Beata Szydło gewann die polnischen Parlamentswahlen im Oktober 2015 mit knapp sechs Millionen Stimmen von insgesamt rund 31 Millionen Wahlberechtigten (19 Prozent). Die niedrige Wahlbeteiligung von etwas über 51 Prozent ermöglichte ihr eine absolute Mehrheit im Sejm. Beim ungarischen Nachbarn gewann Viktor Orbáns Parteibündnis aus Fidesz und KDNP im April 2014 eine Zweidrittelmehrheit, die für Verfassungsänderungen notwendig ist. Aufgrund der relativ niedrigen Wahlbeteiligung von 62 Prozent reichten zwei Millionen Stimmen von insgesamt acht Millionen Wahlberechtigten (27 Prozent). Donald Trump wurde im November 2016 von 27 Prozent der US-Wahlbevölkerung zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt. Im Vereinigten Königreich wählten 37 Prozent aller Wahlberechtigen für den Brexit. Und auch bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei im August 2014 erreichte Recep Tayyip Erdoğan bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen (37 Prozent aller registrierten Wähler). Gemessen an allen Wahlberechtigten liegt der Wahlsieger durch die niedrige Wahlbeteiligung somit immer deutlich unter einer absoluten Mehrheit.
Auch Deutschland bildet hier keine Ausnahme:
In der Bundesrepublik ist in den zurückliegenden Jahrzehnten der zweitgrößte Rückgang bei der Wahlbeteiligung zu verzeichnen (hinter Portugal, aber vor Frankreich).
Aber warum gehen so viele Menschen nicht wählen?
Hierzu ist zunächst festzuhalten: Nichtwähler sind keine homogene Gruppe. "Nichtwähler sind keine ‚Partei‘, sondern ein Sammelbecken mit von Wahl zu Wahl anderen Zusammensetzungen", stellte der Politikwissenschaftler Michael Eilfort bereits 1994 fest.
Soziale Spaltung
Nichtwähler sind immer weniger ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung. Das frappierendste Merkmal der Wahlenthaltung in Deutschland ist eine immer größere soziale Schieflage der Wahlbeteiligung:
Das Dilemma bleibt auch bei insgesamt wachsender Wahlbeteiligung bestehen: "Mit 65,2 Prozent und einem Anstieg in Höhe von 5,6 Prozent aller Wahlberechtigen hat die Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl 2017 den höchsten Wert bei einer NRW-Landtagswahl seit mehr als zwei Jahrzehnten erreicht. Dennoch hat sich die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung nicht verringert. Im Gegenteil: Die soziale Spaltung zwischen Wählern und Nichtwählern hat sich sogar noch einmal leicht verschärft."
Im Vereinigten Königreich beispielsweise ist das Nichtwählen in der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen mittlerweile häufiger als das Wählen.
Wahlenthaltung ist also immer seltener ein konjunktureller politischer Akt der Unzufriedenheit. Wir wissen, dass ein sehr großer Teil der Nichtwählerinnen und Nichtwähler jung ist und in prekären Lebensverhältnissen lebt, in Gegenden oder Bezirken wohnt, in denen Politik faktisch keine Rolle mehr spielt, und sich zudem vom politischen Prozess ausgeschlossen fühlt.
Zusammenhang von sozialer und politischer Gleichheit
Wählen muss gelernt sein: Zur Wahl zu gehen, ist abhängig von der Sozialisation durch Familie und Umfeld. Wenn Eltern nicht wählen gehen oder ihre Kinder nie zum Wahllokal mitnehmen, macht dies auch eine spätere Wahlbeteiligung der Kinder unwahrscheinlicher. Wird man von Freunden seltsam angeschaut oder belächelt, wenn man sie zur Wahl befragt, wird Wählen auch für einen selbst zunehmend "uncool". Sofern es vor allem in jungen Jahren nicht gelingt, auf Menschen mit anderen Lebensverläufen zu treffen, wird ein Abgleiten in politische Apathie und Exklusion immer wahrscheinlicher. Der Wahlteilnahme der politisch Abgehängten steht somit de facto eine immense Zugangsbeschränkung entgegen. Mit Fortschreiten dieses Prozesses ist der Grund für die Nichtwahl folglich also immer mehr ein "Nicht-Können" als ein "Nicht-Wollen".
Die soziale Schieflage bei der Wahlbeteiligung untergräbt somit letztendlich das Ideal der politischen Gleichheit.
Während die Höhe der Wahlbeteiligung für die ersten beiden Dimensionen nur eine untergeordnete Rolle spielt, ist sie für die dritte Dimension von essenzieller Bedeutung. Die dritte Dimension der Gleichheit kann allerdings nur erreicht werden, wenn alle sozioökonomischen Gruppen eine gleich hohe Wahlbeteiligung aufweisen. Politische Gleichheit ist somit eng mit sozialer Gleichheit verknüpft.
Es gibt Anzeichen, dass sich durch die zunehmende soziale Spaltung der niedrigen Wahlbeteiligung das politische Angebot und wahrscheinlich auch die politische Nachfrage zuungunsten der jungen und sozial Schwächeren verändert. Das sogenannte Robin-Hood-Paradoxon
Bei steigender sozialer Ungleichheit sollte sich in der Bevölkerung eigentlich eine Mehrheit für mehr soziale Umverteilung finden lassen. Doch da sich sozial Benachteiligte überproportional häufig der Wahl enthalten, verschiebt sich die "Mitte der politischen Gesellschaft" auf der Einkommensskala nach oben: Die "Mitte der Wähler" ist seit Jahren nicht mehr identisch mit der "Mitte der Gesamtbevölkerung". Mit Vorschlägen für eine stärkere Umverteilung sind immer seltener Mehrheiten zu gewinnen. Dies gilt auch für andere Merkmale, die mit Nichtwählern verbunden werden, entsprechend sind die Wahlkampfbemühungen der meisten Parteien gewichtet: Sozial Benachteiligte werden im Wahlkampf seltener kontaktiert als Wohlhabendere, Jungwähler seltener als alte und Minderheiten seltener als die Mehrheitsbevölkerung.
Das Recht zur Pflicht machen
Eine Wahlteilnahmepflicht macht den Gang in das Wahllokal zur Pflicht, nicht aber die Abgabe einer gültigen Stimme. Studien aus vielen Ländern der Welt haben gezeigt, dass eine Wahlteilnahmepflicht in der Lage ist, die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung zu nivellieren, solange der Wahlzettel Wahlmöglichkeiten aufzeigt, vor allem auch zur Enthaltung. Eine "gewählte Enthaltung" lässt sich zudem viel ehrlicher interpretieren als eine Nichtwahl im heutigen System.
Eine Wahlteilnahmepflicht verhindert den ungleich größeren Einfluss der besser gestellten Schichten; sie verhindert, dass immer nur bestimmte soziale Schichten über die Zukunft eines Landes entscheiden. Wir sehen dieser Tage, dass Demokratie einer alltäglichen Verteidigung bedarf. Es ist daher sinnvoll, sich ernsthaft mit einer Wahlteilnahmepflicht auseinanderzusetzen.
Eine Wahlteilnahmepflicht hält die politischen Eliten an, Wählerstimmen aus allen sozialen Schichten zu gewinnen. Die wachsende Gruppe junger, abgehängter, notorischer Nichtwähler und Nichtwählerinnen würde in das politische System Deutschlands reintegriert. Die Repräsentationskraft der Gewählten würde deutlich gestärkt. Derzeit ist es für Parteien nur rational, die eigenen Wahlkämpfe besonders auf jene Stadtviertel auszurichten, in denen die eigene Partei zuletzt hohe Werte erzielen konnte und die eine hohe Wahlbeteiligung aufweisen, da dort automatisch mehr Stimmen zu holen sind.
Eine Wahlteilnahmepflicht führt auch zu höheren Wahlbeteiligungsraten, wie etwa die Beispiele Belgien und Luxemburg zeigen: In Belgien liegt die Wahlbeteiligung in 19 Wahlen seit 1946 bei durchschnittlich 92,7 Prozent, in Luxemburg durchschnittlich bei 93,7 Prozent.
Eine Wahlteilnahmepflicht führt zudem nicht zu einer Überrepräsentation von Proteststimmen für radikale Strömungen. Im Gegenteil: Zwischen der Veränderung der Wahlbeteiligung und dem Erfolg (rechts-)populistischer Parteien gibt es keinen eindeutigen Zusammenhang. Populistische Parteien können sowohl im Klima von Demobilisierung als auch im Klima von Mobilisierung Erfolge einfahren.
Eine Wahlteilnahmepflicht ist daher keineswegs undemokratisch, sondern aus demokratischer Sicht vielmehr als äußerst geringer Eingriff in die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger zugunsten eines hohen politischen und gesellschaftlichen Nutzens zu begrüßen. Beispielsweise lassen sich in Ländern mit Wahlteilnahmepflicht die Bürger bereits durch Strafen in Höhe von "Knöllchen" zur Wahlteilnahme umfassend mobilisieren. Der Schaden für die Freiheit, den eine soziale Schieflage bei der Wahlbeteiligung anrichtet, ist, wie oben beschrieben, ungleich höher.
Kein Allheilmittel
Allerdings zeigen Studien zum Verhältnis von Wahlteilnahmepflicht und politischem Interesse auch, dass eine Teilnahmepflicht kein Allheilmittel für alle möglichen Probleme des politischen Systems ist. So weisen Bürgerinnen und Bürger von Ländern mit Wahlteilnahmepflicht kein nachweisbar höheres – aber auch kein niedrigeres – politisches Interesse als Bürgerinnen und Bürger in freiwilligen Wahlsystemen auf.
Die Wahlteilnahmepflicht stellt somit keine ausreichende Motivation dar, mehr über Politik zu lernen beziehungsweise sich für Politik zu engagieren.