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Garantieren Wahlen demokratische Legitimität?

Sascha Kneip Wolfgang Merkel

/ 15 Minuten zu lesen

Sinkende Wahlbeteiligung, Mitgliederverluste der Parteien und schwindendes Vertrauen in die politischen Repräsentanten stellen die Reputation demokratischer Wahlen zunehmend infrage. Sie sind aber nach wie vor der zentrale Legitimationsmechanismus der Demokratie.

"Wahlen sind heutzutage primitiv. Eine Demokratie, die sich darauf reduziert, ist dem Tode geweiht", provozierte jüngst der belgische Historiker David Van Reybrouck in seinem vielbeachteten Buch "Gegen Wahlen". Was ist davon zu halten? Fragt man Bürgerinnen und Bürger in westlichen Demokratien, was sie am ehesten mit dem Konzept der Demokratie verbinden, so fällt ihnen in aller Regel zunächst die Möglichkeit der Stimmabgabe in freien, fairen und gleichen Wahlen ein. Tatsächlich dürften die meisten Bürger im Laufe ihres Daseins als Citoyens demokratischem Regieren nie näher kommen als im demokratischen Wahlakt selbst; über die Wahl ihrer Repräsentanten sind sie direkt an der Herstellung demokratischer Legitimität beteiligt.

Die Autorisierung politischer Macht wird in repräsentativen Demokratien maßgeblich über die freie, gleiche und allgemeine Wahl politischer Parteien und Personen legitimiert. Im demokratischen Wahlakt, so könnte man mit republikanischem Pathos sagen, kommt die kollektive demokratische Selbstbestimmung zu ihrem legitimen – wenngleich auch immer nur vorläufigen – Abschluss.

Allerdings wirkt dieses Pathos mitunter seltsam hohl. Sinkende Wahlbeteiligungen, der Mitglieder- und Vertrauensschwund der Parteien, ihr Macht- und Reputationsverlust, der Ruf der Bürger nach direktdemokratischen Verfahren und demokratischen Innovationen, eine aus Sicht der Bürger abnehmende accountability, also eine fehlende Verantwortlichkeit gewählter Repräsentanten, und zurückgehende Parteimitgliedschaften lassen zunehmend Zweifel daran aufkommen, dass Wahlen ihre demokratische Legitimationsfunktion noch hinreichend erfüllen.

Larry M. Bartels, einer der führenden Wahlforscher der USA, behauptet, dass ein erheblicher Anteil der Wählerinnen und Wähler aufgrund einer Reihe "irrationaler Vorurteile" und der Unfähigkeit, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Entwicklungen bestimmten politischen Akteuren zuzuschreiben, gar nicht in der Lage sei, die Rolle als rationale und mündige Bürger in der Demokratie auszufüllen. Während Bartels vornehmlich auf psychologische und kognitive Probleme des Wählens abhebt, betonen etwa die Politikwissenschaftler Armin Schäfer oder Bernhard Weßels, dass die Zunahme sozioökonomischer Ungleichheit zu asymmetrischer politischer Beteiligung führt – die oberen und mittleren Schichten der Gesellschaft beteiligen sich, die unteren Schichten steigen aus. Dies muss als demokratisches Paradox erscheinen, da freie und allgemeine Wahlen jedem Bürger ein gleiches Stimmrecht und Stimmgewicht zuschreiben. Ganz offensichtlich vermögen es Wahlen auch in entwickelten Demokratien aber nicht, die gesellschaftliche Stratifizierungswucht des neoliberalen Kapitalismus in der OECD-Welt zu brechen, obwohl von diesem vor allem die oberen 1 Prozent oder 0,1 Prozent der Gesellschaft unverhältnismäßig profitieren.

Van Reybrouck argumentiert gar, dass Wahlen schon grundsätzlich nicht als "Krönungsmoment" der Demokratie verstanden werden sollten, sondern vielmehr als die Ursache für ein modernes "Demokratiemüdigkeitssyndrom". Wahlen, so der Historiker, seien elitär, aristokratisch und damit das Gegenteil von gleichberechtigter Teilhabe. Dieser Abgesang auf die Legitimationskraft des demokratischen Wahlakts wird in unterschiedlichen Varianten von so prominenten Politik- und Sozialwissenschaftlern wie Colin Crouch, John Keane, Pierre Rosanvallon oder Wolfgang Streeck geteilt.

Trifft er aber den Kern des politischen Problems, und vermag er gar Alternativen zu Wahlen und Parteien vorzutragen? Die Antwort verlangt eine Verständigung darüber, was demokratische Legitimität im 21. Jahrhundert bedeutet und welche Rolle Wahlen, Parteien und unweigerlich auch das Parlament noch spielen, spielen müssten und spielen können. Darüber hinaus gilt es zu klären, wie es um die Legitimationskraft alternativer demokratischer Beteiligungsformen jenseits von Wahlen eigentlich bestellt ist.

Konzept demokratischer Legitimität

Das Funktionieren moderner Demokratie beruht nicht zuletzt auf ihrer Fähigkeit, demokratische Legitimität – und damit sich selbst – beständig neu zu generieren. Sprudeln die Quellen demokratischer Legitimität nicht mehr zureichend oder werden sie durch undemokratische Formen ersetzt, geraten Demokratien zwangsläufig in eine Legitimitätskrise. Diese muss keineswegs zu einem Regimewandel oder gar einem Kollaps der Demokratie führen. Viel wahrscheinlicher ist, zumindest in der OECD-Welt, eine innere Aushöhlung der Demokratie oder auch nur bestimmter Teilbereiche, etwa durch die Verlagerung der Entscheidungsgewalt von gewählten Repräsentanten auf Experten oder supranationale Regime.

Demokratische Legitimität zeichnet sich, abstrakt gesprochen, durch die Verknüpfung der Idee des ethischen Individualismus – das freie und selbstbestimmte Individuum ist Ausgangspunkt aller Überlegungen – mit der Vorstellung von Volkssouveränität sowie deren Einhegung durch eine Verfassungsordnung aus, die Freiheit, Gleichheit sowie Grund- und Menschenrechte prinzipiell unantastbar macht. In ihr verbindet sich damit die normative Dimension demokratischer Herrschaftsrechtfertigung mit der empirischen Dimension der Akzeptanz der Herrschaftsausübung durch die Bürgerinnen und Bürger eines demokratischen Gemeinwesens. Die rechtsstaatliche Demokratie mit ihren Schutz- und Beteiligungsrechten definiert einerseits die normative Substanz demokratischer Legitimität; die Ausübung der Volkssouveränität in Wahlen, Abstimmungen und vielfältigen Formen der politischen Partizipation sorgt andererseits in einer institutionalisierten Legitimationskette zwischen Volk und Repräsentanten für die Zurechenbarkeit politischer Entscheidungen zum demokratischen Souverän beziehungsweise dessen Repräsentanten. Die Einhegung demokratischer Regierungsgewalt durch Recht und Verfassung ermöglicht und ergänzt also idealerweise die majoritäre Herrschaft des Souveräns über sich selbst.

Institutionen und Verfahren sind damit eng an die normativen Gehalte demokratischer Ordnungen geknüpft. Sie müssen sich stets daraufhin prüfen lassen, inwieweit sie diese (noch) erfüllen und in reale Politik umsetzen. Dies gilt insbesondere für die grundlegenden demokratischen Verfahren, Akteure und Institutionen wie allgemeine Wahlen, Parteien und Parlamente – allesamt politische Erfindungen des 17. bis 19. Jahrhunderts. Sie besitzen keine Ewigkeitsgarantien, sondern müssen auch im 21. Jahrhundert beweisen, dass sie den normativen Kerngehalt demokratischer Herrschaft, nämlich die kollektive Selbstregierung grundrechtsgeschützter Individuen, stützen und weiterentwickeln können – und nicht zu substanzentleerten Fassaden verkommen sind.

Die tatsächliche Herstellung demokratischer Legitimität erfolgt über das Zusammenspiel von Bürgern und politischen Akteuren, Verfahren und Institutionen sowie politischen Entscheidungsergebnissen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die retrospektive wie prospektive Evaluation dieser Verfahren, Institutionen und Entscheidungsergebnisse durch die Bürger selbst. Die Akzeptanz der Bürger allein genügt jedoch nicht. Jede einzelne Institution, jeder politische Akteur muss sich der stetigen Prüfung anhand der normativen Grundannahmen demokratischer Herrschaft unterziehen. So ist etwa die mehrheitliche Zustimmung der ungarischen Wahlbevölkerung zur illiberalen Regierungsweise ihres Premierministers Viktor Orbán keine hinreichende demokratische Legitimation für das gegenwärtige defektdemokratische Regime in Ungarn. Auch die offenkundige Hinnahme des durch die demokratisch gewählte PiS vorangetriebenen Rechtsstaatsabbaus in Polen legitimiert diese Maßnahmen aus demokratietheoretischer Sicht keineswegs. Gleiches gilt umso mehr für die Politik der gewählten, aber dennoch autoritären Regierungen Wladimir Putins und Recep Tayyip Erdoğans.

Allgemeine, gleiche, freie und selbst faire Wahlen garantieren noch keineswegs die demokratische Legitimität eines demokratischen Systems. Sie müssen in einen demokratischen Prozess eingebettet werden, der Bürgerpartizipation mit konstitutionellen Verfahren und fairen Politikergebnissen verbindet, wie das Prozessmodell demokratischen Legitimitätsglaubens grafisch verdeutlicht (Abbildung).

Prozessmodell demokratischen Legitimitätsglaubens

Begreift man den demokratischen politischen Prozess als eine ineinandergreifende Abfolge von Input, Throughput und Output, dann stehen demokratische Wahlen zweifellos im Zentrum der Inputdimension. Als die wichtigsten Inputfunktionen für die Produktion demokratischer Legitimität lassen sich Unterstützung (supports) und Forderungen (demands) der Bürgerinnen und Bürger identifizieren, die diese nicht nur, aber vor allem im Wahlakt zum Ausdruck bringen. Der sogenannte Throughput liegt zwischen In- und Output. Er meint den staatlichen Kernbereich der Demokratie, in dem die verbindlichen Entscheidungen geformt und getroffen (Legislative), implementiert (Exekutive) und gegebenenfalls überprüft (Justiz) werden. Wichtigste Akteure für die Übersetzungsleistung bleiben in Demokratien die politischen Parteien und, in geringerem Maße, Interessengruppen, die die Anforderungen ihrer Mitglieder und Sympathisanten sammeln, artikulieren und repräsentieren.

Auch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Bürgerinitiativen sind in den letzten drei Jahrzehnten als besondere, normativ orientierte Interessengruppen wichtige Akteure für die Legitimitätsproduktion geworden. Sie artikulieren ebenfalls Bürgerpräferenzen, repräsentieren sie aber auf unterschiedliche Art und Weise. Anders als Parteien oder politische Eliten genießen NGOs wie Amnesty International, Human Rights Watch, der BUND oder andere zivilgesellschaftliche Assoziationen hohe Zustimmung und moralische Autorität in der Bevölkerung. Allerdings wurden sie von dieser in keinem den Wahlen vergleichbaren Legitimationsakt dazu ermächtigt, auch gesellschaftlich verbindliche Entscheidungen zu fällen.

Ob diese unterschiedlichen Artikulations- und Repräsentationsmodi mehr oder weniger demokratische Legitimität erzeugen und ob sie die klassischen repräsentativen Institutionen und Verfahren der Demokratie ergänzen oder ersetzen können, ist keineswegs ausgemacht. Gleiches gilt für das Agieren der Bürger selbst, wenn sie ihre Bedürfnisse statt in Wahlen über Bürgerinitiativen, Volksbegehren, Volksentscheid oder Protest signalisieren. Ob diese alternativen Partizipationsformen zusätzlichen Legitimitätsglauben innerhalb der und an die Demokratie erzeugen können, soll im Folgenden an zwei Beispielen diskutiert werden.

Zur Legitimationskraft alternativer Beteiligungsformen

Unter den vielen Varianten alternativer Beteiligungsformen jenseits demokratischer Wahlen werden derzeit zwei als besonders vielversprechend diskutiert: direktdemokratische Referenden sowie deliberative Konsultations- und Entscheidungsbeteiligungen durch Bürgerversammlungen, Bürgerräte, Bürgerhaushalte oder "Mini-Publics". Was ist unter demokratischen Legitimitätsgesichtspunkten von diesen Alternativen zu halten?

Volksabstimmungen

Am ehesten erzeugen Volksabstimmungen die Zustimmung der Bürger zum politischen System. Diese vom Demos direkt getroffenen Entscheidungen haben aus der Perspektive der Volkssouveränität eine nicht bestreitbare Legitimität. Legitimationstheoretisch sind direkte Entscheidungen des Staatsvolks jenen indirekten der gewählten Volksvertreter überlegen. In der Legitimationspraxis ist jedoch von kardinaler Bedeutung, in welchem Umfang der Demos tatsächlich an den Volksabstimmungen teilnimmt. Nehmen weniger als 50 Prozent der Wahlberechtigten an einer Abstimmung teil oder entscheiden 25 Prozent der Stimmberechtigten gegen ein Gesetz, das zuvor von 75 Prozent der Parlamentarier gebilligt wurde – die vielleicht wiederum mit einer Wahlbeteiligung von 75 Prozent gewählt worden sind –, dann verblasst das Argument der legitimatorischen Überlegenheit direkter Volksabstimmungen erheblich. Hinsichtlich der Wahlbeteiligung sind hohe Abstimmungs- und Entscheidungsquoren eine legitimatorische conditio sine qua non von Volksabstimmungen.

Demokratietheoretisch vorbildlich geregelt ist dies etwa bei den abrogativen Referenden in Italien, durch die einzelne Gesetze aufgehoben werden können. Eine eher schlechte institutionelle Ausgestaltung manifestiert sich in den nicht vorhandenen oder relativ niedrigen Abstimmungsquoren in der Schweiz, Kalifornien oder den meisten deutschen Bundesländern, die dem italienischen Beispiel in dieser Hinsicht legitimatorisch deutlich unterlegen sind. Empirische Analysen zeigen, dass Volksabstimmungen das Problem zurückgehender Bürgerbeteiligung und ansteigender sozialer Selektivität nicht lindern können. Das Gegenteil ist der Fall: Nicht "das Volk" stimmt ab, sondern eine soziale Schrumpfversion desselben begibt sich zu den Wahlurnen. In ihm sind die Gebildeten, die Besserverdienenden und die Männer überrepräsentiert. Der Demos zeigt also eine noch deutlich stärkere soziale Schieflage, als sie mit Recht bei Parlamentswahlen beklagt wird. Die direkte Demokratie verstärkt die diagnostizierte Krankheit der sozialen Selektion also, statt sie zu lindern.

Auch hinsichtlich der Substanz der Entscheidungen, den policies, fällt die Legitimationsprüfung eher negativ aus. In Ländern oder Einzelstaaten, in denen häufig Volksabstimmungen abgehalten werden, wie etwa der Schweiz und Kalifornien, setzen sich meist wirtschafts- und sozialpolitisch eher konservative und neoliberale Interessen in der Haushaltspolitik durch. Dies macht Volksabstimmungen gerade unter den neoklassischen Ökonomen wie Bruno Frey und Gebhard Kirchgässner so beliebt. Geht es um Fragen der Gleichberechtigung und der Anerkennung von religiösen, ethnischen oder sexuellen Minderheiten, tendieren Volksentscheide, grosso modo, konservativer und illiberaler zu sein, als es Parlamentsentscheidungen sind oder wären. Es ist daher kein Zufall, dass gerade die Rechtspopulisten gegenwärtig zu den entschiedensten Fürsprechern von Volksabstimmungen gehören. Auch, dass einige europäische Bevölkerungen (etwa in Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien oder den Visegrád-Staaten) viel stärkere Vorbehalte gegen die europäische Integration hegen als die entsprechenden nationalen Parlamente, macht direktdemokratische Instrumente für Rechtspopulisten attraktiv. Wesentliche Legitimationsprobleme der gegenwärtigen Demokratien wie die asymmetrische politische Partizipation oder den wachsenden Trend zur Illiberalität vermögen Volksabstimmungen jedenfalls nicht zu beheben.

Deliberation

Wenn es in den vergangenen drei Jahrzehnten ein neues Paradigma in der Demokratietheorie gegeben hat, dann jenes der Deliberation (Beratschlagung). Die theoretischen Grundlagen dafür hat vor allem Jürgen Habermas geschaffen. Ausgehend von seiner frühen Schrift zum "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (1962), weiterentwickelt in seinem monumentalen Werk "Theorie des kommunikativen Handelns" (1981) und auf den Boden der rechtsstaatlichen Demokratie geholt in "Faktizität und Geltung" (1992), entwirft der Philosoph die Konturen und Begründungen einer Theorie der deliberativen Demokratie – einer Demokratie also, in der die Bürger unter anderem durch den öffentlichen Diskurs stärker an vernunftorientierten politischen Entscheidungsprozessen teilhaben. Vielfach kopiert und ergänzt, selten erreicht und nie grundlegend infrage gestellt, hat die Politikwissenschaft daraus unterschiedlich voraussetzungsvolle Konzepte entwickelt. Gemeinsam sind diesen mindestens drei tragende Elemente:

  • der freie und diskriminierungsfreie Zugang zu den Deliberationsarenen für alle (inclusion);

  • ein Moderator beziehungsweise "Ermöglicher", der sicherstellt, dass allen Teilnehmern die gleichen Diskussionschancen eingeräumt werden und sich keine Dominanzstrukturen herausbilden (facilitator);

  • die Zufälligkeit der Auswahl der Deliberationsteilnehmer, um einen repräsentativen Querschnitt aus der Bevölkerung abzubilden (randomness).

Über diesen drei Bedingungen schwebt die überragende Idee, Vernunft prozedural in die Politik einzuschleusen. Es geht dabei um nichts weniger als das Allgemeinwohl und das Nachdenken über die Rechtfertigung und die Bedingungen der Möglichkeit vernünftiger und fairer Politik. Strategisches, also macht- und interessengeleitetes Handeln soll durch kommunikatives, also verständigungsorientiertes Handeln ersetzt werden.

Wir verkennen keineswegs mögliche positive Legitimationswirkungen der deliberativen Demokratie. Solche sind insbesondere dann zu vermuten, wenn die Ergebnisse demokratischer Deliberation die legitimitätserzeugenden "Schleusen demokratischer und rechtsstaatlicher Verfahren am Eingang des parlamentarischen Komplexes oder der Gerichte (…) passieren". Dennoch lassen sich mehrere kritische Anmerkungen gegenüber deliberativen Versammlungen anführen – insbesondere dann, wenn ihnen nicht nur konsultative Kompetenzen, sondern auch Entscheidungsbefugnisse zuerkannt werden sollen.

Interessen: Der Ausschluss partikularer Interessen aus dem Diskurs überzeugt nicht. Pluralisten von Ernst Fraenkel bis Seymour Martin Lipset sehen gerade im freien, geregelten, aber durchaus konfliktiv ausgerichteten Streit unterschiedlicher Interessen die Essenz der Demokratie. An dessen Ende steht in der Regel nicht der Konsens, sondern der Kompromiss. Auch Chantal Mouffe sieht gerade im Konflikt das "eigentlich Politische". Ihn zu negieren, hieße, nur der Verschleierung der ökonomischen Gegensätze im Kapitalismus Vorschub zu leisten. Ähnlich argumentiert Ian Shapiro, wenn er bezweifelt, dass sich für einige eklatante Interessen- und Weltanschauungsunterschiede überhaupt eine gemeinsame deliberative Identifizierung finden ließe. Dies dürfte für so unterschiedliche Bereiche wie Fragen des Schwangerschaftsabbruchs ebenso gelten wie für den unterstützten Suizid oder die Steuer-, Sozial- und Tarifpolitik.

Kognition: Es drängt sich der Verdacht auf, dass auch durch "Expertenanhörungen" die erheblichen informationellen Unterschiede zwischen unterschiedlich gebildeten Bürgern in Fragen der Steuer- und Haushaltspolitik, der Regulierung internationaler Finanzmärkte oder der Klima-, Industrie- und Forschungspolitik nicht ausgeglichen werden können.

Das Gleiche gilt für die Rhetorik: Ein Staats- oder Rechtsanwalt, eine Professorin für Kognitionspsychologie oder eine TV-Journalistin verfügen schon aufgrund ihrer Profession über andere rhetorische Durchsetzungsfähigkeiten als ein Maurer, ein Müllwerker oder eine Kassiererin, deren berufliche Fähigkeiten nichts mit diskursiven Kompetenzen zu tun haben. Ihre Interessen kennen die Letztgenannten hingegen durchaus.

Facilitator: Der Facilitator soll zwar dafür sorgen, dass weder die unterschiedlichen informationellen Ressourcen noch die rhetorischen Fähigkeiten den symmetrischen Diskurs verzerren. Aber selbst wenn sich solch beeindruckende Persönlichkeiten in nennenswerter Zahl finden lassen, wirft dies sofort die alte Frage auf: Wer bewacht die Wächter, beziehungsweise wer kontrolliert die mit immenser potenzieller (Manipulations-)Macht ausgestatteten Facilitators?

Organisation: Wie viele deliberative (Mini-)Publics soll und kann es eigentlich geben? Und zu welchen Themen? Damit diese politisch wirklich von Bedeutung sein können, müssten sie zu Tausenden auf den unterschiedlichen Entscheidungsebenen institutionalisiert werden, was nicht sonderlich praktikabel erscheint. Wenn umgekehrt jedes Jahr nur eine nationale Deliberation stattfände, wäre diese eher ein partizipatives Placebo als ein relevanter Beitrag zur Politikproduktion.

Akzeptanz: Es gibt keine besonders überzeugenden Argumente, warum Bürgerinnen und Bürger durch Los zustande gekommenen Laienversammlungen mehr Legitimitäts- und Effizienzglauben entgegenbringen sollten als den von ihnen gewählten Parlamenten und Repräsentanten, die über politische Erfahrung verfügen und der Rechenschaftspflicht und dem Transparenzgebot unterworfen sind.

Kurzum: Die Legitimationskraft deliberativer Verfahren ist in der Theorie groß, in der Praxis jedoch von beschränkter Güte. Deliberation kann und sollte daher innerhalb demokratischer Organisationen und Institutionen ein hohes Gewicht zukommen – außerhalb sollten ihr in der Regel nur konsultative Kompetenzen zugeschrieben werden. Für das eigentliche policy making taugen sie kaum.

Kein Abgesang auf Wahlen

Dass die Legitimationskraft alternativer Beteiligungsformen und -verfahren überschaubar bleibt, heißt nun allerdings nicht, dass mit den demokratischen Wahlen alles zum Besten stünde. Für die demokratische Legitimität gegenwärtiger repräsentativer Demokratien ist es zweifellos problematisch, dass die traditionellen Akteure (Parteien) und Beteiligungsformen (Wahlen) Vertrauen und Unterstützung der Bürger verlieren, die Parteien aber nach wie vor die wichtigsten institutionellen Wächter der Politik- und Entscheidungsproduktion in allen etablierten Demokratien sind. Allerdings besitzen die politischen Parteien weiterhin umfangreichere Formen der Ex-ante-Legitimität (über freie und allgemeine Wahlen) und der Ex-post-Verantwortlichkeit (etwa für die Regierungspolitik), als sie jede NGO oder nichtgewählte politische Körperschaft hat oder haben kann. Die politischen Parteien stecken also gewissermaßen in einer legitimatorischen Klemme zwischen einer nachlassenden Verankerung in der Gesellschaft und sinkendem Vertrauen der Bürger einerseits und einem – über Wahlen legitimierten – fast monopolistischen Zugang zu den staatlichen Entscheidungsarenen und Ressourcen andererseits. Allerdings können auch die diskutierten "demokratischen Innovationen" diese Legitimitätslücke nur sehr begrenzt ausfüllen.

Die hier vorgetragenen Überlegungen sind daher auch kein Abgesang auf Wahlen, Parteien oder gar die repräsentative Demokratie. Allgemeine, gleiche und freie Wahlen sind in repräsentativ-demokratischen Regimen überlegene Legitimations- und Autorisierungsverfahren. Allein Volksabstimmungen können zumindest in der Theorie der Volkssouveränität eine höhere Legitimität beanspruchen. In der Praxis sind die demokratieproblematischen Nebenerscheinungen von Volksabstimmungen jedoch erheblich. Demokratische Innovationen wie Bürgerräte oder digitale Plattformen für Kampagnen und Abstimmungen können die repräsentative Demokratie ergänzen und beleben. Dies gilt aber zunächst nur für die Teilhabeseite der Demokratie. Für verbindliche gesellschaftliche Entscheidungen hingegen ist ihre demokratische Legitimitätsausstattung ausgesprochen dünn.

Die Grundfesten der repräsentativen Demokratie – Wahlen, Parteien, Parlamente – stehen also keineswegs vor ihrer Schleifung, wohl aber vor großen Herausforderungen. Um diesen zu begegnen, muss an erster Stelle eine Reformierung und Vitalisierung von Parteien, Parlament und Regierung selbst stehen. Demokratische Neuerungen können diese Versuche ergänzen, selten aber ersetzen. Es geht nicht allein um die Ablösung des Alten durch das Neue. Das Alte muss so lange Bestand haben, wie das Neue nicht zeigen kann, dass es zu mehr und nicht zu weniger demokratischer Legitimität führt. Dies ist nicht zuletzt das Grundprinzip deliberativer Argumentation.

Dieser Text ist eine erweiterte Fassung unseres Beitrags in den WZB-Mitteilungen, Heft 156.

Fussnoten

Fußnoten

  1. David Van Reybrouck, Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist, Göttingen 2016, S. 61.

  2. Vgl. Larry M. Bartels, The Irrational Electorate, in: The Wilson Quarterly, Autumn 2008; Christopher H. Achen/ders., Democracy for Realists. Why Elections Do Not Produce Responsive Government, Princeton 2016.

  3. Vgl. Armin Schäfer, Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, Frankfurt/M. 2015; Bernhard Weßels, Politische Ungleichheit beim Wählen, in: Wolfgang Merkel (Hrsg.), Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie, Wiesbaden 2015, S. 67–94.

  4. Vgl. Wolfgang Merkel, Is Capitalism Compatible with Democracy?, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 2/2014, S. 109–128.

  5. Vgl. Thomas Piketty, Capital in the Twenty-First Century, Cambridge, MA 2014.

  6. Van Reybrouck (Anm. 1), S. 46.

  7. Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt/M. 2008.

  8. Vgl. John Keane, Eine kurze Geschichte über die Zukunft von Wahlen, in: Aurel Croissant/Sascha Kneip/Alexander Petring (Hrsg.), Demokratie, Diktatur, Gerechtigkeit. Festschrift für Wolfgang Merkel, Wiesbaden 2017, S. 53–73.

  9. Vgl. Pierre Rosanvallon, Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe, Hamburg 2010.

  10. Vgl. Wolfgang Streeck, Die Demokratie in der Krise, in: Daniel Brühlmeier/Philippe Mastronardi (Hrsg.), Demokratie in der Krise. Analysen, Prozesse und Perspektiven, Zürich 2016, S. 67–76.

  11. Vgl. Wolfgang Merkel/Claudia Ritzi (Hrsg.), Die Legitimität direkter Demokratie, Wiesbaden 2017.

  12. Vgl. ebd.

  13. Vgl. u.a. Bruno S. Frey, Direct Democracy: Politico-Economic Lessons from Swiss Experience, in: American Economic Review 2/1994, S. 338–342; Lars P. Feld/Gebhard Kirchgässner, Direct Democracy, Political Culture, and the Outcome of Economic Policy. A Report on the Swiss Experience, in: European Journal of Political Economy 2/2000, S. 287–306.

  14. Vgl. etwa die unterschiedlichen Entscheidungen zu Migrationsfragen in Schweizer Kantonen, je nachdem, ob sie von den Kantonalparlamenten oder über Volksabstimmungen getroffen werden.

  15. Insofern sind Rechtspopulisten Realisten, die eine Übereinstimmung der Volksabstimmungspraxis mit ihrer Programmatik erkennen, während linke Parteien auf den Legitimationsvorteilen der Theorie direkter Demokratie beharren, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass diese in der Praxis manchen ihrer Prinzipien und Ziele zuwiderläuft.

  16. Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992.

  17. Vgl. Joshua Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy, in: Alan Hamlin/Philip Pettit (Hrsg.), The Good Polity: Normative Analysis of the State, Oxford 1989, S. 17–34; James S. Fishkin, Democracy and Deliberation: New Directions for Democratic Reform, New Haven 1991; Rainer Schmalz-Bruns, Reflexive Demokratie. Die demokratische Transformation moderner Politik, Baden-Baden 1995; John S. Dryzek, Deliberative Democracy and Beyond. Liberals, Critics, Contestations, Oxford 2000; Robert E. Goodin, Democratic Deliberation Within, in: Philosophy and Public Affairs 1/2000, S. 81–109; Amy Gutmann/Dennis F. Thompson, Why Deliberative Democracy? Princeton 2004; Rainer Forst, Die Herrschaft der Gründe. Drei Modelle deliberativer Demokratie, in: ders., Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2007, S. 224–269; John Parkinson/Jane Mansbridge (Hrsg.), Deliberative Systems, Cambridge 2012; André Bächtiger/Dominik Wyss, Empirische Deliberationsforschung – ein systematischer Überblick, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 2/2014, S. 155–181.

  18. Die unterschiedlichen Konzepte, Verfahren, Voraussetzungen und Wirkungen können hier nicht ausführlich erläutert werden. Vgl. auch die zum Teil kritischen Abhandlungen von Adam Przeworski, Deliberation and Ideological Domination, in: Jon Elster (Hrsg.), Deliberative Democracy, Cambridge 1998, S. 140–160; Ian Shapiro, The State of Democratic Theory, Princeton 2003; Claudia Landwehr, Demokratische Legitimation durch rationale Kommunikation. Theorien deliberativer Demokratie, in: Oliver W. Lembcke/Claudia Ritzi/Gary S. Schaal (Hrsg.), Zeitgenössische Demokratietheorie, Band 1: Normative Demokratietheorien, Wiesbaden 2012, S. 355–385.; Danny Michelsen/Franz Walter, Unpolitische Demokratie. Zur Krise der Repräsentation, Berlin 2013; Wolfgang Merkel, Nur schöner Schein? Demokratische Innovationen in Theorie und Praxis, Otto-Brenner-Stiftung, OBS-Arbeitsheft 80/2015.

  19. Habermas (Anm. 16), S. 432.

  20. Vgl. Chantal Mouffe, The Democratic Paradox, London 2000.

  21. Vgl. Shapiro (Anm. 18), S. 10.

  22. Es kommt nicht von ungefähr, dass in den vergangenen Jahren immer wieder die gleichen deliberativen Versammlungen exemplarisch zitiert werden: die Citizens’ Assembly on Electoral Reform in British Columbia 2004, die Citizens’ Assembly on Electoral Reform in Ontario 2006/07; die verfassungsgebende Versammlung in Island 2010–2012 und die Convention on the Constitution in Irland 2013.

  23. So besteht eine eklatante Diskrepanz zwischen der Bedeutung deliberativer Theorieproduktion und der geringen Bedeutung, die deliberative Verfahren de facto in repräsentativen Demokratien jenseits der parlamentarischen Arena spielen (können).

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Sascha Kneip, Wolfgang Merkel für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist promovierter Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung "Demokratie und Demokratisierung" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). E-Mail Link: sascha.kneip@wzb.eu

ist Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor der Abteilung "Demokratie und Demokratisierung" am WZB. E-Mail Link: wolfgang.merkel@wzb.eu