persönlichen Nummerncode (PIN) abzuschließen. Stimmen die Daten überein, ist ein Zugriff auf die Kandidatenliste möglich. Ein zweiter Code dient als digitale Unterschrift zur Bestätigung der Stimmabgabe. Sodann wird die verschlüsselte Stimme weitergeleitet. Hat man sich "verwählt" oder ändert später seine Meinung, besteht die Möglichkeit, mehrmals abzustimmen, wobei am Ende nur die zuletzt abgegebene Stimme zählt. Ferner kann im Anschluss an den Online-Wahlprozess auch noch traditionell gewählt werden. In einem solchen Fall ist die "Offline-Stimme" maßgeblich. Erst wenn der Datenpool final bereinigt ist, wird dieser zur Auszählung entschlüsselt – ohne jedoch eine personenbezogene Rückverfolgung zuzulassen. Der Ablauf wird mehreren Prüfungen unterzogen, sodass eine Manipulation weitgehend ausgeschlossen ist.

Estnische Verhältnisse

Der estnische Prozess bietet Anregungen, die Voraussetzungen für den dortigen Erfolg des E-Votings zu betrachten. Interessant ist nämlich, warum das Projekt gerade in Estland erfolgreich sein konnte und ob eine Übertragung nach Deutschland denkbar und möglich wäre.

Zunächst spielen strukturelle Faktoren eine Rolle: Estland ist mit rund 1,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern ein relativ kleines Land mit einer eingeschränkten Zahl von Vetoakteuren und einer geringen Bevölkerungsdichte. Das macht ein E-Voting grundsätzlich attraktiv – denn weite Wege zur Wahl befördern ein derartiges System. Ferner handelt es sich um eine junge Demokratie, die die postkommunistische Transformation seit Anfang der 1990er Jahre weniger als Last, sondern vielmehr als Chance wahrgenommen hat. Entscheidend ist dabei, dass die politischen Strukturen weniger eingefahren sind: Die Neukonstruktion eines freien Wahlsystems ist leichter zu bewerkstelligen als eine Umorganisation sakrosankter Strukturen und eingespielter Abläufe. Es lässt sich also festhalten, dass sich der geringe Institutionalisierungsgrad von Prozessen und die flexiblen Strukturen für die Etablierung eines E-Voting-Systems günstig ausgewirkt haben.

Ein zweiter Faktor ist der Grad der Vernetzung und die allgemein hohe Internetaffinität der Estinnen und Esten. 2006 hatten schon rund 52 Prozent der Bevölkerung einen Internetanschluss – im Vergleich zu anderen osteuropäischen Staaten ein beachtlicher Wert. Eine Besonderheit ist dabei die Selbstverständlichkeit, mit der das Internet im Bereich E-Commerce und E-Government genutzt wird. Bereits 2007 tätigten rund 79 Prozent der estnischen Internetnutzerinnen und -nutzer Bankgeschäfte online, etwa 86 Prozent reichten ihre Steuererklärung elektronisch ein. 2015 lag der Anteil der mobilen Internetnutzer in Estland, die Online-Banking nutzen, bei rund 93 Prozent. Kurzum: Die Bereitschaft, auch sensible Daten über das Internet zu transferieren, ist in Estland weit verbreitet und spricht für das Vertrauen der Esten in neue Technologien. Die Banken gelten hierbei als Transmissionsriemen für den öffentlichen Sektor.

Natürlich gibt es auch legislative Faktoren, die die Einführung des E-Votings entscheidend vorangetrieben haben: 1999/2000 wurde per Gesetz die digitalisierte Stimmenauszählung und -verarbeitung geregelt, der elektronische Ausweis wurde zwei Jahre darauf eingeführt. Die Funktionsvielfalt und das wachsende Angebot – mit dem Ausweis lassen sich über 100 internetbasierte Dienstleistungen in Anspruch nehmen – halfen bei seiner vollständigen Durchsetzung. Die vielen Anwendungen wirkten nicht nur vertrauensbildend, sondern durch seine Signatur- und Verschlüsselungstechnologie hat der Ausweis E-Wahlen überhaupt erst ermöglicht.

Blickt man auf den politischen Prozess, der zur Einführung des E-Votings in Estland führte, und die daran beteiligten politischen Akteure, so ist festzustellen, dass sich die Vetostruktur mit nur einer legislativen Kammer auf Bundesebene für die Durchsetzung als günstig erwies. Auch war die Regierungskonstellation förderlich, denn zur Zeit der Initiierung unterstützten alle drei Regierungsparteien das Projekt. Dennoch ist bemerkenswert, dass das Vorhaben bis 2005 tatsächlich umgesetzt wurde, denn bis zur Implementierung wechselte die estnische Regierung mehrmals, und temporär gehörten ihr auch den Veränderungen kritisch gegenüberstehende Parteien an (allerdings nur als Juniorpartner, die durch Koalitionsverträge an den Projektfortgang gebunden waren).

So gab es im Prozess der Einführung kaum Konflikte, da auch große Teile der Opposition Vorteile des E-Votings anerkannten – etwa die positive Auswirkung auf die Wahlbeteiligung, was wiederum als Steigerung der Systemlegitimität interpretiert wurde. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass technische oder sicherheitspolitische Bedenken in der estnischen Debatte kaum eine Rolle spielten. Tatsächlich ist es bislang auch nicht zu nennenswerten Problemen gekommen.

Die wenigen Befürchtungen, die geäußert wurden, richteten sich vielmehr auf den Gleichheitsgrundsatz: Es könne eine Kluft entstehen zwischen Menschen mit und ohne Internetzugang, es bestehe also das Risiko eines digital divide. Einige Kritiker äußerten auch Sorge um den geheimen Wahlprozess: Durch die Stimmabgabe im Privaten könnten Wählerinnen und Wähler leichter Beeinflussung oder Zwang ausgesetzt sein. Demgegenüber argumentierten die Befürworter, dass dem Wahlgeheimnis genüge getan sei, weil man seine Stimme online mehrmals korrigieren oder auch am Wahltag noch klassisch wählen gehen könne – sich einer Beeinflussung also entziehen könne.

Letztlich sorgte der estnische Staatsgerichtshof (Riigikohus) für Klarheit, indem er feststellte, dass das Verfassungsprinzip der Wahlgleichheit bedeute, dass jedermann die Möglichkeit haben müsse, das Endergebnis mit derselben Stärke zu beeinflussen. Da jeweils nur die letzte Internetstimme oder die finale, offline abgegebene Stimme am Wahltag zähle, sei diesem Prinzip entsprochen. Auch die Gefahr einer digitalen Spaltung erkannte das Gericht nicht: Internetwähler hätten gegenüber Offline-Wählern keinen wesentlichen Zeitvorteil, weil auch letztere die Möglichkeit zum early voting hätten.

Hoffnungen und Befürchtungen

Werden Prozesse online angeboten, ergibt sich zumindest theoretisch die Möglichkeit, dass Kosten eingespart werden – etwa für den Stimmzetteldruck, den Versand von Wahlunterlagen, die Ausstattung von Wahllokalen oder die Bezahlung von Wahlhelfern. Dieses Argument wurde teilweise jedoch bereits entzaubert, da auch die Einführung eines E-Voting-Systems Kosten verursacht, deren Amortisierung größere Zeiträume in Anspruch nimmt.

Ein weiteres Argument sind die erweiterten Partizipationsmöglichkeiten, die sich durch das Internet auftun. Mit E-Voting verbinden sich Hoffnungen auf eine abnehmende Politikverdrossenheit, eine höhere Wahlbeteiligung und dadurch eine Steigerung der Systemlegitimation. Insbesondere für diejenigen, denen es zu aufwändig oder aus anderen Gründen nicht möglich ist, am Wahltag in ein Wahllokal zu gehen, könnte E-Voting attraktiv sein. In der Schweiz etwa wird dergestalt argumentiert, dass E-Voting-Verfahren für körperlich Eingeschränkte sowie für Auslandsschweizerinnen und -schweizer nützlich sein können. In Norwegen liegt der Fokus dagegen auf einer schnellen Auszählung, der Mobilisierung jüngerer Wählerschichten sowie der Vermeidung von Aufwänden.

Tatsächlich ließ sich bei den Wahlen 2007 in Estland ein leichter Mobilisierungstrend feststellen. Während die Wahlbeteiligung 2003 – vor der Einführung des E-Votings – bei knapp über 58 Prozent lag, betrug sie 2007 rund 62 Prozent. Auch der Anteil derjenigen, die am E-Voting teilnehmen, wächst beständig: Bei der estnischen Parlamentswahl 2015 stimmte bereits ein knappes Fünftel der rund 900.000 Wahlberechtigten elektronisch ab. Die Akzeptanz des Verfahrens ist also offenkundig. Dennoch ist eine wirklich deutliche Zunahme der Wahlbeteiligung durch die Einführung von E-Voting-Verfahren kaum zu erwarten – denn es scheinen doch vor allem diejenigen Online-Wahlen zu nutzen, die ohnehin wählen gehen.

Welche Risiken sind mit E-Voting verbunden? Der Grundsatz der allgemeinen Wahl verbietet, Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen von der Wahl auszuschließen. Daher ist der Gesetzgeber angehalten, die Fehlleitung oder Veränderung des Votums durch fremde Eingriffe zu verhindern. Befürchtungen in Deutschland und anderswo beziehen sich somit vor allem auf die Nichteinhaltung demokratietheoretischer und verfassungsrechtlicher Anforderungen (Wahlrechtsgrundsätze) und die Manipulation bei der Stimmabgabe und -auszählung.

Die Argumente richten sich auch darauf, dass Beeinflussungen stattfinden könnten und der geheime Wahlakt tangiert sei (sogenanntes family voting), was allerdings eingeschränkt auch bei klassischen Wahlen möglich ist. Nicht nur in Deutschland wird zudem immer wieder auf die Gefahren durch Trojaner, Viren, Schadsoftware, Spam, Phishing und andere Hackerangriffe hingewiesen. Was die soziokulturelle Wirkungsdimension betrifft, wird der Verlust des demokratischen Gemeinschaftsgefühls (community building) durch den Wegfall des symbolischen Akts im Wahllokal befürchtet.

Dies alles steht einer Weiterentwicklung des E-Votings in Deutschland im Wege, denn Internetwahlen genießen nur dann breite Akzeptanz und sind nur dann rechtskonform, wenn sie sicher sind. Nicht umsonst sprechen sich IT-Experten und Datenschützer häufig gegen ein E-Voting aus. Denn selbst wenn alle demokratietheoretischen Voraussetzungen geschaffen sind, hängt eine erfolgreiche Umsetzung letztlich von der Sicherheit der technischen Systeme ab. Während die technischen und verfassungsrechtlichen Bedenken in Deutschland dominieren, haben sich derlei Einwände im estnischen Politikprozess kaum niedergeschlagen. Zwar gab es auch in Estland kritische Stimmen, doch stand dort die Maßgabe im Vordergrund, Vorreiter in Sachen E-Voting zu werden – und diesem Ziel ordnete sich alles unter.

Übertragbar auf Deutschland?

In der deutschen Diskussion sind mit E-Voting in der Regel drei Hoffnungen beziehungsweise Ziele verbunden: ein Mobilitätsgewinn, die Reduzierung ungültiger Stimmen und die Stabilisierung der Wahlbeteiligung. In diesem Kontext empfahl die Enquete-Kommission "Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" 1998, ein Internetwahlverfahren auf Bundesebene einzuführen. Zwar gab es daraufhin verschiedentliche Bemühungen – 1999 etwa das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie geförderte Projekt "Wahlen im Internet" –, die praktischen Erfahrungen sind jedoch sehr überschaubar geblieben. So wurde 2000 das Studierendenparlament der Universität Osnabrück teilweise online gewählt, ebenso einige Jugend- und Seniorenbeiräte. Hierbei zeigten sich bereits rechtliche, organisatorische und technische Entwicklungsbedarfe. Weitere Erkenntnisse brachte auch das 2006 abgeschlossene Forschungsprojekt "Wählen in elektronischen Netzen" (W.I.E.N.), in dessen Rahmen unter anderem mehrere Personalratswahlen als Online-Wahlen organisiert und ausgewertet wurden.

Im Deutschen Bundestag wurde das Thema 2001 behandelt und die Regierung aufgefordert, einen "Bericht über die gesetzlichen, sicherheitstechnischen und verwaltungsrelevanten Erfordernisse an Online-Wahlen sowie Maßnahmen zu ihrer Realisierung vorzulegen". Hierfür richtete das Bundesministerium des Innern eine Arbeitsgruppe ein, um die (technischen) Anforderungen zu analysieren. Deren Ergebnisse haben den weiteren Kontext jedoch nicht entscheidend beeinflusst.

Nichtsdestotrotz gehen Wahlen über technische Fragestellungen und Rechtsbestimmungen hinaus und werfen gesellschaftspolitische Fragen bezüglich der Wahlorganisation, -tradition und -symbolik auf. So hat Deutschland zum Beispiel eine ausgeprägte Briefwahltradition und im internationalen Vergleich eine eher hohe Wahlbeteiligung, weshalb die Thematik differenzierter zu diskutieren ist als in Staaten ohne Möglichkeit zur Distanzwahl und mit niedrigerer Wahlbeteiligung.

Projekte wie "BundOnline 2005" dokumentieren die Bemühungen und Weichenstellungen der Bundesregierung in Richtung E-Demokratie. Allerdings hat sich das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 3. März 2009 deutlich davon abgegrenzt, indem es die bei der Bundestagswahl 2005 verwendeten Wahlcomputer nachträglich für verfassungswidrig erklärte. Diese hätten dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl, der gebietet, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen, nicht entsprochen. Zwar untersagte das Gericht Online-Wahlen nicht grundsätzlich, doch der Stand ist seither unverändert. So heißt es im Wahl-Lexikon des Bundeswahlleiters auch heute noch: "Für die Wahlberechtigten verständliche und nachvollziehbare Kontrollmechanismen – vergleichbar der Augenscheinnahme bei der Beobachtung der Stimmenauszählung im Wahllokal – sind bei Internet-Prozessen zurzeit nicht in Sicht." Ferner gibt es in der Bundeswahlordnung für technisch basierte Wahlverfahren bislang noch keine Regelungen.

Von 2010 bis 2013 befasste sich schließlich die Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit dem Thema E-Voting und folgerte, dass freie, gleiche, geheime und überprüfbare – also verfassungskonforme – Internetwahlen in Deutschland noch nicht möglich seien. Die verfügbaren technischen Systeme würden den Anforderungen noch nicht genügen.

Letztlich sprechen aber auch strukturelle Besonderheiten Deutschlands gegen eine rasche Nachahmung des estnischen Beispiels. Deutschland mit seinen rund 82 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern ist wesentlich dichter besiedelt als Estland – eine zu große Entfernung zum nächsten Wahllokal taugt kaum als Argument. Zudem sind die Wahlstrukturen hierzulande über Jahrzehnte erprobt und entsprechend eingefahren, und es bestehen ausgeprägte Vetopotenziale auf allen möglichen politischen Entscheidungsebenen, die eine Blockade entsprechender Bestrebungen wahrscheinlich machen.

Dabei stehen große Teile der Bevölkerung in Deutschland einer elektronischen Stimmabgabe grundsätzlich gar nicht ablehnend gegenüber. Einer Studie des Branchenverbandes Bitkom zufolge würde fast die Hälfte der Deutschen über das Internet wählen. Allerdings wäre derzeit fast ein Viertel der potenziellen Wählerinnen und Wähler in der Bundesrepublik von einem E-Voting ausgeschlossen. Gerade ältere Menschen wären bei einem exklusiven Angebot auf Unterstützung angewiesen. Zwar hat sich der Anteil der Internetnutzer in Deutschland von 2001 bis 2016 von rund 37 auf circa 79 Prozent erhöht, aber insgesamt ist die Internetaffinität beziehungsweise das Technologievertrauen (noch) deutlich geringer ausgeprägt als in Estland.

Das ungelöste Hauptproblem in Deutschland betrifft jedoch nach wie vor die geheime und unverfälschte Übermittlung und Speicherung von Stimmen. Die entscheidende Frage, ob eine informationstechnische Umsetzung gemäß den verfassungsrechtlichen Anforderungen gelingt, ist damit aufs Engste verknüpft.

Fazit

Wie sind die weiteren Perspektiven? Ähnlich wie in Estland gibt es in Deutschland seit November 2010 den elektronischen Personalausweis. Dieser könnte der Generalschlüssel für das digitale Zeitalter sein – doch halten sich die meisten Bürgerinnen und Bürger hierzulande hinsichtlich der Online-Funktionen des Ausweises zurück: Weit über drei Viertel der Deutschen ignorieren die entsprechenden Möglichkeiten. Deutschland scheint die "Ausweis-Revolution" somit zu verschlafen.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Voraussetzungen für die Einführung elektronischer Stimmabgabeverfahren in Deutschland derzeit eher ungünstig sind. E-Voting kann in der Bundesrepublik nur umgesetzt werden, wenn die technischen (Sicherheits-)Probleme vollends gelöst sind. Die erhoffte Steigerung der Wahlbeteiligung darf keinesfalls dazu führen, dass Systeme zum Einsatz kommen, die die Einhaltung der Wahlrechtsgrundsätze nur im besten Fall sicherstellen.

Somit lässt sich resümieren, dass Estland auf absehbare Zeit weiterhin Spitzenreiter in Sachen E-Voting bleibt und für viele Staaten als – offenbar nur schwer nachzuahmendes – Vorbild fungiert. Die bisherigen Bestrebungen in Deutschland haben sich als wenig fruchtbar erwiesen. Möglicherweise bietet aber gerade die häufig als hinderlich empfundene föderale Struktur Deutschlands eine Perspektive: Bringen sich die Bundesländer stärker ein und starten eigene Initiativen, dann könnte die Thematik durch gegenseitige Lernprozesse auch auf Bundesebene nochmals an Fahrt gewinnen.

ist promovierter und habilitierter Politikwissenschaftler und Privatdozent an der Leibniz Universität Hannover. Seine Themenschwerpunkte sind unter anderem Modernisierung von Staaten und Staatlichkeit sowie E-Democracy und E-Voting. E-Mail Link: m.reiners@ipw.uni-hannover.de