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Determinanten zukünftiger deutscher Außenpolitik | Deutsche Außenpolitik | bpb.de

Deutsche Außenpolitik Editorial Die auswärtige Kulturpolitik vor einem Wendepunkt Zehn Jahre als europäische Großmacht Determinanten zukünftiger deutscher Außenpolitik Deutschland im multipolaren Gleichgewicht der großen Mächte und Regionen Europas Rolle in der Weltpolitik des 21. Jahrhunderts

Determinanten zukünftiger deutscher Außenpolitik

Ernst-Otto Czempiel

/ 24 Minuten zu lesen

Orientierungspunkt einer innovativen deutschen Außenpolitik muss es sein, die großen Ursachen der Gewalt zu beseitigen. Die Anarchie des internationalen Systems muss beispielsweise durch die Institutionalisierung von Kooperation in einer internationalen Organisation verändert werden.

I. Modernisierung ist gefragt

Seit vor rund einem Jahr der NATO-Krieg gegen Serbien zu Ende ging, ist auch die Diskussion um eine Ortsbestimmung der deutschen Außenpolitik wieder verstummt. Berlin beruhigt sich mit seiner Einordnung des Luftkrieges als einmalige Ausnahme und richtet sich in einer neuen Normalität ein , die durch Wiedervereinigung und Hauptstadtwechsel sicher aufregend genug ist. Aber eine solche schleichende Anpassung des Bewusstseins an die jeweilige Realität hat wenig zu tun mit einer Politik, die sich noch als "Kunst des Möglichen" versteht. Sie würde außenpolitische Ziele formulieren und anstreben, die sich als zweckrational empfehlen. Erst dann lässt sich prüfen, ob und in welchem Maß sie auch verwirklicht werden können. Das Wünschenswerte ist gewiss nicht immer machbar; aber wer keine Orientierung besitzt, erliegt leicht der Versuchung, das Machbare als wünschenswert auszugeben. Die Bilanz dieser Art "Realpolitik" ist, sieht man das letzte "Jahrhundert der Kriege" an, absolut negativ.

Fünfzig Jahre lang hatte sich die Bonner Republik bewusst als Antithese zu der deutschen Tradition der Realpolitik verstanden und dafür das glückliche Kennwort der "Zivilmacht" benutzt . Will sie diesen Weg fortsetzen, genügt es nicht mehr, wie zu den Zeiten des Kalten Krieges und der geteilten Republik, die Bundeswehr in die NATO zu integrieren und der amerikanischen Führung zu folgen. Die Allianz ist dabei, ihre vertraglichen Grundlagen zu verlassen und sich in ein globales Expeditionskorps zu verwandeln. Die USA haben sich unter kontinuierlich zunehmendem Einfluss des rechtskonservativen Flügels ihrer Politik immer mehr aus der Rolle des "gütigen Hegemons" entfernt und steuern auf die Weltherrschaft zu. Wenn die Europäische Union mit ihrer "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP) ihre Eigenständigkeit wahren will, ist sie für die Wegweisung auf den konzeptuellen Eigenbeitrag ihrer Mitglieder angewiesen. Nicht "Visionen" sind gefragt, die Helmut Schmidt zu Recht ironisiert hat, aber sehr wohl gesellschaftlich nützliche Ziele und effektive Mittel zu ihrer Verwirklichung.

Beides muss ganz neu definiert werden. Wie 1989/90 schlagartig sichtbar wurde, haben sich innerhalb der vergangenen fünfzig Jahre die beiden entscheidenden Parameter der Außenpolitik verändert: ihre Bedingungen und ihr Subjekt. Als der Begriff der Staatsräson    aufkam, war Europa ein Konglomerat kleiner Territorialstaaten, die monarchisch-feudal verfasst und mit der Subsistenzwirtschaft zufrieden waren. Noch zweihundert Jahre später, als das Idol aller zeitgenössischen Strategen, der Herr von Clausewitz, lebte, hatte sich nicht sehr viel geändert. Niemand würde sich heute mehr von Paracelsus untersuchen und behandeln lassen, niemand mehr mit der Postkutsche fahren. Aber die außenpolitischen Maximen dieser Zeiten stehen noch immer hoch im Kurs.

Dieser Anachronismus sollte endlich zur Kenntnis genommen werden. Dienstleistung, Informationsverarbeitung und Wissen kennzeichnen die post-industriellen Demokratien in Europa. Der Leibeigene von damals ist der Wohlstandsbürger von heute geworden. Diese radikale Verwandlung aller gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Daten in Europa vollzog sich, nachdem sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte, in dem Goldenen Zeitalter von 1950 bis 1973. Seine politischen Wirkungen zeigten sich erstmals, als 1989/90 die "sanfte Revolution" in Osteuropa die kommunistische Herrschaft absprengte und eine neue Welle der Demokratisierung durch die ganze Welt laufen ließ. Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist zwischen den Industriestaaten die alte Staatenwelt der Gesellschaftswelt gewichen. Sie ist zwar noch immer staatlich geordnet; aber in den Staaten spielen die Gesellschaften, nicht mehr die Regierungen, die entscheidende Rolle . Die Interdependenz hat die Staaten in der Gesellschaftswelt ganz dicht aneinandergerückt, hat sie allseits überschaubar gemacht. Die Demokratisierung hat, jedenfalls in West- und Mitteleuropa, die Herrschaft demokratisiert.

Damit zeigt sich der zweite Parameter, der sich gewandelt hat, das Subjekt der Außenpolitik. War sie früher eine Domäne der Monarchen und später der politischen Klasse gewesen, so hat in der OECD-Welt die Demokratisierung die Gesellschaft zum neuen Subjekt der Außenpolitik werden lassen. Ohne gesellschaftlichen Konsens können keine außenpolitischen Entscheidungen mehr getroffen werden. Die größte Sorge der NATO während des Serbien-Krieges galt nicht dem Widerstand der Serben, sondern dem der eigenen Gesellschaften.

Dieser zweite Parameter der Außenpolitik, der Wandel der Bezugsgruppe, ist der wichtigere. Während der Wohlstand des Monarchen und der der politischen Klasse durch Kriege gefördert wurde, weil er sich nur mit gewaltsamer Expansion vergrößern ließ, sind die wirtschaftlichen Entfaltungschancen der Gesellschaft abhängig vom Frieden. Er ist die Conditio sine qua non ihrer Existenz und ihres Wohlstands. Er ist daher zum obersten und unabdingbaren Ziel der Außenpolitik in der Gesellschaftswelt geworden.

Dennoch ist der Begriff des Friedens nur als rhetorisches Schlagwort geläufig; als Zielvorstellung ist er diffus, wenn nicht sogar leer geblieben . Dabei ist es gar nicht so schwer, dieses Ziel zu definieren. Friede herrscht in einem internationalen System dann, wenn die zwischenstaatlichen Konflikte auf Dauer ohne Anwendung militärischer Gewalt bearbeitet und gelöst werden. Diesen Zustand herbeizuführen, ist nicht einfach, aber möglich. Die Gewaltursachen in einem System müssen beseitigt, und dazu müssen sie erst einmal benannt werden .

II. Die Systemanarchie muss verringert werden

Hilfestellung dabei leistet die Politikwissenschaft. Sie ist sich einig darin, dass eine große Gewaltursache - für die Schule des Realismus sogar die größte - in der anarchischen Struktur des internationalen Systems zu finden ist. Weil alle Staaten selbst für ihre Sicherheit sorgen müssen und deswegen aufrüsten, kommt es zu Rüstungswettläufen, die meist in den Krieg führen . Die Liberale Schule hat eine zweite große Gewaltursache freigelegt: die autoritäre Struktur von Herrschaftssystemen . Mit der gewalttreibenden Wirkung beider Ursachen muss sich die deutsche Außenpolitik auseinander setzen. Richtig wäre, die Systemanarchie zu reduzieren und die Demokratisierung aller Herrschaftssysteme vorrangig zu fördern. Getan wird das Gegenteil. Auf die nur strukturbedingte Ungewissheit über die weitere Entwicklung Russlands reagiert der Westen ebenso klassisch wie veraltet mit der Stärkung und der Erweiterung der Militärallianz der NATO. Die Bombardierung Serbiens versuchte nicht weniger klassisch, einen Diktator mit Gewalt zur Abdankung zu zwingen. Ist dies total missglückt, können auch der Osterweiterung der NATO höchstens suboptimale Erfolge bescheinigt werden. Sie hat Russland entfremdet, seine Kooperationsneigung reduziert und seine Demokratisierung behindert.

Diese Art der Realpolitik ist, wie die Defizite ihrer Anwendung zeigen, operativ unbrauchbar. In der hochindustrialisierten, interdependenten Gesellschaftswelt bieten kooperative Strategien sehr viel bessere Möglichkeiten, die Systemanarchie zu reduzieren und die Herrschaftssysteme zu demokratisieren. Nicht umsonst sprechen zwei unserer früheren Bundespräsidenten bereits von der "Weltinnenpolitik". Greift dieser Begriff der globalen Realität weit voraus, so ist er, analog verstanden, in Europa sehr wohl verwendbar. Zwar gibt es auch hier noch nicht die europäische Innenpolitik, weil es noch keine Regionalregierung gibt. Aber die Zustände zwischen den Staaten in Europa kommen denen der Innenpolitik sehr nahe. Darin eröffnet sich für die deutsche Außenpolitik ein großer und bedeutender Fächer moderner, kooperativer Strategien . Darin kann viel Macht ausgeübt werden, wie sich am Einfluss der USA in Europa und dem Westeuropas in Osteuropa ablesen lässt. Deswegen sollte sie eingesetzt werden, um die Systemanarchie in Europa zu reduzieren und die Wiederkehr des höchst gefährlichen, die Rüstungsdynamik treibenden Sicherheitsdilemmas zu vermeiden.

1. Die Europäische Union vertiefen, Europa erweitern

Infolge seiner äußerst hohen Interdependenzdichte ist Westeuropa seit langem auf dem Weg der Integration, die die Souveränität der Einzelstaaten kontinuierlich aufheben und in einer neuen Art des Regionalstaats zusammenführen wird. Mit der Integration wird die Anarchie des Internationalen Systems aufgehoben und in die vertragliche Verlässlichkeit der Innenpolitik übergeführt. Diesen Prozess fortzusetzen, ist daher die wichtigste Aufgabe der deutschen Außenpolitik.

Gegenwärtig wird sie eher vernachlässigt. Die deutsch-französische Kooperation in dieser Sache lahmt. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat zwar in seiner Rede vor der Französischen Nationalversammlung die "Vorbildfunktion" der beiden Länder für die europäische Integration hervorgehoben . Seine Kooperation mit Präsident Jacques Chirac ist aber bei weitem nicht so aktiv in dieser Frage wie die seines Vorgängers Helmut Kohl mit François Mitterand. Vor allem muss der gordische Knoten zerschlagen werden, der mit der ebenso unglücklichen wie unnötigen Verknüpfung von Vertiefung und Erweiterung der Union vor Jahren geschaffen worden ist .

Die Europäische Kommission hat im Januar 2000 vorgeschlagen, endgültig das "Europa mit zwei Geschwindigkeiten" zu verwirklichen, einen Kern innerhalb der Gemeinschaft. "Die realistische Option ist die Integration derjenigen Länder, die den politischen Willen dazu haben und deren wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedingungen nahezu identisch sind. Gegenwärtig gehören alle diese Länder zur Euro-Zone." Es muss also nur vorangebracht werden, was sich schon herausgebildet hat: die Währungsunion, die es zwangsläufig zu einer wirklichen Politischen Union weiterzuentwickeln gilt. Sie wird dann Mitglied in der großen Europäischen Gemeinschaft, die zwar "Union" heißt, aber keine ist. Sie bleibt eine Zollunion mit einer Freihandelszone, die sich in absehbarer Zeit um 13 Mitglieder erweitern wird. Sobald es geht, kann sich die Freihandelszone zu einem gemeinsamen Markt weiterentwickeln, der den späteren Beitritt zur Union flexibilisiert und erleichtert.

Dieses Konzept würde aus dem gegenwärtigen "Potpourri mit hartem Kern" eine Organisation entstehen lassen, die sich im Tempo zunehmender Interdependenz flexibel entwickelt, aber die sicherheitspolitisch entscheidende Funktion, den Abbau der Systemanarchie, von Anfang an gewährleistet. Dieser Effekt trat im Europa der Sechs schon 1957 auf, als sie sich zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zusammenschlossen. Er wird auch von der neuen großen Europäischen Gemeinschaft erzeugt. Weil ihre Beitrittsvoraussetzungen soviel geringer sind, könnten alle dreizehn Kandidaten rasch zugelassen werden, was aus ordnungspolitischen Gründen äußerst wünschenswert wäre.

Diesem Fortschritt steht zunächst das Trägheitsmoment entgegen. Das vom Europäischen Rat in Köln im Juni 1999 erteilte Mandat für die Reformkonferenz von Nizza dient nur der Aufarbeitung dessen, was in Amsterdam übrig geblieben ist. Selbst diese Minireform stagniert. Von dem notwendigen neuen Konzept ist nur ganz vage die Rede .

Das zweite Handicap ist das landwirtschaftliche Subventionssystem der Europäischen Gemeinschaft, das sich nach wie vor am Produkt ausrichtet, nicht am Einkommen. Es ist verständlich, dass die osteuropäischen Landwirte an diese Krippe wollen, von der die westeuropäischen Bauernverbände nicht lassen wollen. Dieser Streit beherrscht die Erweiterungsverhandlungen .

Schließlich wird der Integrationsprozess beeinflusst von der Abneigung der USA wie Russlands. Washington sieht in diesem Prozess eine Beeinträchtigung seiner Vormachtstellung in Europa, Moskau den Verlust seines westlichen Vorfeldes. Diese Umwelteinstellungen des Erweiterungs- und Vertiefungsprozesses Europas müssen nicht stören; sie wollen aber registriert und neutralisiert werden.

Die wichtigste Determinante der deutschen Außenpolitik, nämlich die Europäische Gemeinschaft rasch nach Osten auszuweiten und ihr mit der Union der elf Euroländer einen Brennpunkt zu geben, ist also zugleich auch die schwierigste. Es ist nicht auszuschließen, dass, wenn sie verfehlt wird, beide Prozesse, der der Vertiefung wie der der Erweiterung, zerfallen und Europa in die Anarchie zurückkehrt. Die Androhung und die Anwendung militärischer Gewalt kämen dann wieder auf die Tagesordnung. Angesichts einer solchen, nicht auszuschließenden Entwicklung wäre es wichtig, dass die Bundesregierung der Reform und der Ausweitung mehr Aufmerksamkeit und Kraft widmete.

2. Organisation der Atlantischen Gemeinschaft

Gleich nach der Bestellung des Europäischen Hauses muss es der deutschen Außenpolitik um das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika gehen. Es ist sowohl bilateral wie multilateral geordnet; Deutschland tritt den USA sowohl unmittelbar wie im Kontext der Europäischen Union und der Westeuropäischen Union gegenüber. Die wechselseitige Interdependenz ist hoch. Im Sachbereich der Wirtschaft sind die Märkte schon teilintegriert. Die politischen Beziehungen sind verlässlich kooperativ.

Umso wichtiger ist es, dass diese Atlantische Gemeinschaft nur eine einzige institutionalisierte Verbindung aufweist, nämlich die Militärallianz der NATO. Sie schaltet zwar die Anarchie völlig aus. In einem Bündnis von dieser Qualität kommen sicherlich Probleme und Konflikte, kommt aber keinesfalls das Sicherheitsdilemma in Sicht. Die Militärallianz kann aber nicht die gemeinsame Steuerung so vieler Interdependenzfelder übernehmen; sie ist sogar, wie sich beim Serbien-Krieg und im Kosovo gezeigt hat, für die gemeinsame Bearbeitung der sicherheitspolitischen Entscheidungen zu eng.

Ihr organisatorischer Aufbau verlängert die amerikanische Hegemonie, die während des Kalten Krieges etabliert und akzeptiert worden war, in eine ganz andere Gegenwart. Ein größeres Mitspracherecht hatten die europäischen Verbündeten schon 1995 eingefordert. 1999, nach den demütigenden Erlebnissen im Kosovo-Konflikt, hat die Europäische Union beschlossen, ihre Gleichberechtigung über den Aufbau einer eigenen Militärorganisation durchzusetzen. Wenn auch nicht beabsichtigt, so hat das Bündnis doch einen Riss bekommen  . 

Die Atlantische Gemeinschaft brauchte ein politisches Steuerungsgremium, das solche Konflikte rechtzeitig erkennen, auffangen und auflösen könnte. Die Allianz wäre schon über dem Luftkrieg gegen Serbien beinahe zerfallen. Die Absicht rechts-konservativer Kreise in den USA, den langgehegten Plan eines Raketenabwehrsystems im Jahr 2000 endlich durchzudrücken, könnte zu einer neuen großen Belastungsprobe des Bündnisses mit unabsehbaren Folgen werden. Gerade weil die politische Gemeinschaft mit den Vereinigten Staaten für die Bundesrepublik (wie für alle EU-Staaten) von fundamentaler Bedeutung ist, muss sie Institutionen erhalten, in denen die großen politischen Entscheidungen zwischen den USA und Westeuropa beraten werden können.

Dazu ist es unumgänglich, dass die Union mit einer außenpolitischen Stimme spricht. Vielleicht ertönt sie aus dem neuerdings eingerichteten Ausschuss für Politik und Sicherheit (PSC), der die Krisenreaktionstruppe der EU leiten soll. Besser wäre es freilich, wenn die im EU-Vertrag längst installierte GASP zu einem wirklichen Beratungs- und Entscheidungsgremium weiterentwickelt würde. Die Auseinandersetzung zwischen den USA und der Europäischen Union um die Besetzung der Spitzenposition beim Internationalen Währungsfonds im Frühjahr 2000 gab einen Vorgeschmack auf kommende Konflikte. Erstmals hat sich darin die Europäische Union als Einheit gezeigt, mit einer Stimme in Washington gesprochen. Umso mehr dokumentiert dieser Konflikt die Wünschbarkeit eines politischen Gremiums in der Atlantischen Gemeinschaft. Sie ist zu wichtig, als dass ihre Zukunft dem Wechselspiel zwischen überholten Hegemonialansprüchen der USA und unberechenbaren Ad-hoc-Koalitionen auf europäischer Seite überlassen bleiben sollte.

3. Kooperation mit Russland

Die europäisch-russischen Beziehungen sind auf dem Sachgebiet der Sicherheit, wie die vierzig Jahre des Kalten Krieges eigentlich überzeugend bewiesen haben, hoch interdependent. Ohne die Kooperation Russlands ist die Sicherheit Europas und damit Deutschlands nicht herzustellen und zu wahren. Alle Bundesregierungen haben dementsprechend versucht, gute Beziehungen zu Russland zu unterhalten und zu pflegen.

Die Voraussetzungen dafür sind seit Mitte des Jahres 2000 schlechter als je zuvor seit 1990. Die Russland-Politik des Westens präsentiert sich als Paradefall für das Gegenteil einer klugen und informierten Politik. Sie hat nicht nur die Hoffnungen Russlands auf eine Sicherheitspartnerschaft mit dem Westen enttäuscht, sondern auch die Ungewissheit über dessen eigentliche Absichten in Moskau derartig erhöht, dass es wieder in Begriffen der Verteidigung denkt. Das im Januar 2000 vorgelegte "Konzept der nationalen Sicherheit" richtet sich auf eine Politik des Westens ein, die die "Lösung von Schlüsselproblemen vor allem mit militärischer Gewalt und unter Umgehung grundlegender Normen des Völkerrechts" betreiben wird .

Die Vorgänge, auf die sich diese Interpretation Moskaus stützt, sind rasch aufgezählt: die Osterweiterung der NATO, ihr Luftkrieg gegen Serbien und die amerikanisch-britischen Bombardierungen des Irak . Hinzu kommt die zweite, schweigende Erweiterung der Allianz durch die Besetzung des Kosovo, die faktische Präsenz in Mazedonien und Albanien. Sie schloss die Lücke auf dem Balkan, so dass die Allianz jetzt vom Atlantik über Griechenland und die Türkei bis an das Kaspische Meer heranreicht . Es ist klar, dass der Westen diese Aktionen nicht als Einkreisung Russlands, sondern als ordnungspolitische Maßnahme ansieht, die dem Frieden bzw. den Menschenrechten dient. Er hätte aber wissen müssen, dass infolge der Systemanarchie Russland gar nicht umhin konnte, in diesen Aktionen den Aufmarsch einer einstmals feindlichen, jetzt Russland immerhin ausschließenden Militärallianz zu sehen und als Bedrohung zu empfinden. Die vom Bündnis angebotene NATO-Russland-Grundakte vom 27. Mai 1997 erinnerte in Anlage und Inhalt zu sehr an die Zeiten des Kalten Krieges, um auch nur im Entferntesten das in Russland erzeugte Misstrauen zu zerstreuen.

Die Fehlentwicklung begann mit der gegen die bessere Einsicht des amerikanischen Präsidenten Clinton und seines damaligen Verteidigungsministers Les Aspin von einer kleinen Gruppe in Washington durchgesetzten NATO-Osterweiterung von 1994 . Richtiger wäre es stattdessen gewesen, die 1990 aus einer Konferenzfolge in eine Organisation umgewandelte KSZE, später OSZE genannt, zunächst auf- und dann auszubauen . Internationale Organisationen erfüllen im Sachbereich der Sicherheit nicht nur spezielle Funktionen, sondern veranlassen vor allem ihre Mitglieder zu kontinuierlicher Kooperation . Sie reduziert verlässlich die Systemanarchie, wirkt wie eine große vertrauensbildende Maßnahme.   Durch die Stärkung und Aktivierung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit wäre ein stabiler internationaler Kontext geschaffen worden, dessen Sinnstiftung die Perzeption aller nachfolgenden Einzelentscheidungen beeinflusst hätte. Innerhalb einer derart aktivierten OSZE hätte Russland die Osterweiterung der NATO so aufgefasst, wie der Westen sie gemeint hatte. Da aber die OSZE neutralisiert worden war, sieht Moskau nur, dass sich die NATO nach Osten vorschiebt. Welche politischen Interessen auch immer den von den USA geleiteten Westen nach 1990 dazu verleitet haben mögen, die OSZE in eine Nische zu verweisen - moderne politikwissenschaftliche Erkenntnisse können dabei nicht Pate gestanden haben.

Das Auswärtige Amt hat sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre um eine Aufwertung der OSZE bemüht und insbesondere die Erarbeitung einer "Europäischen Sicherheitscharta" gefördert. Ihre Verabschiedung auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul im November 1999 wurde in den Schatten gestellt vom zweiten russischen Krieg in Tschetschenien und dem amerikanisch-türkischen Abkommen über eine neue Ölleitung vom Kaspischen Meer. Ohnehin hatte die Charta nur einen "Minimalkonsens" formulieren, der OSZE keine neue substantielle Funktion zumessen können .

Natürlich kann die Bundesregierung allein die anhaltende Relevanzminderung der OSZE nicht aufhalten; sie hat daher ihre einstmals strategische in eine pragmatische Einstellung dieser Organisation gegenüber umgewandelt . Aber sie kann im Rahmen der GASP auf die überragende Rolle hinweisen, die die internationale Organisation bei der Bearbeitung der wichtigsten Gewaltursache, der Anarchie des internationalen Systems, spielen kann. Da die Europäische Union auf dem Wege ist, ihre eigene Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu entwickeln, könnte sie eine solche Modernisierung des strategischen Denkens fördern.

Die Russland-Strategie der EU-Kommission von 1995 setzte einen kooperativen Gegenakzent zur NATO-Osterweiterung. Im Juni 1999 in Köln ging die EU mit ihrer "Gemeinsamen Strategie für Russland" noch einen großen Schritt weiter. Sie beschloss eine "Strategische Partnerschaft mit Russland" . Sie soll sogar eigene Institutionen bekommen. Den Ausfall der OSZE als Anarchie mindernde internationale Organisation wird sie aber nicht oder erst dann kompensieren können, wenn GASP und ESVI der Europäer sich gänzlich von der Führung der USA emanzipiert haben werden. Dieser Weg ist noch sehr weit.

Zur Reaktivierung des Sicherheitsdilemmas trägt auch die Aufrüstung der NATO bei. Sie kann hier nicht behandelt, muss aber erwähnt werden. Die Vereinigten Staaten werden in den kommenden fünf Jahren ihr Rüstungsbudget um 112 Mrd. US-Dollar erhöhen; entschließen sie sich zu einem Raketenabwehrsystem, kommen noch einmal mindestens 60 Mrd. US-Dollar hinzu. Sie werben im Rahmen der 1999 verabschiedeten "Verteidigungsbereitschafts-Initiative" (Defense Capabilities Initiative) intensiv für die Aufrüstung der europäischen Alliierten.

Die Bundesregierung ist gut beraten, hier zwischen der notwendigen Modernisierung einerseits, der Umrüstung auf (weder im NATO-Vertrag noch im Grundgesetz vorgesehene) Militäreinsätze außerhalb der Bündnisgebiete andererseits und schließlich einer generellen Verstärkung des militärischen Gewaltpotentials zu unterscheiden. Sie sollte in der Europäischen Union dafür sorgen, dass die aktive Wahrnehmung der sogenannten Petersbergaufgaben nur im äußersten Notfall dem Einsatz des Militärs übertragen wird. Vorbeugung ist ein Akt von Politik und Wirtschaft. Das Kosovo-Problem erteilt hier eine deutliche Lehre. Die auch in der deutschen Außenpolitik vorherrschende Vernachlässigung nichtmilitärischer Sicherheitspolitik sollte endlich aufgegeben werden .

III. Zugunsten der Demokratisierung intervenieren

Diktaturen zu beseitigen und das demokratische Herrschaftssystem zu verbreiten, muss die zweite große Determinante bundesrepublikanischer Außenpolitik werden, will sie dem gesellschaftlichen Auftrag, den Frieden zu sichern, gerecht werden. Die Politikwissenschaft hat nachgewiesen, dass Demokratien noch niemals Krieg gegeneinander geführt haben, dass sie strukturell gewaltlos sind . Die von Regierungschefs der KSZE-Staaten in Paris 1990 verabschiedete Charta für ein neues Europa hat den Zusammenhang von Demokratie und Frieden in ihren strategischen Mittelpunkt gestellt. Das demokratische Herrschaftssystem auszubreiten, ist seitdem eine der unbestrittenen Hauptaufgaben der OSZE.

Der Westen hat die Demokratisierungsprozesse in den Staaten des früheren Warschauer Paktes seit 1990 gefördert. Während die Hilfe für Osteuropa alsbald von der Europäischen Union in Zusammenhang mit ihrer Heranführungsstrategie übernommen wurde, nahm das finanzielle Hilfsvolumen für Russland nach 1994 rapide ab . Eine Demokratisierungsstrategie gegenüber der Bundesrepublik Jugoslawien oder den Balkan-Staaten hat es praktisch nicht gegeben. In Afrika südlich der Sahara - um diesen Hinterhof der Europäischen Union wenigstens zu erwähnen - beließ es die Europäische Union bei Ermahnungen. Der AKP-Prozess kann in dieser Hinsicht - wie in vieler anderer Hinsicht auch - nur als Fehlanzeige registriert werden. Nordafrika ist erst - aber immerhin - seit dem im November 1995 gestarteten "Prozess von Barcelona" in Sicht gekommen .

1. Intervention ist geboten

Die Bundesrepublik - wie der Westen - weiß also seit langem um die friedensstrategische Bedeutung der Demokratisierung. Auf der deklaratorischen Ebene haben alle Bundesregierungen die Diktaturen kritisiert und die Einhaltung der Menschenrechte gefordert . Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping hat Recht, wenn er sagt, dass die Bundesrepublik nicht zusehen durfte, dass und wie die Menschenrechte im Kosovo verletzt wurden . Als Pars pro toto steht die Beachtung der politischen Menschenrechte für ein Minimalprogramm der Demokratisierung. Deren Verwirklichung zu betreiben, gehört also keineswegs in die Aporien "idealistischer Grundprinzipien" , sondern ist Bestandteil einer modernen Sicherheitspolitik.

Dazu muss ein normatives Relikt aus der Staatenwelt aus dem Wege geräumt werden: das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Es kann und hat keine einzige militärische Intervention verhindert, die schließlich die schlimmste Form der Einmischung schlechthin darstellt. Es wurde aber stets beschworen, um vorbeugende wirtschaftliche und politische Einmischungen zu vermeiden, an denen die Staatslenker nicht interessiert waren. Diese "Schiefe Schlachtordnung" wurde seit dem 19. Jahrhundert kritisiert . Sie ist aber heute noch immer beliebt, wie der Fall des Kosovo zeigt.

Diese merkwürdige Präferenzanordnung muss korrigiert, die politisch-wirtschaftliche Intervention zugunsten der Demokratisierung erlaubt und dafür jede militärisch-gewaltsame Einmischung verboten werden. Ausnahmen bilden ein nachweisbarer Genozid und/oder ein Beschluss des UN-Sicherheitsrates nach Kap. VII UN-Charta. Wer reale Sicherheit erzeugen will, muss ihre Gefährdung durch autoritäre Herrschaftssysteme gewaltfrei korrigieren dürfen .

Es zählt zu den innovativen Leistungen der rot-grünen Bundesregierung, im Juni 1999 maßgeblich dazu beigetragen zu haben, dass die Europäische Union den Stabilitätspakt für den südlichen Balkan verabschiedete . Hätte der Westen ihn 1986 aufgelegt, und darin das Kosovo, das Armenhaus Europas, besonders berücksichtigt, hätte sich der Konflikt zwischen Albanern und Serben umsteuern lassen. Hätte die russische Regierung - unterstützt vom Westen - 1996 die Beendigung des ersten Tschetschenienkrieges mit großzügiger Wirtschaftshilfe untermauert, hätte die Perspektive wirtschaftlicher Entwicklung den Islamischen Radikalen den Wind aus den Segeln nehmen können. Bei einer solchen Strategie ist nicht nur der finanzielle Aufwand sehr viel geringer; es ist - vor allem - der politische Erfolg wahrscheinlich. Die entscheidende Variable in der Gesellschaftswelt ist der politische Konsens der Betroffenen. Verändert man ihre Lebensumstände zugunsten der Möglichkeit wirtschaftlicher Entwicklung, kann dieser Konsens erzeugt, jedenfalls beeinflusst werden. Die Gewaltanwendung ist dazu völlig außerstande. Das zeigen die Tschetschenienkriege und die um Bosnien-Herzegovina und das Kosovo.

Die Reste der "Schiefen Schlachtordnung" zu überwinden, wird dennoch nicht leicht sein. Der Stabilitätspakt für den südlichen Balkan brauchte neun Monate, um mit einer ersten Geberkonferenz einen "quick start" zu nehmen. Es wird also für die deutsche Außenpolitik darauf ankommen, zunächst einmal die "Kultur der Vorbeugung " zu entwickeln, ein Paradigma moderner Außenpolitik, in der die rechtzeitige politische und wirtschaftliche Intervention höher gewichtet wird als der Einsatz militärischer Gewalt. Diese Einsicht in eine moderne Strategie umzuwandeln, hatte der UN-Sicherheitsrat schon 1992 in Auftrag gegeben. Der damalige Generalsekretär Boutros BoutrosGhali hat ihn prompt ausgeführt . Was fehlt, ist die großflächige Anwendung.

2. Intervention ist möglich

Die Entwicklung einer nichtmilitärischen Sicherheitspolitik mit rechtzeitiger politischer und wirtschaftlicher Intervention in die Herrschaftssysteme gewaltbereiter Staaten wird durch die in der Gesellschaftswelt herrschenden sozioökonomischen Bedingungen ermöglicht. Die Interaktionsdichte und die Interdependenz haben die Staaten dicht aneinandergerückt, haben sie unterlaufen und überwölbt. Dadurch werden direkte wie indirekte Strategien möglich, die es in der Staatenwelt nicht gegeben hat.

Die indirekte Strategie wirkt auf das Herrschaftssystem eines Staates über die Gestaltung von dessen Umwelt ein. Dissoziativ ist diese Strategie geläufig; Boykotte, Blockaden, Sanktionen wie die gegenüber Restjugoslawien gehören zur diplomatischen Routine. Dass sie ihr Ziel regelmäßig verfehlen, hat ihrer Beliebtheit lange keinen Abbruch getan. Erst jetzt setzt die Kritik ein. Sanktionen müssen gezielt angesetzt, nicht gegen die Bevölkerung, sondern gegen die politische Klasse und die Entscheidungsträger gerichtet werden.

Vor allem müssen die assoziativen Strategien verbessert werden. Die Zusammenarbeit aller europäischen Staaten in der OSZE stärkt die Demokratie doppelt: Das Klima der Zusammenarbeit nützt den Bürgerrechtsgruppen; der Diktator wird durch die organisationsinterne Kritik geschwächt. Umso mehr sollte sich die Bundesrepublik dafür einsetzen, dass Restjugoslawien so schnell wie möglich in die OSZE aufgenommen und damit ihren Konfliktbearbeitungsmechanismen ausgesetzt werden kann.

Schneller wirkt die direkte Einmischung. Die Europäische Union verlangt allen Beitrittskandidaten die Wahrung der Menschenrechte und die Einführung der Demokratie ab (Konditionalität). Der Stabilitätspakt für den südlichen Balkan ist mit den Anstrengungen der Teilnehmerländer in Richtung Demokratisierung und Marktwirtschaft verknüpft; der erste der drei Arbeitstische ist der Demokratisierung und den Menschenrechten gewidmet.

Die Bundesrepublik, die den Stabilitätspakt initiiert hat und auch in Gestalt von Bodo Hombach den Koordinator stellt, muss eine führende Rolle bei der Verwirklichung übernehmen. Der Pakt ist überorganisiert und unterfinanziert. Die vorgesehenen knapp fünf Mrd. D-Mark, von denen zunächst 3,5 Mrd. zur Verfügung gestellt werden, sind ein - wenn auch schon einigermaßen großer - Tropfen auf den heißen Stein. Seine wahre Größe wird sich erst ergeben, wenn man sie vergleicht mit dem noch nicht bezifferten Aufwand, den die Regierungen der Europäischen Union für das in Köln und Helsinki 1999 beschlossene Europäische Krisenreaktionskorps treiben werden. Es rechtfertigt sich aus dem richtigen europäischen Bestreben, die militärische Unterlegenheit gegenüber den USA zu beenden, um die Gleichberechtigung einfordern zu können. Klassisch und gewaltorientiert, wie das Krisenreaktionskorps ist, konkurriert es aber mit der modernen Strategie des Stabilitätspakts und seinen sehr viel größeren Erfolgsaussichten. Die Bundesregierung wird sich anstrengen müssen, in dieser Konkurrenz den Stabilitätspakt überzugewichten und ihm die finanzielle und personelle Ausstattung zu sichern, die er als modernes Instrument der Vorbeugung verdient. Sein Erfolg auf dem südlichen Balkan kann den nächsten Einsatz des Krisenreaktionskorps überflüssig machen.

Auch die Auslandshilfe muss dahingehend überprüft werden, ob sie den Bedingungen und Möglichkeiten der Gesellschaftswelt entspricht. Sie sollte prinzipiell nicht an Regierungen, sondern an subnationale Akteure gegeben werden, sollte Infrastrukturmaßnahmen bevorzugen, also gesellschaftlichen Interessen dienen, nicht denen der Politischen Systeme. Militärhilfe ist für die Behebung von Demokratiedefiziten geradezu kontraindiziert. Wenn man sie trotzdem geben zu müssen glaubt, sollte man sich der Negativwirkung wenigstens bewusst sein.

Eine bedeutende mittelbare Intervention zugunsten der Demokratisierung liegt in der Verbreitung marktwirtschaftlicher Ordnungen. Sie produzieren, wenn auch langsam, das demokratische Herrschaftssystem. Wirtschaftshilfe wird in vielen Fällen unumgänglich, die Ausbildung marktwirtschaftlicher Eliten absolut entscheidend sein. Die wichtigste mittelbare Intervention aber besteht in der Öffnung der eigenen Märkte für die Produkte der sich entwickelnden Länder. Der Protektionismus der Europäischen Union, insbesondere auf dem Agrarmarkt, verbietet sich, und die Bundesrepublik nimmt - leider - einen führenden Platz in diesem System ein. Vielleicht kann sie die erforderliche Marktöffnung leichter durchsetzen, wenn sie das Ziel richtig benennt, dem diese dient. Sie stärkt mit der Marktwirtschaft das demokratische Herrschaftssystem, ist daher Sicherheitspolitik bester und modernster Provenienz.

Für die Gesellschaftswelt geradezu konstitutiv sind die unzähligen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Interaktionen zwischen den Staaten. Sie verbinden die Gesellschaften, stellen eigene Handlungszusammenhänge dar und beeinflussen über die Konstellation gesellschaftlicher Interessen die Herrschaftssysteme in allen Ländern. Diese Interaktion kommt einer, wenngleich unbewussten, Interaktion gleich. Sie soll auch nicht instrumentalisiert, wohl aber nicht zuletzt wegen dieser Wirkung soweit wie möglich gefördert werden.

Die Demokratisierung ist das Ergebnis der Auseinandersetzung einer Gesellschaft mit ihrem Politischen System. Je mehr diese Gesellschaft dabei unterstützt und gestärkt wird, desto erfolgreicher kann sie ihre Mitbeteiligungsansprüche gegenüber den Politischen Systemen durchsetzen. Städtepartnerschaften bilden einen hervorragenden Beitrag zur Demokratisierung, indem sie deren Praktiken vermitteln. Mit Recht werden sie vom Stabilitätspakt gefördert. Im ersten Jahr haben 44 westeuropäische Städte, darunter 15 deutsche, Partnerschaften mit serbischen Städten aufgenommen . 22 Mio. DM haben die Bundesregierung und Italien dazu beigetragen - eine hervorragende Investition in eine hochmoderne Strategie.

IV. Bilanz

Die soeben besprochenen außenpolitischen Strategien beanspruchen, insofern Bestimmungsfaktoren der deutschen Außenpolitik zu sein, als sie gesicherten politikwissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung tragen. Wenn die Gewalt von der im internationalen System herrschenden Anarchie und dem diktatorialen Herrschaftssystem ausgeht, dann muss eine moderne Außenpolitik sich darauf richten, diese Strukturen zu ändern. Alles andere ist zweitrangig. Wem es gelingt, eine Struktur zu verändern, der bestimmt damit gleichzeitig die Qualität aller nachfolgenden Entscheidungen. Ein solcher Strukturwandel war der Sturz der kommunistischen Diktaturen im Warschauer Pakt von 1989/90. Mit einem Schlag wurden aus Feinden Freunde, die gegenüber dem Westen eine partnerschaftliche Politik betreiben.

Deswegen muss eine moderne Außenpolitik Macht vor allem zur Änderung der beiden die Gewalt produzierenden Strukturen einsetzen. In Westeuropa ist das nach 1945 gelungen. Auch hier wurden aus jahrhundertealten "Erbfeinden" Nachbarn und Freunde. Indem die Europäische Union den Strukturwandel in Ost- und Mitteleuropa dadurch fördert, dass sie die Staaten dieses Raumes zur Mitgliedschaft einlädt, verfolgt sie eine richtige Strategie. Gegenüber Russland und den anderen Mitgliedern der GUS sollte diese Strategie ebenfalls angewendet werden. Nicht Gewaltmittel sind hier gefragt, sondern "Soft Power ". Der Name täuscht ein wenig. Die "Sanfte Macht" enthält eine knallharte Strategie. Sie verändert die Herrschaftsstrukturen der Nachbarn, um daraus deren neue, verlässlich gewaltfreie Außenpolitik entstehen zu lassen.

Damit sind die Determinanten der deutschen Außenpolitik klar: Die Demokratisierung muss betrieben und die internationale Organisation reaktiviert und gestärkt werden. Die Außenpolitik auf diese Orientierungspunkte auszurichten, wird nicht leicht sein. Die Tradition der alten Realpolitik ist groß und hat sich in den vierzig Jahren des Ost-West-Konflikts im politischen Bewusstsein festgesetzt. Damit die neuen Determinanten der Außenpolitik greifen können, muss sich dieses politische Bewusstsein wandeln, modernisieren.

Die Bundesrepublik ist Mitglied der Europäischen Union und der NATO. Sie soll - und kann - nicht allein handeln. Aber sie kann in beiden Gremien die neuen Konzepte einbringen und für deren Anwendung werben. Dabei ist sie nicht allein. Sie hat Verbündete in allen Staaten der Union, in erster Linie in den kleineren, aber auch in vielen großen Staaten. Vor allem: Wirtschaft und Gesellschaft sind die geborene Lobby für eine solche Modernisierung der Außenpolitik. Beide sind darauf angewiesen, dass die Gewalt abnimmt, schließlich aufhört. Diese Lobby muss nur aktiviert werden. Das Medium dafür ist die Diskussion.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Gunther Hellmann, Nationale Normalität als Zukunft? Zur Außenpolitik der Berliner Republik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1999) 7, S. 837 ff.

  2. Gabriel Kolko, Das Jahrhundert der Kriege, Frankfurt/Main 1999.

  3. Hanns W. Maull, Zivilmacht Bundesrepublik? Das neue Deutschland in der internationalen Politik. Ein "Blätter"-Gespräch, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1993) 8, S. 934-948.

  4. Helga Haftendorn, Der gütige Hegemon und die unsichere Mittelmacht: deutsch-amerikanische Beziehungen im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/99, S. 3-11.

  5. Vgl. Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, München 1976.

  6. Vgl. Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaats: Globalisierung und Denationalisierung als Chance, Frankfurt a.M. 1998.

  7. Vgl. Ernst-Otto Czempiel, Die Politik vor dem Frieden: ratlos, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 26. Oktober 1996.

  8. Ausführlich dazu Ernst-Otto Czempiel, Kluge Macht. Außenpolitik für das 21. Jahrhundert, München 1999.

  9. Vgl. Kenneth N. Waltz, Theory of International Politics, Reading, Mass. 1979.

  10. Vgl. Andrew Morawcsik, Taking Preferences Seriously: A Liberal Theory of International Politics, in: International Organization, 51 (Autumn 1997) 4, S. 513 ff.

  11. Vgl. Harald Müller, Die Chance der Kooperation, Darmstadt 1993, S. 1-26; speziell zu kooperativen Strategien in Europa vgl. Helga Haftendorn/Otto Keck, Kooperation jenseits von Hegemonie und Bedrohung, Baden-Baden 1997.

  12. Vgl. FAZ vom 11. Dezember 1999, S. 9.

  13. Vgl. Hans Arnold, Europa neu denken: Warum und wie weiter?, Bonn 1999.

  14. Valery Giscard d'Estaing/Helmut Schmidt, Time to slow down and consolidate around ,Euro-Europe', in: International Herald Tribune vom 11. April 2000.

  15. Norbert Prill/Michael Mertens, in: FAZ vom 8. Dezember 1999, S. 11.

  16. Vgl. Stefan Lehne, Institutionenreform 2000, in: Integration, 22 (1999) 4, S. 226.

  17. Vgl. FAZ vom 26. Januar 2000, S. 17.

  18. Vgl. dazu Ernst-Otto Czempiel, Am Scheideweg. Zur Situation der Atlantischen Gemeinschaft, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2000) 5, S. 569-579; ebenfalls dazu Matthias Dembinski, Die Zukunft des politischen Westens. Zum Spannungsverhältnis zwischen europäischen und transatlantischen Strukturen in der Sicherheitspolitik, HSFK-Report, (1999) 7, Frankfurt a. M. 1999.

  19. Vgl. Hannes Adomeit, Widersprüchlich und wenig erfolgversprechend, in: FAZ vom 15. Februar 2000, S. 11.

  20. Vgl. Oksana Antonenko, Russia, NATO and European Security after Kosovo, in: Survival, 41 (1999-2000) 4, S. 124 ff.

  21. Vgl. Roland Dannreuther, Escaping the enlargement trap in NATO-Russian relations, in: Survival, 41 (1999-2000) 4, S. 145 ff. Zu den Rivalitäten in den Regionen des Schwarzen und des Kaspischen Meeres vgl. Yannis Valinakis, The Black Sea region: challenges and opportunities for Europe, Chaillot Paper 36, Paris, Juli 1999.

  22. Vgl. Roberto Menotti, US Policy and NATO enlargement: Clinton's ,unspoken agenda', 1993-1996, in: International Politics, 36 (Juni 1999), S. 235-271.

  23. Vgl. Ernst-Otto Czempiel, NATO erweitern oder OSZE stärken?, HSFK-Standpunkte, Nr. 4, Juli 1995, passim.

  24. Vgl. Helga Haftendorn, Sicherheitsinstitutionen in den internationalen Beziehungen. Eine Einführung, in: dies./Otto Keck (Hrsg.), Jenseits von Hegemonie und Bedrohung. Sicherheitsinstitutionen in den Internationalen Beziehungen, Baden-Baden 1997, S. 23; vgl. auch Otto Keck, Der Beitrag rationaler Theorieansätze zur Analyse von Sicherheitsinstitutionen, in: ebd., S. 35 ff.

  25. Vgl. Ingo Peters, Von der KSZE zur OSZE: Überleben in der Nische kooperativer Sicherheit, in: ebd., S. 57 ff.

  26. Vgl. Wolfgang Heydrich/Bernard von Plate, Der OSZE-Gipfel von Istanbul, in: SWP-aktuell, Nr. 48, Dezember 1999, S. 7.

  27. Vgl. Harald Müller, Sicherheit für das vereinte Deutschland, in: Monika Medick-Krakau (Hrsg.), Außenpolitischer Wandel in theoretischer und vergleichender Perspektive: Die USA und die Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1999, S. 145 ff., S. 158. Der Aufsatz behandelt auch ausführlich die Rivalitätsbeziehungen zwischen NATO, Europäischer Union und OSZE.

  28. Abgedruckt in: EU-Bulletin, 11 (1995) 1, S. 150 ff.

  29. Internationale Politik, 54 (1999) 11, S. 68.

  30. Sie sind definiert in der Petersberger Erklärung des Ministerrats der Westeuropäischen Union (WEU) über seine Tagung am 19. Juni 1992 in Bonn, in: Europa-Archiv, 14 (1992), S. D 482.

  31. Vgl. H. Müller (Anm. 27), S. 162 ff.

  32. Vgl. die ausführliche Diskussion in Michael E. Brown u. a. (Hrsg.), Debating the democratic peace, Cambridge, Mass. 1996.

  33. Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 137 vom 24. 11. 1990, S. 1409 ff.

  34. Vgl. OECD and CCET Economic Surveys 1997-1998, Russian Federation, OECD, Paris 1997.

  35. Vgl. die Beiträge in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 17/99.

  36. Vgl. Andreas M. Rauch, Die auswärtige Menschenrechtspolitik des wiedervereinigten Deutschland, in: Außenpolitik, 49 (1998) 1, S. 64-73.

  37. Rudolf Scharping, Wir dürfen nicht wegsehen: Der Kosovo-Krieg und Europa, Berlin 1999.

  38. Werner Link, Demokratischer Verfassungsstaat und internationales System, in: Die politische Meinung, (2000) 364, S. 69.

  39. Vgl. Ernst-Otto Czempiel, Einmischung als Strategie. Über Interdependenz und Intervention, in: MERKUR, 54 (2000) 1, S. 11 ff.

  40. Vgl. dazu ders. (Anm. 8), S. 136 ff.

  41. Der Text ist zugänglich unter htpp://www.auswaertiges-amt.de.

  42. E.-O. Czempiel (Anm. 8), S. 168 ff.

  43. Vgl. Boutros Boutros-Ghali, An Agenda for Peace. Preventive diplomacy, peacemaking and peace-keeping, Report of the UN Secretary-General vom 31. Januar 1992, in: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Dokumentationen, Informationen, Meinungen, Nr. 43, Juli 1992.

  44. FAZ vom 25. März 2000, S. 2.

  45. Josef S. Nye, Jr., Soft Power, in: Foreign Policy, 80 (Herbst 1990), S. 153 ff.

Dr. phil., geb. 1927; seit 1970 Mitglied der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt a. M..

Anschrift: HSFK, Leimenrode 29, 60322 Frankfurt.

Veröffentlichungen u. a.: Die Reform der Vereinten Nationen. Mythen und Missverständnisse, München 1994; Kluge Macht. Außenpolitik für das 21. Jahrhundert, München 1999.