Wählerinnen und Wähler legitimieren das politische System. Über die Wahl ihrer Repräsentantinnen und Repräsentanten steuern alle Wahlbeteiligten die Herstellung demokratischer Legitimität. Nur Parteien stellen sich regelmäßig diesen Wahlen. Sie haben damit einen Legitimationsvorsprung vor allen anderen politischen Organisationen. Parteien sichern gleichzeitig beteiligungsgerechte Partizipation. Für die demokratische Willensbildung sind sie unverzichtbar, für den Wahlakt unersetzbar, für die Regierungspraxis essenziell. Sie sind Machterwerbsorganisationen, Problemlösungsagenturen, Gesinnungsgemeinschaften oder auch Lebensstilbastionen – je nachdem, welcher konkrete Nutzen die Menschen jeweils als Mitglieder in die Parteien treibt.
Doch das sind abstrakte oder allgemeine Motive und Gründe, warum Wahlen über Parteien und deren Kandidatinnen und Kandidaten in einem freien System wichtig sind. Hinzu kommen spezifische Gründe für den Wahlakt, die sich in der Wahlkonstellation abbilden. Im Superwahljahr 2017 – mit vier Landtagswahlen, der Wahl zum Bundespräsidenten und der Bundestagswahl – lassen sich diese Kontexte über die Themen Sicherheit und Identität eingrenzen. Anders als die Euro-Krisen vor den zurückliegenden Bundestagswahlen spricht vor allem das komplexe Thema Sicherheit die Gefühle der Wähler an. Die Motive, zur Wahl zu gehen, sind somit 2017 vielschichtiger, weil nicht nur Rationalität und Irrationalität, sondern auch Emotionen die Entscheidungen in den Wahlkabinen leiten werden.
Insbesondere die folgenreiche Flüchtlingsentscheidung der Bundeskanzlerin vom 4. September 2015 – über die begrenzte Aufnahme syrischer Flüchtlinge aus Ungarn – ist zum Prägestempel der Großen Koalition geworden:
So hat die Flüchtlingspolitik die jüngste Ausdifferenzierung des Parteienwettbewerbs klar befördert:
Die Suchbewegungen sind dabei grundsätzlich an vier wichtigen Grundbedürfnissen ausgerichtet:
Mobilisierungsmuster im Kampf um die verunsicherte Mitte
Der Parteienmarkt kam in Deutschland selten polarisiert daher.
Angesichts dieser vier Konfliktlinien ist der Parteienwettbewerb in der ersten Jahreshälfte 2017 deutlich ins ideologische Zentrum zurückgekehrt. Die politische Mitte meldet sich zurück.
Alle drei Aspekte liefern Gründe für die Stärkung der traditionellen Volksparteien der Mitte. Es ist ein internationaler Begleitzug, der den Sog in die politische Mitte neu belebt hat. Dies ist vor allem seit den Präsidentschaftswahlen in den USA 2016 zu beobachten. Die öffentlichen Diskussionen – beginnend mit dem Brexit-Votum in Großbritannien, die Parlamentswahlen in den Niederlanden und die Wahlen in Frankreich im ersten Halbjahr 2017 – haben eine Stimmungslage erzeugt, die offenbar die schweigende Mehrheit nochmals besonders politisiert hat. Mit einer Art von Gegenmobilisierung gegen die Feinde der repräsentativ verfassten Demokratie brechen sich Bewegungen wie beispielsweise "Pulse of Europe" Bahn, um aktiv für die offene Gesellschaft und die europäische Integration zu werben.
Nach der Nominierung von Martin Schulz als Kanzlerkandidat und seiner Wahl zum Parteivorsitzenden der SPD entwickelte sich ein Strom aus Hoffnung und Euphorie. Nach vielen Jahren der degressiven Stagnation lagen die Sozialdemokraten im Februar und März 2017 in den Sonntagsfragen gleichauf mit der Union. Das waren zwar Momentaufnahmen, aber dennoch deuteten sie auf eine Veränderungsdynamik hin. Die Konsequenzen tragen die kleineren Parteien, die auf politische Eigenständigkeit pochen und somit in der Regel keine Koalitionsaussagen treffen. Der Abstand zwischen den beiden großen Volksparteien und den kleineren Parteien wird größer. Auch Protestparteien marginalisieren sich unter dem Druck, der aus dem Zentrum des Parteienwettbewerbs entsteht.
Seit der Bundestagswahl 2005 gibt es in Deutschland ein asymmetrisches, changierendes Fünf- beziehungsweise Sechs-Parteiensystem, was sowohl für die Regierungsbildung im Bund als auch in den Ländern weitreichende Konsequenzen hat.
In den Bundesländern ist die "defekte Linke" inzwischen längst überwunden. Rechnerisch ergibt sich auch im Bundestag bereits jetzt eine linke, rot-rot-grüne Mehrheit. Das gilt auch für mehrere Landtage. Paradoxerweise erhält Rot-Rot-Grün rechnerisch aber gerade dann Mehrheiten, wenn die einzelnen Parteien nicht mit entsprechenden Koalitionsaussagen zur Wahl antreten. Steht dieses Bündnis als Option für die Wähler bereit, wie im März 2017 im Saarland, hat das eher abschreckende Wirkung. Für die SPD kann sich die Variante "Doppel-Rot" zudem auch aus der Dynamik des Parteiensystems als hinderlich erweisen: Denn ein eher linker Gerechtigkeitswahlkampf – mit signifikanten und symbolischen Änderungen an der Agenda 2010 – zieht Wähler und Nichtwähler von der Linken direkt zur SPD, was Mehrheiten unwahrscheinlicher macht.
Fast 30 Prozent der Wähler haben bei der Bundestagswahl 2013 ihre Stimme gesplittet, waren also rationale Koalitionswähler. Dieses Wahlmotiv setzt jedoch voraus, dass klar ist, welche Koalitionen eine Machtoption haben könnten. Im Moment gleicht der Wahlschein eher einem Lotterieschein, denn ohne die Große Koalition sind in der Koalitionsrepublik Deutschland (mit zahlreichen unterschiedlichen Koalitionsformaten in den Landesregierungen) viele Varianten denkbar, die ohne den Wähler im Prozess der Regierungsbildung zustande kommen könnten.
Ein weiterer Mobilisierungsbefund: Wahlkämpfe lohnen sich wieder, wenn man den Daten der Umfrageinstitute glaubt. Aufholjagden mobilisieren Parteimitglieder und Wähler. Dies war nicht zuletzt im Mai 2017 bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zu beobachten. Hier zahlte sich der Amtsbonus für die SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft nicht aus, stattdessen gewann der CDU-Kandidat Armin Laschet, dem lange Zeit deutlich geringere Chancen eingeräumt worden waren. Wähler lieben nicht nur Favoriten, sondern wollen auch gerne bei den Siegern sein. Wähler sind Fans des Erfolgs. Umfragen können insofern demobilisieren, wenn ein bestimmter Ausgang aussichtslos erscheint, aber auch mobilisieren, wenn es knapp werden könnte.
StilPluralität und politische Ereignisgewitter
Status-Quo-Wähler stärken immer das Bekannte. Die Vorstellungen darüber, wie politisches Spitzenpersonal zu agieren hat, waren über viele Jahre relativ konstant. Anders wären die Wiederwahlen von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrem politischen Führungspersonal der bürgerlichen Mitte nur schwer zu erklären. In Zeiten von dramatischen Risikoentscheidungen kommt dieses Personal größtenteils unaufgeregt, geschäftsmäßig und unprätentiös daher. Kalkuliert unauffällig und mit erklärungsarmem Pragmatismus ausgestattet, arbeitet es viele Probleme effektiv und stellvertretend für die Bürger ab. Die Wähler wollen mit den Problemen möglichst nicht behelligt werden, erst recht, sobald der Wahltag vorbei ist. Weit und breit grassiert Risiko-Unlust.
Die deutschen Wählerinnen und Wähler favorisieren offenbar schon seit Längerem keine Power-Entscheider, die vor allem kraftstrotzend und selbstdarstellerisch vorgehen.
Der intelligente Umgang mit Nichtwissen wird dabei zur Auszeichnung für Spitzenpolitiker. Das politische Ereignisgewitter steigert für die Spitzenakteure in der Politik die Herausforderung, mit Ungewissheit umzugehen. Viele Krisen, wie etwa die Finanzmarktkrise oder die Flüchtlingsthematik, sind auch Wissenskrisen, bei denen uns wichtige Informationen und Erkenntnisse fehlen, um sie längerfristig lösen zu können. Politiker sind gut beraten, wenn sie pragmatisch im Modus des Abwartens, des Beruhigens, des Kümmerns, idealerweise sogar des substanziellen Verzögerns agieren. Innenpolitisch wirkt das fast immer präsidentiell, also überparteilich.
Doch auch dieser Stil ist auf dem Wählermarkt nicht konkurrenzlos. Denn die Neugierde der Bürger an anderen Führungstypen nimmt ebenso zu wie der Stellenwert von Emotionen im politischen Geschäft.
In Deutschland zeigen sich Varianten unterschiedlicher Führungsstile, die in der politischen Mitte demokratisch verortet sind. Mit Martin Schulz hat die SPD einen Kandidaten für das Bundeskanzleramt benannt, dessen Stil auf die Wähler kontrastierend zum Stil Merkels wirkt.
Im Superwahljahr 2017 ist somit eine Stilpluralität erkennbar, ohne jedoch vorhersagen zu können, ob das bewährte "Nüchtern-Abarbeitende-Deeskalierende" oder das "Leidenschaftlich-Gestaltende-Gerechtigkeitsgetriebene" am Ende vom Wähler stärker honoriert wird. Fest steht aber, dass die deutschen Wähler tendenziell eher Regierungschefs abwählen als neue Amtsinhaber zu inthronisieren.
Sicherheit schlägt Gerechtigkeit
Bislang galt für die zurückliegenden Wahlkämpfe: Nicht Gerechtigkeits- und Bürgerrechtsthemen dominierten die politische Auseinandersetzung, sondern Wohlfahrtsversprechen. (Soziale) Sicherheit ist in der Wahlarena wichtiger als (soziale) Gerechtigkeit. Seit 2005 wurden – links wie rechts – nicht diejenigen gewählt, die am meisten Veränderungen versprachen, sondern diejenigen, die am plausibelsten machen konnten, dass sie in der Lage seien, die Bürger vor den Unbilden der Zukunft zu schützen. Bürgerliche Wähler fordern Stabilitätsgarantien.
Das Primat der Sicherheit steht 2017 zwar nach wie vor im Zentrum, aber mit veränderten Ausprägungen. Innere und äußere Sicherheit sind den Bürgern extrem wichtig, ohne dabei angesichts drohender terroristischer Gewalttaten in eine Panikstimmung zu verfallen.
Neue Akzente setzt der Begriff der kulturellen Sicherheit.
Eindeutig sind die Thematisierungsbefunde im Hinblick auf die Folgen für das öffentliche Klima. Es wird ganz offensichtlich wieder über die Rangfolge von Werten gerungen und gestritten: Was steht an oberster Stelle – Sicherheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität? In dem Maße, wie durch die Kandidatur von Martin Schulz über Themen von Gerechtigkeit und Sicherheit ein politischer Streit unter Wettbewerbern entstanden ist, verdrängt dieser inhaltliche Mitte-Diskurs alle anderen Themen, die über Monate von der Koalition der Empörten und Verängstigten gesetzt wurden. Nachrichtenwert haben ganz offensichtlich wieder Auseinandersetzungen um kontroverse Problemlösungen und nicht mehr vorrangig populistische Usancen. Die Mitte ist im Hinblick auf den Parteienwettbewerb zurückgekehrt, und sie prägt den öffentlichen Diskurs – auch jenen um Sicherheit und Identität. Der Zenit einer Protestpartei wie der AfD, die mit dem Thema "Flucht und Asyl" und "Anti-Islam" über Monate mobilisieren konnte, scheint überschritten, unter anderem auch, weil die Volksparteien das Drama der Differenzierung inhaltlich suchen.
Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten
Die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl wird steigen, darauf deuten die Landtagswahlen 2016 und 2017 mit teils drastisch zunehmender Wahlbeteiligung hin. Die Wahlarena 2017 ist gekennzeichnet von einer Repolitisierung der Mitte. Der Bundestagswahlkampf unterscheidet sich von den vorhergehenden bislang deutlich: Er lief spät an, ist dafür aber themenzentrierter, polarisierter, emotionaler und auch lauter. Nach Wechselstimmung sah es lange Zeit nicht aus – aber wenn über 16 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer das einzige TV-Duell zwischen der Kanzlerin und dem Herausforderer verfolgen, spricht das zumindest für das große Interesse an der Bundestagswahl. Die Jagdsaison der Wahlkämpfer auf die Spätentscheider ist damit traditionell eröffnet. Denn die immer größer werdende Teilung des Wählermarktes in Frühwähler (rund 30 Prozent Briefwähler) und Spätentschlossene, die sich erst 48 Stunden vor Schließung der Wahllokale festlegen, macht Wahlkämpfe immer anspruchsvoller für Strategen.
Die Kanzlerin polarisiert dabei nicht als Person. Deshalb wirkt sie auch immer wie eine moderierende "Kanzlerpräsidentin". Da ist es für jeden Kontrahenten extrem schwer, Wähler für sich zu mobilisieren, wenn Polarisierung nicht verfängt. Doch das größte Handicap für eine anhaltend heftige zivilisierte Streitkultur im Wahljahr liegt am Format der Großen Koalition. Warum wählen, wenn auch der Herausforderer möglicherweise einer künftigen Regierungskoalition angehört?
Offenbar treibt es viele Bürger an, nach mehreren Bundestagswahlen wieder eine wirkliche Wahl zu haben – jenseits der Berliner Macht-Monotonie. Zumindest ein wenig: Denn gerade in unsicheren Zeiten überzeugt das Bekannte eher als das Unbekannte. In dieser Ambivalenz liegt der Spielraum der Wahlkampagnen. Begrenzte Aggressivität, Sicherheitsbotschaften und Zukunftskompetenz bleiben die Variablen auf der Angebotsseite der Parteien.
Die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten wird zum Signum dieses multidimensionalen Wahljahres. Trends und Gegentrends gelten zeitgleich: Globalisierungsfurcht und Entgrenzungssorgen befeuern eine Diskussion um Identität und Sicherheit. Gleichzeitig wächst der Zuspruch für Europabefürworter und neue Fans des internationalen Freihandels. Nüchterne Weiter-so-Politiker ("Keine Experimente!") konkurrieren mit leidenschaftlichen Gestaltern. Protest- und Empörungspotenziale sowie eine diffuse antielitäre Wut bleiben in einer Einwanderungsgesellschaft virulent. Gleichzeitig erstarkt die politische Mitte mit traditionellen Volksparteien und Anwälten der offenen Gesellschaft. Internationale Ereignisse bestimmen wirkmächtig die öffentliche politische und mediale Agenda, gleichzeitig bleibt aber auch viel Raum für regionale Themen und Probleme.
Aus der Konsumforschung sind Käufer als multiple Persönlichkeiten bekannt. Die paradoxen Eigenschaften führen dazu, dass Kundinnen und Kunden verschiedene Konsummuster in einer Person vereinen. Das gilt heute auch für eine Vielzahl von Wählerinnen und Wählern mit inneren Widersprüchen, die über Wahrnehmungen, Einstellungen, Wünsche und Absichten verfügen, die nur schwer alle miteinander zu vereinbaren sind. Verlässliche Szenarien lassen sich daraus weder für Partei- noch für Wahlkampfstrategen ableiten. Einmal mehr gilt, dass Wahlkämpfe Marathonläufe mit Fotofinish sein können. Doch die Wahlmotive 2017 sind speziell und abweichend von früheren Wahljahren. Diesmal stehen nicht nur Personen und Parteien zur Wahl, sondern in Zeiten des internationalen Populismus auch das Gesellschaftsmodell der Demokratie.