I. Einleitung
Am 21. 1. 2000 wurde in Ekuador mit Billigung des Militärs ein demokratisch gewählter Präsident aus dem Amt entfernt. Dieser Vorgang ist auf dem Hintergrund lateinamerikanischer Erfahrungen mit gewaltsamen Machtwechseln zunächst nicht ungewöhnlich, scheint er doch das bekannte Bild von den notorisch instabilen Herrschaftsverhältnissen und labilen Demokratien zu bestätigen. Läutet der Umsturz in Ekuador das Ende der gegenwärtigen demokratischen Phase in Lateinamerika ein? Haben wir es nicht auch in Venezuela, das von einem ehemaligen Putschisten mit einer zweifelhaften demokratischen Reputation regiert wird, und in Peru, dessen Präsident während seiner ersten Amtszeit den Kongress und den obersten Gerichtshof verfassungswidrig aufgelöst hat, mit schlecht verhüllten autoritären Regimen zu tun? Können sich angesichts der extremen sozialen Polarisierung in Lateinamerika überhaupt nachhaltige demokratische Verhältnisse etablieren? Sind die Zweifel an der Überlebensfähigkeit der Demokratie, die auch in der Literatur über die Konsolidierung der Demokratien in Lateinamerika unter anderem aus diesem Grund geäußert worden sind, nicht doch berechtigt?
Man kann allerdings auch eine Gegenrechung aufmachen, welche die Frage der Belastbarkeit und Stabilität der jungen Demokratien in Lateinamerika in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Wie stabil wäre die Demokratie hierzulande, wenn innerhalb eines Jahres der Wert der eigenen Währung um 71 Prozent fallen und der Anteil der in Armut lebenden Personen dadurch enorm ansteigen würde (so in Mexiko 1994), wenn innerhalb weniger Jahre die Einkommenszuwächse von mehreren Jahrzehnten weggewischt würden (so in Venezuela in den Achtzigerjahren), wenn tief greifende Wirtschaftsreformen von einer zunehmenden sozialen Polarisierung und Verarmungsprozessen bis weit in die Mittelschichten hinein begleitet würden (so in vielen Ländern Lateinamerikas)
So gesehen verfügen die Demokratien in Lateinamerika über eine erstaunliche Belastbarkeit und Krisenresistenz. Damit verändert sich die Frage, die man in diesem Zusammenhang stellen kann: Nicht die Instabilität lateinamerikanischer Demokratien muss erklärt werden, sondern deren überraschende Stabilität angesichts extremer Belastungen. Über welche - auch von der einschlägigen Literatur - nicht erwarteten Legitimitätsreserven verfügen diese Regime?
Wir werden uns mit dieser Frage im nachfolgenden Abschnitt beschäftigen. Um überhaupt abschätzen zu können, ob man den gegenwärtigen Demokratien in Lateinamerika mehr Stabilität zubilligen kann als den fast durchweg gescheiterten Demokratien der frühen Sechzigerjahre, werden wir dabei nicht nur nach den Ursachen der Labilität demokratischer Regierungssysteme, sondern allgemein nach denen der notorischen Regime-Instabilität in der Vergangenheit fragen und diese mit der aktuellen Situation vergleichen. Abschließend werden wir die Frage stellen, wo heute demokratiegefährdende Potenziale auszumachen sind.
II. Legitimität und Regime(in)stabilität
Gemäß der klassischen Systemlehre
Vor diesem Hintergrund überraschen daher weniger die Unruhen und gescheiterten Putschversuche in einigen Ländern, sondern eher das bisherige Fortdauern der Demokratie in Lateinamerika. Dabei handelte es sich im Übrigen nicht nur um ein bloßes Überleben ohne qualitative Fortentwicklung: Einige demokratische Systeme sahen sich sogar in der Lage, weitreichende institutionelle Reformen zu unternehmen. Mit der Ausweitung des Wahlrechts auch auf die nichtalphabetisierten Bevölkerungsteile, die in Brasilien und Ekuador früher von der Stimmabgabe ausgeschlossen waren, verbreiterte sich beispielsweise die Basis politischer Mitwirkung
Wie ist der Fortbestand und die Weiterentwicklung der lateinamerikanischen Demokratien zu erklären? Betrachten wir doch noch einmal die These vom Zusammenhang zwischen Legitimität und Regimestabilität etwas näher: Die Wahlbürgerschaft eines Landes bewertet die Politikergebnisse ihrer Regierungen nämlich nicht nach abstrakten Maßstäben, sondern viel eher aufgrund ihrer jeweiligen Erwartungen. Diese wiederum entwickelt sie überwiegend vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen. Die Politikevaluierung ist daher stark kontextabhängig. Darüber hinaus ist die Bewertung abhängig von der Interessenlage der jeweiligen Bevölkerungsgruppe, der sich das Individuum zugehörig fühlt. Gerade in sozial sehr stark polarisierten Gesellschaften, wie eben in Lateinamerika, werden die Leistungen der Regierungen nicht einheitlich bewertet.
Zumeist geht es den Systemtheoretikern um die Unterstützung, die ein Regime bei der Mehrheit der Bevölkerung findet. Aber gerade dies ist mit Blick auf die lateinamerikanische Geschichte ein zweifelhafter Indikator, zumindest, wenn man ihn als den allein gültigen betrachtet. In der Vergangenheit waren es in der Regel andere Faktoren, welche die Demokratien destabilisierten. Wichtige Elitegruppen wie Großagrarier und Unternehmer hatten ein rein taktisches Verhältnis zur Demokratie: Bei unliebsamen Politikresultaten waren sie schnell bereit, Bündnisse mit dem Militär einzugehen. Diese Neigung wurde durch ein politisches Patt zwischen verschiedenen Elitegruppen verstärkt, das sich in sprunghaften Politikwechseln und der Unfähigkeit ausdrückte, ein Entwicklungsmodell auf Dauer durchzusetzen. In Argentinien vermochten die Militärregime nicht, den so genannten "argentinischen Zyklus" zu beenden. Vielmehr wurden sie zum Bestandteil desselben. In Chile fand der seit der Weltwirtschaftskrise ungelöste Hegemonialkonflikt zunächst im Rahmen demokratischer Verhältnisse seinen Ausdruck in ständigen Politikwechseln und einer für damalige Verhältnisse hohen Inflation, die von Albert O. Hirschman einmal als "Bürgerkriegsersatz" bezeichnet worden ist
Gerade hier, bei den potenziellen Demokratiegefährdungen durch die Eliten, sind jedoch in den letzten Jahren entscheidende Veränderungen in Lateinamerika zu beobachten, die maßgeblich zur Stabilisierung der Demokratien beitragen:
Die politische und gesellschaftliche Bedeutung des Militärs ging in den letzten Jahren zurück, nicht zuletzt deshalb, weil sich die ideologische Grundlage des Antikommunismus im Verlauf der Achtzigerjahre verflüchtigt hatte
Das Verschwinden sozialistischer Optionen trug zur Beruhigung traditioneller Machtgruppen bei (Industrieunternehmer, Agraroligarchie), die sich früher immer wieder in Gegnerschaft zur Demokratie befunden hatten. Dies war die Voraussetzung dafür, dass zum ersten Mal seit langem ein entwicklungsstrategischer Konsens
Der entwicklungspolitische Strategiewechsel vom staatszentrierten, binnenorientierten zum weltmarktorientierten, marktwirtschaftlichen Modell, von vielen verkürzt als "neoliberal" bezeichnet, hatte in den Neunzigerjahren (in Chile bereits in den Achtzigerjahren) einen bedeutsamen sozialen Wandel zur Folge. So wirkt sich die in den meisten Ländern gerade erst beginnende Erhöhung des Wettbewerbs auf den vormals durch Oligopole beherrschten Binnenmärkten unterschiedlich auf die Unternehmerschaft aus: Während nämlich einige Gruppen hiervon profitieren, sind andere von Konkurs und sozialem Abstieg bedroht.
Zugleich wird im informellen Sektor und bei den "arbeitenden Armen" die Beendigung der Inflation begrüßt
Des weiteren wirkt sich zweifellos günstig für die lateinamerikanischen Demokratien aus, dass mächtige externe Akteure heute dazu neigen, den demokratischen Regierungen in den schwierigen wirtschaftlichen Strukturanpassungsprozessen mehr an politischer und wirtschaftlicher Standfestigkeit zuzutrauen als denkbaren autoritären Machthabern. Diese externen Akteure, die sehr an stabilen Verhältnissen in Lateinamerika interessiert sind (zum Beispiel die US-Regierung, Anleger oder private Gläubiger), haben mit dem unberechenbaren Wirtschaftskurs der früheren Militärregime (etwa in Argentinien oder in Uruguay in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren) schlechte Erfahrungen gemacht. Ohne dieses gegenüber früher veränderte internationale Umfeld wären das Scheitern des Putschversuchs in Paraguay 1996, die relativ rasche Rückkehr zur Demokratie in Peru nach dem Staatsstreich des Präsidenten Fujimori 1992 und der schnelle Rückzug der Militärs nach dem Putsch in Ekuador kaum denkbar gewesen.
Zurück zur Bewertung der Regimeleistungen durch die Bevölkerung: Angesichts früherer Desaster
Eine Bestimmung des Leistungsprofils der demokratischen Regime wird also insgesamt wesentlich vieldeutiger und differenzierter ausfallen müssen, als es die These vom sozialen und wirtschaftlichen Versagen der Demokratien behauptet. Diese Differenzierung gilt es natürlich auch zwischen den einzelnen Ländern und Ländergruppen vorzunehmen. Während in Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay gewisse Entwicklungserfolge und soziale Härten nebeneinander bestehen und ein ambivalentes Bild entstehen lassen, sieht es in den Andenländern, besonders in Venezuela, Ekuador und Bolivien, deutlich düsterer aus.
Zusammenfassend lässt sich also an dieser Stelle als Zwischenergebnis festhalten, dass die jungen Demokratien im Vergleich zu den zumeist katastrophalen Politikergebnissen der vorangegangenen Militärdiktaturen trotz oft dürftiger wirtschaftlicher und sozialer Leistungen nach wie vor gut abschneiden. Darüber hinaus ist die Bedeutung der traditionellen Gefahrenquellen für die Demokratie zurückgegangen. Im Folgenden gilt es nun zu fragen, ob möglicherweise neue Bedrohungen für die Demokratie in Lateinamerika entstanden sind.
III. Risiken und Gefahren
Nun ist es nicht einfach, klar zu bestimmen, wann und bei Erfüllung welcher Kriterien eine Demokratie als konsolidiert gelten kann. Bezüglich des gängigen Verständnisses von "Konsolidierung" als Stabilität plus Qualität der Demokratie
Was die Politikresultate betrifft, so sind die Einschätzungen, wie wir gesehen haben, in Teilen der Literatur von kurzfristigen Erfolgserwartungen und der Übertragung von fremden Erfolgsstandards geprägt. Außerdem werden sie in der Bevölkerung nach wie vor auf dem Hintergrund der von autoritären Regimen angerichteten Entwicklungskatastrophen gemessen. Unabhängig von diesen Relativierungen lässt sich argumentieren, dass die Politikresultate vor allem insofern stabilitätsrelevant für die lateinamerikanischen Demokratien sein können, als sie potenziell Rückwirkungen auf den Elitenkonsens bezüglich des Entwicklungsmodells haben, der in den meisten Ländern (Ausnahmen: Ekuador, Venezuela) mittlerweile erreicht wurde. Die nach wie vor hohe Anfälligkeit gegenüber externen Schocks, die für eine effektive Reduzierung der Armut unzureichenden Wachstumsraten, der Verlust an Konkurrenzfähigkeit gerade bei den Produkten mit hohem Technologiegehalt und damit verbunden der sich abzeichnende Rückzug auf Montage- und rohstoffverarbeitende Industrien
In Lateinamerika scheint der Spannungszustand zwischen der Implementierungseffizienz bei den Reformen
Mit der Neudefinition des Staates im Entwicklungsprozess nach liberalen Vorstellungen war in Lateinamerika zweifellos ein Bedeutungsverlust korporatistischer Strukturen verbunden
Die Repräsentationsdefizite werden in einigen Ländern durch die abnehmende Bedeutung von Parteien noch verschärft. In Ländern wie Brasilien und Ekuador haben sich die Parteien von jeher durch eine geringe Kohärenz und einen Mangel an programmatischem Profil ausgezeichnet. Dort waren Parteiwechsel von politischen Eliten und eine geringe Parteienbindung der Wähler schon immer üblich. Allerdings gerieten Parteien zum Teil auch in solchen Ländern geradezu in eine Existenzkrise, in denen sie bis vor kurzem noch im politischen Prozess eine dominante Rolle gespielt haben: In Peru und jüngst auch in Venezuela wurden sie regelrecht hinweggefegt. Sofern hier informelle Netzwerke eine Artikulations- und Steuerungsfunktion übernommen haben, bleibt diese noch wenig transparent.
Dort, wo Ansätze der Staatsreform in Lateinamerika wirklich gegriffen haben, haben sie vor allem die Implementierungseffizienz erhöht. Anderen Reformansätzen wie der Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit war bisher weniger Erfolg beschieden. Eine funktionierende Verwaltungsgerichtsbarkeit, welche eine juristische Überprüfung staatlicher Verwaltungsakte zulassen würde, gibt es kaum, und die düstere Einschätzung bezüglich der Gleichheit vor dem Gesetz, die in Lateinamerika vorherrscht, kann durchaus als realistisch gelten
Die genannten Defizite und Einschränkungen der Demokratie in ihrer Qualität stellen alleine noch keine Bedrohung der demokratischen Stabilität dar, jedenfalls, solange der Elitenkonsens nicht auseinander bricht, der gerade in Ländern stabilitätsrelevant ist, deren zwischen Staat und Gesellschaft vermittelnde Strukturen schwach sind. Sie wirken freilich als Hemmnisse im Modernisierungsprozess, da eine mangelnde Transparenz und eine nicht (gut) funktionierende und institutionell abgesicherte gesellschaftliche Artikulation von Interessen natürlich auch die Politikresultate beeinflusst, die dann wieder vorzugsweise kleinen Eliteklüngeln zugute kommen könnten.
Die Tatsache, dass in diesem Beitrag viele Aussagen geographisch spezifiziert bzw. eingeschränkt werden mussten, macht deutlich, dass die politische Entwicklung in Lateinamerika keineswegs gleichgerichtet verläuft. Einigen Gesellschaften, die innovativ auf die veränderten Entwicklungsanforderungen reagiert haben, stehen andere gegenüber, die sich weitgehend modernisierungsresistent verhalten und in denen politische Regressionsprozesse nicht mehr auf Dauer ausgeschlossen werden können, wenngleich diese im Hinblick auf die internationalen Rahmenbedingungen wohl kaum in einen offenen Autoritarismus münden werden. Nicht nur in ökonomischer, sondern auch in politischer Hinsicht wird es daher zunehmend schwierig, in Lateinamerika gemeinsame Grundmuster zu entdecken.